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Mein Fukushima: Inside IAEA
Mein Fukushima: Inside IAEA
Veröffentlicht am 2021-03-14
Von Nuklearia
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Von Dr. Matthias Heitsch

Zur Zeit des Fukushima-Unglücks arbeitete Dr. Matthias Heitsch bei der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien. Nach dem Unglück beschloss die IAEA einen »IAEA Action Plan on Nuclear Safety«. Matthias Heitsch gehörte dem zehnköpfigen Team an, das die Umsetzung dieses Plans koordinierte. Hier sein Beitrag in unserer Artikelserie »Mein Fukushima«.

Vom Frühjahr 2010 bis zum Sommer 2014 war ich bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) in Wien beschäftigt. Die IAEA ist Teil der Organisationen der UNO und am Standort Wien die größte der UNO-Dienststellen.

Der folgende Beitrag will keine Chronologie oder Analyse des Reaktorunfalls von Fukushima-Daiichi liefern. Dazu gibt es ja bereits Berichte von praktisch jeder wissenschaftlich-technischen Institution der IAEA-Mitgliedsländer. Im deutschsprachigen Raum sind vor allem die Publikation der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) [1] in Deutschland und die vier Berichte der Schweizerischen Aufsichtsbehörde ENSI, zum Beispiel [2] und [3], zu nennen. Einige Berichte wurden mit dem wachsenden Wissensstand über den Unfall und seine Folgen mehrfach ergänzt und 2016 abgeschlossen.

Als am Freitag, dem 11. März 2011, gegen Mittag erste Informationen über ein schweres Erdbeben vor der Nordostküste Japans durch unsere japanischen Kollegen gegeben wurden, ahnte niemand, welche Dimensionen und Folgen die Naturkatastrophe und der nachfolgende Reaktorunfall wirklich hatte. Alle waren betroffen, wollten mehr wissen und, wenn möglich, irgendwie helfen.

Schaltzentrale für Informationen zum Reaktorunglück: das Incident and Emergency Centre

Kurze Zeit später wurde das Incident and Emergency Centre (IEC) [1] der IAEA aktiviert – als zentrale Stelle des Empfangs aller Informationen aus Japan, ihrer Aufbereitung und der Weitergabe an die IAEA-Mitgliedsstaaten. Tägliche Aktualisierungen ließen das Ausmaß der Zerstörungen durch Erdbeben und nachfolgende Flutwellen von 14 m Höhe im Bereich des Kernkraftwerkes Fukushima-Daiichi immer klarer werden.

Andere Kernkraftwerke im betroffenen Küstenabschnitt überstanden das stärkste jemals in Japan registrierte Erdbeben der Stärke 9,1 auf der Richter-Skala und die anschließenden Flutwellen ohne größere Schäden. Sie konnten nach Schnellabschaltung ihren Notkühlbetrieb aufrechterhalten. Auch in Fukushima-Daiichi hatte die Kühlung und damit die Restwärmeabfuhr der Reaktorblöcke 1 bis 3 (Reaktor 4 war zum Zeitpunkt des Erdbebens entladen) bis zum Eintreffen der ungeheuer hohen Tsunamiwellen funktioniert. Danach waren diese Blöcke jedoch durch die Überflutung der Turbinengebäude und die nun fehlende Stromversorgung außer Kontrolle geraten. Die nahezu baugleichen Reaktoranlagen zeigten in der Folge auch sehr ähnliche Unfallabläufe, wobei die aufeinanderfolgenden Wasserstoffexplosionen das nach außen sichtbarste Zeichen waren. Nach den Wasserstoffexplosionen begannen auch die großen Freisetzungen von radioaktiven Isotopen, was die langfristige und leidvolle Evakuierung von ca. 160.000 Menschen aus der Präfektur Fukushima nach sich zog.

In dem Maße, in dem weitere und gesicherte Informationen aus Japan eintrafen, begannen international bei fast allen Regulierungsbehörden und deren wissenschaftlich-technischen Einrichtungen (TSO) Analysen des Unfallablaufes zur Abschätzung der radiologischen Folgen, des Grades der Beschädigung der Reaktorkerne und der Möglichkeiten zur Wiederherstellung von Stromversorgung und Kernkühlung.

Deutschland schaltet sichere Kernkraftwerke ab

In Deutschland wurde schon sechs Tage nach dem Erdbeben in Japan der Auftrag an die Reaktorsicherheitskommission (RSK) gegeben, eine Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke durchzuführen hinsichtlich ihrer Sicherheitsreserven gegen eine Vielzahl von Ereignissen, formuliert in einem Anforderungskatalog als Bestandteil eines dreimonatigen Atom-Moratoriums. Am 17. Mai wurde der Ergebnisbericht [4] dieser Überprüfung an die Regierung übergeben. Er bestätigte, dass alle deutschen Kernkraftwerke ausreichende Sicherheitsreserven gegen extreme natürliche Ereignisse in unseren Breiten haben. Außerdem besitzen sie eine größere Robustheit bei der Aufrechterhaltung der Notkühlung durch konsequente Implementierung des Defense-in-Depth-Sicherheitskonzepts (Konzept des gestaffelten Anlagenschutzes).

Die Ergebnisse der RSK-Untersuchungen rechtfertigten folglich kein Verbot der Kernenergie in Deutschland, sondern bestätigten eigentlich den sicheren Weiterbetrieb aller Kernkraftwerke. In dieser Situation »half« die von der Bundesregierung eingesetzte Ethikkommission, die in ihrem Bericht vom 30. Mai 2011 [5] trotz gültiger unbefristeter Laufzeitlizenzen der Kernkraftwerke die komplette Abkehr von der Kernkraft empfahl. Diese Empfehlung war besonders pikant, wenn bedacht wird, dass der Bundestag erst am 28. Oktober des Vorjahres die Novellierung des Atomgesetzes [6] zur Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke beschlossen hatte. Die damals vorgebrachten Argumente zur Laufzeitverlängerung im Rahmen eines langfristigen Energiekonzeptes waren plötzlich nicht mehr relevant.

Die IAEA in Wien hatte vom 20.–24. Juni 2011 zu einer »IAEA Ministerial Conference on Nuclear Safety« eingeladen. Dort wurde in einer vorbereiteten Erklärung [7] der deutsche Kernenergieausstieg als Folge des Reaktorunfalls von Fukushima-Daiichi der nuklearen Community bekannt gemacht. Dies löste einiges Erstaunen bei den versammelten Delegierten und Experten aus aller Welt aus, traf damit doch das Technologieland Deutschland eine Entscheidung, noch bevor alle Fakten und Umstände des Reaktorunfalls von Fukushima-Daiichi bekannt waren. Diese Erklärung war allerdings nur der letzte öffentliche Schritt, hatte die Bundesregierung doch schon drei Tage nach dem Reaktorunfall ein dreimonatiges Atom-Moratorium verkündet.

Unfall aufklären, nukleare Sicherheit erhöhen: der IAEA Action Plan on Nuclear Safety

In der Erklärung zum Ende der Ministerial-Konferenz [8] wurde ein Aktionsplan gefordert, der alle Aspekte der Aufklärung des Unfalls in Fukushima und notwendige Maßnahmen zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit weltweit enthalten sollte. Der »IAEA Action Plan on Nuclear Safety« wurde später durch die 55. Sitzung der IAEA-Generalversammlung im September 2011 angenommen [9]. Er hatte auch die Bildung eines Teams (NSAT) von etwa zehn IAEA-Mitarbeitern zur Planung, Durchsetzung und Überwachung der umfangreichen Arbeiten in den zwölf Arbeitsbereichen des Plans zur Folge.  Ich hatte das Glück, diesem Team mit anzugehören und dadurch die Gelegenheit, an der komplexen Aufarbeitung des Fukushima-Unfalls und seiner Ursachen direkt teilzunehmen.

Neben dem Management einer großen Zahl von Projekten im Rahmen des Aktionsplans wurde bald klar, dass die IAEA auch einen Bericht zu dem Nuklearunfall von Fukushima schreiben würde. Die Arbeiten dazu starteten Anfang 2013 und endeten mit der Publikation des Berichtes 2015.

Umfangreicher Abschlussbericht

Dieser Bericht entstand als Produkt einer weitreichenden internationaler Kooperation. Etwa 180 Experten aus 42 Mitgliedsstaaten und verschiedenen Organisationen leisteten Beiträge zu den einzelnen Kapiteln. Da der Bericht später als die Berichte anderer Organisationen veröffentlicht wurde, konnten schon gemachte Erfahrungen und die neuesten Daten zum Unfall verwendet werden. Außerdem wurde auf eine enge Zusammenarbeit mit japanischen Institutionen Wert gelegt. Das betraf den Betreiber der Anlage, TEPCO, die damalige Regulierungsbehörde NISA, Universitäten und Forschungsinstitute sowie Regierungsstellen, die Verwaltung der Präfektur Fukushima und andere. Zahlreiche japanische Dokumente mussten übersetzt und teilweise erklärt werden. Die Erarbeitung des Berichtes geschah in fünf Arbeitsgruppen:

  1. Description of the Accident
  2. Safety Assessment
  3. Emergency Preparedness and Response
  4. Radiological Consequences
  5. Post-Accident Recovery

Jede Arbeitsgruppe hatte zwei Leiter (Co-Chairs) und einen wissenschaftlichen Sekretär. Sekretär der Arbeitsgruppe 1 war ich. Zahlreiche Treffen der Arbeitsgruppen ermöglichten den notwendigen Informationsaustausch. Das Endprodukt ist ein (zusammenfassender) Bericht des Generaldirektors der IAEA und fünf technische Bände mit Anhängen [10], die alle zum freien Download bereitstehen.

Ursachen des Fukushima-Unglücks

Ein wesentlicher Aspekt der Arbeiten zu Fukushima ist die Ursachenforschung. Unmittelbarer Anlass des Unfalls war natürlich das extrem schwere Erdbeben der Stärke 9 kombiniert mit immensen Flutwellen und der Zerstörung fast der gesamten Infrastruktur einschließlich der Stromversorgung im Bereich des Kernkraftwerks.

Abgesehen von Mängeln in der Anlage selbst, wie das Fehlen verbunkerter, luftgekühlter Notstromdiesel, verbesserter Überflutungsschutz oder Maßnahmen zum Wasserstoffabbau, zeigten sich bald auch fundamentale Schwächen in der nuklearen Gesetzgebung und in der Aufsicht. Ein wesentlicher Punkt war, dass die Kernkraftwerksbetreiber nicht verpflichtet waren, neuere Erkenntnisse zum Unfallablauf in Form von Nachrüstungen (Back-up) in den Anlagen umzusetzen. So wurden Maßnahmen zum Wasserstoffabbau nicht installiert, obwohl Japan an den Forschungen der Jahre zuvor aktiv teilgenommen hatte, zum Beispiel mit einer großen Versuchsanlage zu Wasserstoffexplosionen bei Mitsubishi nahe Kobe. In Deutschland und anderen europäischen Ländern wurden Wasserstoffgegenmaßnahmen von den Betreibern freiwillig in allen Sicherheitsbehältern nachgerüstet – was die Akzeptanz allerdings auch nicht verbessert hat.

Ein weiterer Punkt war die mangelnde Unabhängigkeit der nuklearen Aufsichtsbehörde NISA und ihre Angliederung an das Wirtschaftsministerium. Dies führte zu einer kompletten Neugliederung der Aufsicht, der jetzigen NRA.

Mit dem Begriff mangelnder Sicherheitskultur lässt sich eine Reihe weiterer schwerer Mängel zusammenfassen. So war eine unzureichende Auslegung gegen auslegungsüberschreitende Ereignisse festzustellen. Das Defense-in-Depth-Sicherheitskonzept war nicht konsequent umgesetzt worden, und die vielfältigen Standards, Hilfen und Dienste (IRRS, Integrated Regulatory Review Service) der IAEA zum sicheren Betrieb eines KKW nicht umfassend genutzt.

Atomkraftgegner instrumentalisieren Reaktorunfall

Keiner der Mängel des Kernkraftwerks Fukushima-Daiichi, der japanischen Atomaufsicht oder der japanischen Nukleargesetzgebung war auf die Kernkraftwerke in Deutschland übertragbar. Dennoch nutzten Atomkraftgegner in Deutschland sofort die Gunst der Stunde, um unter dem Slogan »Fukushima ist überall« Stimmung gegen die Kernenergie allgemein und speziell in Deutschland zu machen.

Dies setzte sich in den folgenden Jahren fort. Den vorläufigen Tiefpunkt erreichte zwei Jahre später die Bundestagsvizepräsidentin und Grünen-Chefin Claudia Roth, als sie zum Jahrestag des schweren Tsunamis in Japan, der Tausende von Menschenleben forderte, in einem Facebook-Posting diese Opfer auf die »Atom-Katastrophe« in Japan zurückführte. Ähnlich äußerten sich auch Jürgen Trittin und die ARD-Tagesschau [11]. Am nächsten Tag entschuldigte sich ein »Team Roth« für den Fehler.

Doch dieser »Fehler« hat offenbar Methode. Er lässt sich mit schöner Regelmäßigkeit jedes Jahr am 11. März finden. 2019 etwa machten die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen aus Tsunami-Toten kurzerhand Strahlenopfer. In diesem Jahr waren es erneut die Grünen, die ihre Klientel per Twitter aufs Glatteis zu führen versuchten und behaupteten, Zehntausende Menschen seien durch die »Nuklearkatastrophe von Fukushima« umgekommen. Nach massiven Protesten im Netz löschten die Grünen diesen Tweet und entschuldigten sich für den »Fehler in der Redaktion«. Bei der Katastrophe von Fukushima seien »nicht unmittelbar« zehntausende Menschen gestorben, sondern »zu Schaden gekommen« – was immer das heißen mag. Man darf jedenfalls vermuten, dass den Grünen und anderen Atomkraftgegnern dieser »Fehler« auch in den kommenden Jahren erneut unterlaufen wird.

Warum operieren Atomkraftgegner mit Auslassungen, Halbwahrheiten und sogar offenen Unwahrheiten? Weil die Wirklichkeit so gar nicht zu ihrem Narrativ passt. Gesundheitliche Beeinträchtigungen durch die Strahlung seien in der Bevölkerung von Fukushima nicht festzustellen und auch nicht zu erwarten, schreibt en die Vereinten Nationen in einem gerade veröffentlichten UNSCEAR-Bericht[13].

Quellen

Alle Beiträge der Reihe »Mein Fukushima«:


Titelbild: Brücke Nr. 1 der Tadami-Eisenbahnlinie in Fukushima. Quelle: Wikimedia Commons

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