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EU-Kommission nimmt Kernenergie in Finanztaxonomie auf
EU-Kommission nimmt Kernenergie in Finanztaxonomie auf
Veröffentlicht am 2022-01-02
Von Rainer Klute
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Kurz vor dem Jahreswechsel hat die EU-Kommission schnell noch ihren lange erwarteten Entwurf einer Taxonomie-Verordnung veröffentlicht. Kernenergie ist danach »grün«, Erdgas übergangsweise auch. Hier ein Überblick und eine erste Bewertung.

Der Entwurf zur Taxonomieverordnung ging zunächst an diverse Pressevertreter und fand bald darauf seinen Weg zu verschiedenen Websites. Er kann zum Beispiel hier heruntergeladen werden.

Wie erwartet, bewertet die Kommission Kernenergie und Erdgas als »grün«. Damit können Anleger, die ihr Geld nachhaltig anlegen wollen, demnächst auch in den Bau von Erdgas- oder Kernkraftwerken investieren. In beiden Fällen müssen Projekte zum Neubau von Kraftwerken oder zur Modernisierung bestehender Anlagen bestimmte Auflagen erfüllen.

Was ist die EU-Taxonomie?

Die Taxonomie für nachhaltige Finanzierungen will laut Pressemitteilung der EU-Kommission Orientierung zu der Frage geben, welche Aktivitäten dazu beitragen, in den nächsten 30 Jahren klimaneutral zu werden. Dazu listet die Taxonomie verschiedene Arten der Energieerzeugung auf, die den EU-Mitgliedstaaten dabei helfen, sich in Richtung Klimaneutralität zu bewegen.

Das ist besonders für institutionelle Anleger interessant, die sich zu nachhaltigen Investments verpflichtet haben. Nachhaltige Projekte profitieren, weil ihnen mehr Anlagekapital zur Verfügung steht und sie so bessere Finanzierungskonditionen bekommen können als nicht nachhaltige Projekte.

Ob Kernenergie und Erdgas dabei helfen, den Weg zur Klimaneutralität zu gehen, war und ist umstritten und wird von den EU-Mitgliedstaaten und einzelnen Akteuren unterschiedlich bewertet. Die Diskussion dazu ist ja bekannt.

Kernkraft trägt zum Klimaschutz bei

Was den Klimaschutz betrifft, so ist eine Sache eindeutig: Kernenergie ist CO₂-arm und damit klimafreundlich. Dies war bei den Beratungen zur Taxonomie von Anfang an unstrittig und wird von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen, von unseriösen Zahlentricksereien einmal abgesehen. An den sehr guten CO₂-Werten der Kernenergie beißt die Maus keinen Faden ab, mögen Robert Habeck und die Deutsche Umwelthilfe noch so toben.

Kernenergie stellt CO₂-arm, rund um die Uhr und wetterunabhängig große Mengen Energie bereit – ein gewaltiger Vorteil. Ob aber dieser Vorteil womöglich durch Nachteile an anderer Stelle wieder aufgehoben würde, das wussten die Finanzexperten nicht zu sagen, die die ursprüngliche Fassung der Taxonomie entworfen hatten. Die EU-Kommission beauftragte daher ihren wissenschaftlichen Dienst, das Joint Research Centre (JRC), mit einer umfassenden Untersuchung dieser Frage.

Die Analyse des JRC fiel eindeutig aus: Die Kernenergie schadet Mensch und Umwelt nicht stärker als andere Stromerzeugungstechnologien, die bereits in der Taxonomie enthalten sind, also insbesondere nicht stärker als Wind und Solar. Diese Analyse wurde durch die Begutachtung zweier Fachgremien gestützt.

Die Kernenergie erfüllt also diese beiden Aufnahmekriterien für die Taxonomie:

  • Kernenergie trägt zum Klimaschutz bei.
  • Kernenergie ruft keine wesentliche Schädigungen hervor.

Auch die Kernenergie bekommt einen CO₂-Grenzwert

Damit dies tatsächlich so ist, müssen konkrete Anforderungen erfüllt sein. Es mag überraschen, dass es auch für die Kernenergie einen CO₂-Grenzwert gibt, nämlich 100 Gramm CO₂-Äquivalent pro Kilowattstunde (gCO₂eq/kWh). Dieser Grenzwert gilt aber nicht nur für den (CO₂-freien) Betrieb des Kernkraftwerks, sondern für den gesamten Lebenszyklus, also vom Bau des Kraftwerks über Brennstoffgewinnung und -aufbereitung bis hin zur Entsorgung. Damit unterhalb von 100 gCO₂eq/kWh zu bleiben, schafft die Kernenergie locker und zwar nicht erst seit gestern. Der Weltklimarat (IPCC) gibt einen Median von 12 gCO₂eq/kWh an. Damit liegt die Kernenergie in der Größenordnung von Windkraft und ist viermal besser als Photovoltaik. Die UNECE kommt in einem kürzlich erschienenen Bericht sogar auf noch günstigere Werte. Grund dafür sind wohl insbesondere technische Fortschritte bei der Effizienz der Urananreicherung in den letzten Jahrzehnten, die in dem neueren Bericht stärker berücksichtigt wurden.

Aber die Kernenergie soll ja nicht nur klimafreundlich sein, sondern darf auch keinen »significant harm« anrichten, also keinen wesentlichen Schaden. Dazu müssen kerntechnische Anlagen auf dem Stand der Technik sein, die üblichen Sicherheitsanforderungen erfüllen und so weiter. Das ist keine Überraschung. Die Taxonomieverordnung geht aber im Sinne der Nachhaltigkeit noch darüber hinaus und gibt weitere Kriterien vor.

Taxonomiekriterien für die Kernenergie

  • Die sichere Entsorgung der radioaktiven Abfälle muss gewährleistet sein. Mitgliedstaaten, die die Kernenergie einsetzen, müssen detaillierte Pläne für ein Endlager vorlegen, das bis 2050 den Betrieb aufgenommen hat. Die Kommission sieht beim Thema Endlagerung Fortschritte und hält es für realistisch, dass solche Anlagen bis 2050 entwickelt und in Betrieb genommen werden.
  • Neue Kernkraftwerke und modernisierte, laufzeitverlängerte Altanlagen müssen unfallfeste Brennelemente (accident-tolerant fuel) verwenden. Viele Atomkraftgegner haben noch gar nicht mitbekommen, dass es so etwas überhaupt gibt. Diese Brennelemente halten wesentlich höhere Temperaturen als herkömmlicher Kernbrennstoff aus. Erste Exemplare sind derzeit in einigen Kernkraftwerken im Testbetrieb.
  • Nachhaltige Kernenergie im Sinne der Taxonomie muss für eine maximale Wiederverwertung des Brennstoffs sorgen oder den Atommüll recyceln. Mit dieser Forderung zeigt sich die EU-Kommission umwelt- und zukunftsorientiert – anders als Deutschland, das Wiederverwertung und Atommüll-Recycling im Atomgesetz ausdrücklich verbietet.
  • Was nachhaltig ist und was nicht, kann man nicht ein für allemal in Stein meißeln. Die Taxonomieregeln fordern daher eine regelmäßige Überprüfung der Taxonomieregeln. Denn während so mancher Atomkraftgegner keinen Fortschritt in der Nukleartechnik sieht oder sehen will, diagnostiziert die EU-Kommission eine »rasche technologische Entwicklung«. Es sei daher notwendig, die technischen Prüfkriterien selbst regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen. Neue Kernkraftwerke, die den heute gültigen Kriterien entsprechen, müssen daher bis 2045 genehmigt sein, Laufzeitverlängerungen bis 2040. Für Kernkraftwerke, die danach genehmigt werden, gelten womöglich andere Anforderungen als heute,

Übrigens: Kernenergie kann nicht nur Strom. Die Taxonomieverordnung erstreckt sich daher auch auf andere Einsatzgebiete der Kernenergie: Fernwärme zum Heizen etwa oder Prozesswärme für industrielle Anwendungen. Eine besonders interessante industrielle Anwendung: die Erzeugung von Wasserstoff.

Erdgas ist übergangsweise in der Taxonomie

Dass Erdgas hohe CO₂-Emissionen verursacht und dem Klima schadet, ist unstrittig und natürlich auch der EU-Kommission bekannt. Die Aufnahme von Erdgas in die Taxonomie ist vor allem dem massiven Druck Deutschlands zu »verdanken«. Denn ohne die Kernenergie ist Deutschland zwingend auf Erdgas angewiesen, um mittelfristig aus der Kohleverstromung herauszukommen.

Kohle durch Erdgas zu ersetzen, halbiere die CO₂-Emissionen, argumentieren Erdgasbefürworter (und übersehen dabei geflissentlich die klimaschädlichen Methan-Emissionen aus Leckagen). Erdgas vermeide außerdem den Ausstoß gesundheitsschädlicher Luftschadstoffe, wie sie beim Verbrennen von Kohle anfallen. Langfristig wolle man ja hin zu einer nachhaltigen Stromerzeugung, aber zunächst gehe es leider, leider nicht ohne Erdgas. Erdgas sei zwar nicht nachhaltig, helfe aber während einer Übergangszeit dabei, den Weg zu einer nachhaltigen Energiewirtschaft zu bewältigen, so die Argumentation.

Hinsichtlich der Aufnahmekriterien für Erdgas in die Taxonomie sieht es also wie folgt aus:

  • Erdgas schadet dem Klima.
  • Erdgas ruft, von den Treibhausgas-Emissionen abgesehen, keine wesentliche Schädigungen hervor.

Klar, dass Erdgas unter diesen Umständen kein vollwertiges Mitglied der Taxonomie sein kann. Klar, dass Erdgas nicht für immer in der Taxonomie verbleiben kann, sondern nur während einer Übergangszeit. Daher sieht die EU-Kommission strenge Auflagen für Erdgaskraftwerke vor.

Laut Taxonomieverordnung sind dauerhaft »grün« nur solche Anlagen, die weniger als 100 gCO₂eq/kWh ausstoßen. Laut Weltklimarat (IPCC) liegt der Median der Treibhausgas-Emissionen aus Gaskraftwerken aber bei 490 gCO₂eq/kWh. Ein durchschnittliches Erdgaskraftwerk müsste also rund 80 Prozent seiner CO₂-Emissionen einsparen. Das ist nicht ohne erheblichen Aufwand zu schaffen. Um unter 100 gCO₂eq/kWh zu kommen, müsste man den Großteil des CO₂ auffangen, anderweitig einsetzen oder unterirdisch speichern.

Bedingungen für den übergangsweisen Einsatz von Erdgas

Erdgaskraftwerke mit einem Ausstoß zwischen 100 und 270 gCO₂eq/kWh gelten nur übergangsweise als taxonomiekonform. Neue Anlagen, die in diese Kategorie fallen, müssen bis zum 31. Dezember 2030 genehmigt sein.

  • Kann ein Gaskraftwerk auch den Grenzwert von 270 gCO₂eq/kWh nicht einhalten, muss es seinen Betrieb einschränken und darf nicht die ganze Zeit laufen. Auf diese Weise stößt es aufs ganze Jahr gesehen weniger CO₂ aus. Der Grenzwert liegt bei 550 kgCO₂eq/kW. Das heißt, pro Kilowatt installierter Leistung sind 550 Kilogramm CO₂ im Jahr zulässig. Beispielsweise darf ein Gaskraftwerk mit einer Leistung von 1.000 Megawatt höchstens 550.000 Tonnen CO₂ pro Jahr freisetzen. Wenn die Anlage für jede erzeugte Kilowattstunde 490 Gramm CO₂ emittiert, ist dieser Wert nach 47 Tagen Betrieb mit voller Leistung erreicht.
  • Ein neues Gaskraftwerk muss mit Wasserstoff oder mit »erneuerbarem« Gas befeuert werden können. Ab 2026 muss dies zu mindestens 30 Prozent auch tatsächlich geschehen. Ab 2030 müssen es 55 Prozent sein, und ab 2035 muss das Kraftwerk vollständig erneuerbar betrieben werden.
  • Man kann im Rahmen der Taxonomie nicht beliebig neue Gaskraftwerke bauen. Denn ein neues Gaskraftwerk muss stets ein bereits bestehendes fossiles Kraftwerk ersetzen, typischerweise ein Kohlekraftwerk. Kernkraftwerke durch Gaskraftwerke zu ersetzen, ist also ein No-Go. Belgien hat zwar genau dies vor, aber das ist natürlich alles andere als »grün«. Es ist nicht einmal im Sinne der Taxonomieverordnung nachhaltig. Wer nun auf die Idee kommt, kleine Kohlekraftwerke durch große Gaskraftwerke zu ersetzen und auf diese Weise nennenswerte zusätzliche Kapazitäten aufzubauen, findet dafür in der Taxonomie kein Schlupfloch. Denn das neue Gaskraftwerk darf höchstens 15 Prozent mehr leisten als das alte Kohlekraftwerk.

Nächste Schritte

Wie und wann wird aus dem Entwurf zur Taxonomieverordnung die rechtsverbindliche Verordnung? Wie sehen die nächsten Schritte des sogenannten delegierten Rechtsaktes aus? Zunächst können Experten der Mitgliedstaaten bis zum 12. Januar 2022 Stellungnahmen abgeben. Die Kommission wird dann die Rechtsverordnung noch im Januar 2022 förmlich annehmen und sie dem Europäischen Rat und dem Europaparlament zur Prüfung übermitteln.

Diese Institutionen können innerhalb von maximal sechs Monaten Einwände erheben. Der Europäische Rat braucht dazu eine qualifizierte Mehrheit von 72 Prozent der Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung vertreten. Das EU-Parlament braucht eine einfache Mehrheit der Abgeordneten. Beide Mehrheiten sind nicht zu erwarten, so dass die Verordnung spätestens im Juli oder August in Kraft treten dürfte.

Bewertung

Mir persönlich gefällt der Entwurf zur Taxonomieverordnung gut. Für ein »Sehr gut« reicht es allerdings nicht: Dazu hätte Erdgas außen vor bleiben müssen.

Anders als Atomkraftgegner mit und ohne Regierungsverantwortung ist die EU-Kommission offenbar gut über die Kernenergie informiert und folgt den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie hat die Bedeutung der Kernenergie im Kampf gegen den Klimawandel erkannt. Die Kommission weiß auch: Unter den entsprechenden technischen Voraussetzungen ist die Kernenergie gut beherrschbar und verursacht keine wesentlichen Schäden an Mensch und Umwelt.

Auch eine nachhaltige, sichere Entsorgung der radioaktiven Abfälle ist möglich. Die EU-Kommission ist auch hier auf der Höhe von Wissenschaft und Technik und schreibt entsprechende Anforderungen in die Verordnung hinein. Sogar das Recycling des Atommülls mit Hilfe von Kernreaktoren der Generation IV hat sie auf dem Schirm und weiß, was da künftig geht.

Die Taxonomieverordung und ihre Würdigung der Kernkraft als klimafreundliche und nachhaltige Energieform wird für einen massiven Zufluss an privaten Investitionsmitteln in die Kernenergie sorgen und den Bau neuer Kernkraftwerke kostengünstiger und wirtschaftlicher machen. Die Taxonomie gibt der Kernenergie in Europa eine Zukunft.

Deutschland hat’s schwer

Dass es auch das fossile Erdgas als Übergangstechnologie in die Taxonomie geschafft hat, darf und muss man aus Klimaschutzgründen zu Recht bedauern. Aber es war wohl der einzige realistische Kompromiss, dem sich auch Deutschland zähneknirschend fügen konnte.

Doch auch mit dem Erdgas in der Taxonomie hat Deutschland keinen Freibrief, nach Belieben Gaskraftwerke zu bauen. Es wird schwer werden, die Anforderungen zu erfüllen. Denn um nachhaltig im Sinne der Taxonomie zu bleiben, muss Deutschland für jedes neue mit Erdgas befeuerte Gaskraftwerk ein Kohlekraftwerk fast gleicher Leistung vom Netz nehmen. Der Bau »nachhaltiger« Gaskraftwerke ist begrenzt.

Den darüber hinausgehenden Strombedarf müssen dann ausschließlich erneuerbare Energien decken – oder (Atom-)Strom aus den Nachbarländern. Ob das angesichts immer stärkerer Elektrifizierung reichen wird? Klar, Deutschland kann auch zusätzliche Gaskraftwerke bauen. Allerdings fallen die dann nicht mehr in die Kategorie »Nachhaltig«. Dafür Investitionskapital zu finden, ist nicht unmöglich, aber teurer.

Eines ist jedenfalls klar: Ohne neue Kernkraftwerke bleibt Deutschland das klimapolitische Schmuddelkind Europas.

Quellen


Rainer Klute

Rainer Klute ist Diplom-Informatiker, Nebenfach-Physiker und Vorsitzender des Nuklearia e. V. Seine Berufung zur Kernenergie erfuhr er im Jahr 2011, als durch Erdbeben und Tsunami in Japan und das nachfolgende Reaktorunglück im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi auch einer seiner Söhne betroffen war.

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Kernenergie
Klimaschutz
Nachhaltigkeit
Politik
Arne says:

Danke, Rainer, für die informativen Erläuterungen. Erstaunlich was sich da bewegt. Unsere neue Regierung spürt ihren Argumentationsrückstand. Bei all den zu erwartenden Problemen: Der Ausstieg aus der Atomenergie war die Idee einer CDU geführten Regierung!

Rainer Klute says:

Hallo Arne, der Atomausstieg war die Idee der Grünen, die dies 2002 zusammen mit der SPD im Bundestag beschlossen haben. CDU und FDP ist vorzuwerfen, dies nicht rückgängig gemacht zu haben. Ich spreche in diesem Zusammenhang gern von den »Grünen in allen Parteien«.

SVEN GLAUBE says:

Dass ist Super Gut, dass Atomenergie/Kernenergie von der EU-Kommission als Grüne Öko-Energie anerkannt geworden sind, Dass ist sehr Erfreundlich für mich !!!!