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Belgische Rissreaktoren: Wie sicher sind Tihange 2 und Doel 3?
Belgische Rissreaktoren: Wie sicher sind Tihange 2 und Doel 3?
Veröffentlicht am 2017-10-27
Von Anna Veronika Wendland
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Wer fundierte Antworten will, muss sich mit der Technik befassen

Risse im Atomkraftwerk, Schrottreaktoren, NRW bunkert Jodtabletten: Das sind die medialen Schlagwörter rund um die belgischen Kernkraftwerksblöcke Tihange 2 und Doel 3. Wir plädieren für eine sachliche Auseinandersetzung und gegen die Angstmache durch schlampige Begrifflichkeiten. Dafür benötigt man einen kleinen Einblick in die Fakten rund um die beiden Anlagen. Wir haben sie gesichtet und gemäß neuerer Erkenntnisse aktualisiert. Unser Fazit enthält Kritik und Lob: Produzenten und Betreiber der umstrittenen Reaktordruckbehälter lassen einige Fragen offen, die nicht abschließend geklärt wurden, auch wenn der sichere Normalbetrieb der Reaktoren von Fachleuten nicht in Frage gestellt wird. Den sehr strengen Anforderungen des deutschen »Basissicherheitskonzepts« für Reaktordruckbehälter genügen die beiden Anlagen jedoch nicht. Der belgischen Aufsichtsbehörde gebührt Lob für den im internationalen Vergleich vorbildlich transparenten Umgang mit den Befunden. Nach dem belgischen Sicherheitskonzept sind die Anlagen genehmigungsfähig. Der Fall ist daher für die belgische Atomaufsicht abgeschlossen.

(Der vorliegende Text aktualisiert und erweitert einen Anfang 2016 erschienenen Beitrag der Autorin.)

Was ist das Problem in Tihange 2 und Doel 3?

Tihange 2 und Doel 3 sind 3-Loop-Druckwasserreaktoren vom Typ M310 beziehungsweise M312, die das Framatome-Konsortium Framatome-ACEC-Cockerill unter amerikanischer (Westinghouse-) Lizenz errichtete. Tihange 2 erreichte seine Erstkritikalität am 5. Oktober 1982, Doel 3 am 14. Juni 1982.

Während der »Visite décennale« 2012, einer Grundrevision im 10-Jahres-Rhythmus, die in Ausmaß und Intensität über die jährlichen Revisionen hinausgeht, erbrachten Ultraschalluntersuchungen im Rahmen einer neu eingeführten Sonderprüfung der Reaktordruckbehälter (RDB) in den beiden Anlagen vorher nie gesehene Defektanzeigen im Inneren der Wände der Reaktordruckbehälter. Die belgischen Quellen bezeichneten sie als wasserstoffinduzierte Einschlüsse, sogenannte »Flocken«.

Der Materialwissenschaftler Xaver Schuler von der Stuttgarter Materialprüfungsanstalt (MPA), Mitglied der deutschen Reaktorsicherheitskommission (RSK), spricht von »rissartigen Defekten« und erklärt ihre Entstehung mit Fehlern beim Management des Abkühlprozesses während des Schmiedens der RDB-Schüsse: Wenn überschüssiger Wasserstoff beim Abkühlen des Schmiedestücks nicht, wie eigentlich erwünscht, entweichen kann, bilden sich »geschlossene Risse«, die sich, so Schuler, womöglich erst während des Reaktorbetriebs geöffnet hätten; das würde ihre Nicht-Detektierung bei der Abnahme des RDB erklären. Nach umfangreichen Untersuchungen und Hinzuziehung nationaler und internationaler Expertenkommissionen kam die belgische Aufsichtsbehörde FANC zu einem ähnlichen Schluss: Diese Einschlüsse seien fertigungsbedingt entstanden und nicht während des Betriebs – etwa infolge Strahlungseinwirkung; und sie seien auch nicht gewachsen. Daher sei ein sicherer Betrieb der beiden Anlagen gewährleistet. Gleichwohl wurden dem Betreiber Electrabel Auflagen zur Beobachtung des Phänomens gemacht. Dieses Vorgehen wiederum, so Schuler, sei ein Fehler gewesen, der auch der Vertrauensbildung geschadet habe: Solange Fragen offen seien, müsse eine Anlage vom Netz bleiben.

Tatsächlich stellte sich bei Anwendung verfeinerter Messmethoden Anfang 2014 heraus, dass die Zahl der wasserstoffinduzierten Defekte in Wirklichkeit weit höher ist als vorher gemessen wurde. Infolge dieser neuen Erkenntnisse wurden die Reaktoren zunächst vorzeitig zur Revision abgeschaltet; darauf folgte ein 18 Monate währender Stillstand. In dieser Zeit wurden umfangreiche Forschungen an Materialproben aus den betroffenen Anlagen und aus anderen archivierten Druckbehältermaterialproben mit vergleichbaren Wasserstoffflocken vorgenommen. Wiederum waren diverse Expertenkommissionen mit der Auswertung der Ergebnisse befasst. Das amerikanische Forschungszentrum Oak Ridge National Laboratory (ORNL) wurde um eine unabhängige Prüfung der vom Betreiber vorgelegten Berechnungen mit eigenen Methoden und Modellen gebeten. Die Expertengruppen bewerteten die neue Prüfmethodik, die Relevanz (Übertragbarkeit) der Materialprobenuntersuchungen auf die betroffenen Reaktordruckbehälter und gaben eine Einschätzung zur Integrität der betrachteten Reaktordruckbehälter ab.

Kernkraftwerk Tihange, Belgien, mit drei Reaktoren. Foto: Hullie (CC BY-SA 3.0)

Diese Bewertungen der Expertengruppen bildeten wiederum die Grundlage für den neuen Abschlussbericht der belgischen Aufsichtsbehörde. Die FANC bewertete die Wasserstoffeinschlüsse als nach Historie, Lage, Ausdehnung, Ausrichtung und Zusammenwirken mit anderen Eigenschaften der betrachteten Materialien nicht sicherheitsabträglich. 99,75 Prozent der beobachteten Defekte stellten keine Gefahr dar. Für die verbleibenden 0,25 Prozent der »Defektpopulation« seien weitere Berechnungen über potenzielles Risswachstum nötig gewesen, die ebenfalls zufriedenstellend verlaufen seien. Folglich erteilte die FANC den beiden Anlagen im Dezember 2015 die Genehmigung zum Wiederanfahren.

Anfahren trotz Materialdefekten im Reaktordruckbehälter – darf man das?

Die Werkstoffkunde hat ein umfangreiches Analyse-Instrumentarium zur Entscheidung über die Relevanz solcher Defektanzeigen für die Reaktorsicherheit entwickelt. Entscheidend ist dabei nicht die reine Tatsache des Vorhandenseins von Defektanzeigen (“flaw indications”) – es gibt keine absolut defektfreien Werkstücke –, sondern folgende Faktoren:

  • Ihre Geschichte: Sind die Risse während des Betriebs des Reaktors entstanden und gewachsen oder in dieser Form seit Fertigung unverändert vorhanden?
  • Ihre Lage, Länge und Ausrichtung: Liegen die Defekte so, dass die in der Druckbehälterwand auftretenden Kräfte (Spannungen) ein Risswachstum befördern oder nicht? Überschreiten Risse die für die Betriebsspannung kritische Rissgröße?
  • Ihr Zusammenwirken mit anderen Materialveränderungen im Reaktordruckbehälter, die durch Strahlungseinwirkung entstehen: Ist infolge strahlungsbedingter Versprödung des Reaktorstahls eine Weiterentwicklung der beobachteten Defekte zum gefährlichen, schlagartigen Sprödbruch zu befürchten? Daraus folgt die nächste und zentrale Frage:

Was ist Versprödung?

Reaktordruckbehälter müssen beträchtliche Belastungen aushalten. Zunächst jene, die im Normalbetrieb anfallen: Drücke von rund 160 bar und Temperaturen von bis zu rund 330 Grad Celsius. Ausgelegt sind die Anlagen aber für wesentlich höhere Temperaturen und Drücke. Außerdem müssen Reaktordruckbehälter mit Druck- und Temperaturschwankungen aller denkbaren »Transienten« fertig werden – so nennen Ingenieure den dynamischen Übergang von einem Betriebszustand in einen anderen. Solche Transienten sind das An- und Abfahren der Anlage, Reaktorschnellabschaltungen, Lastwechsel – zum Beispiel infolge volatiler Einspeisung durch Windkraftanlagen ins Verbundnetz – und störfallbedingte Lastfälle: zum Beispiel der Notkühlfall bei einem Leck im Primärkreislauf, wenn der Druck im Primärkreislauf rasch abfällt und die Sicherheitseinspeisepumpen wesentlich kühleres Wasser in den Reaktor fördern.

Solche Belastungen sind Stress für den Reaktordruckbehälter, der, bruchmechanisch gesprochen, »zäh« und nicht »spröde« reagieren sollte. Reaktordruckbehälter werden aus ferritischen (niedriglegierten, kohlenstoffarmen) Stählen gefertigt, mit Ausnahme der korrosionsbeständigen inneren Plattierung aus austenitischen Stahl, sprich: mit hohem Gehalt an Nickel, Chrom und Mangan. Ferritischer Reaktorstahl reagiert auf Belastungen und Spannungen in dem für Kernkraftwerke typischen Betriebstemperaturbereich bei eventuellen Defekten plastisch, sprich: zäh, – vorausgesetzt, ein Riss übersteigt eine bestimmte Länge nicht.

Gleichwohl gibt es bei jedem dieser Stähle eine sogenannte Sprödbruch-Übergangstemperatur (NDT, nil ductility temperature), unterhalb derer schon geringere Krafteinträge reichen, um Risse kleiner Länge zum Sprödbruch zu bringen. Dieser ist gekennzeichnet durch eine schnelle, instabile Rissentwicklung und schlagartige Materialtrennung. Das kommt bei ferritischen Stählen bei sehr niedrigen Temperaturen vor. Wir kennen den Effekt vom Fahrradschloss, das im vereisten Zustand leichter zu knacken ist als bei Normaltemperatur.

Wird nun ein Reaktordruckbehälter im Betrieb mit Neutronen beschossen, versprödet er mit der Zeit. Das heißt, die Übergangstemperatur, unterhalb derer schon geringere Spannungen im Material bei vorhandenen Rissen zum Sprödbruch führen können, verschiebt sich mit wachsender Betriebsdauer und zunehmender »Neutronenfluenz« immer weiter nach oben. Die Neutronenfluenz ist die Neutronenflussdichte (Zahl der freien Neutronen, die eine Fläche von einem Quadratzentimeter pro Sekunde durchsetzen) multipliziert mit der Zeit.

Ein KKW-Betreiber muss in seinen Sicherheitsberichten daher regelmäßig nachweisen, dass sämtliche Betriebszustände und Transienten mit ihren maximalen Belastungen oberhalb dieser Übergangstemperatur und unterhalb der kritischen Spannungen zu liegen kommen. Befindet sich das Betriebsdiagramm eines Reaktors in diesem sicheren Bereich, dann reagiert das Strukturmaterial auf Spannungen an Rissspitzen zäh (mit energieaufnehmender plastischer Verformung) statt spröde (schlagartig reißend).

Eventuelle Risse entwickeln sich im Zähigkeitsbereich stabil. Das heißt, es kommt bei Rissentwicklung an Defekten nicht zum plötzlichen Bruch, sondern allenfalls zu einem sich langsam entwickelnden, kleinen und rechtzeitig lokalisierbaren Leck vor dem Bruch. Dieses »Leck vor Bruch«-Kriterium ist somit auch ein weiteres wichtiges Sicherheitskriterium der Basissicherheit von Reaktordruckbehältern.

Die belgische kerntechnische Aufsichtsbehörde FANC kam auf der Grundlage der durchgeführten Materialuntersuchungen zu dem Schluss, dass es sich bei den Wasserstoffflocken nicht um solche Defekte handelt, die eine erhöhte Sprödbruchgefahr nach sich ziehen. Sie akzeptierte daher die vom Betreiber im Sicherheitsbericht veranschlagten Voraussagegleichungen für Sprödbruch-Übergangstemperaturen. Dabei wurde der ungünstigste Fall angenommen, also die stärkste in den Materialproben nachgewiesene Versprödung. In jedem Falle wird die Anlage so im zähen, sicheren Bereich zu fahren sein.

Gleichwohl gibt es bestimmte Auflagen. So sollen schonende Fahrweisen für sanftere Temperaturgradienten sorgen und das Material entlasten. Damit wird der Fall berücksichtigt, dass durch eine nicht ausgeschlossene Restunsicherheit die Flockenbildung doch relevant sein sollte. Aus demselben Grunde werden die Reservoirs für das Notkühlwasser vorgeheizt. Auch dies ist kein Grund zum Spott wie beim WDR (»zu marode für kühles Kühlwasser«). Vielmehr ist dies als zusätzliche Sicherheit international bei älteren Anlagen mit höherer Versprödung üblich.

Was verraten die Materialproben?

Damit der Betreiber eine Vorausschau über die erwartbare Versprödung des Reaktordruckbehälters und damit auch über die Entwicklung von dort eventuell auftretenden Rissen erhält, werden vor der Erstinbetriebnahme sogenannte Voreilproben in den Reaktordruckbehälter eingehängt. Diese befinden sich in größerer Nähe zu den Brennelementen als die Behälterwand und erreichen daher schon Jahre vor der Behälterwand einen bestimmten Neutronenfluenzwert und einen höheren Versprödungsgrad. Im Gegensatz zum Reaktordruckbehälter kann man die Proben entnehmen und eingehend prüfen, zerlegen und Sprödbruchtests durchführen, zum Beispiel durch Kerbschlagarbeit zur Simulierung von Bruchverhalten an Defektstellen.

Auch in den beiden belgischen Anlagen waren Voreilproben Gegenstand der Untersuchung. Da sie aber keine Wasserstoffeinschlüsse enthielten, wurden zusätzlich andere Proben mit und ohne Wasserstoffflocken hinzugezogen und in einem Forschungsreaktor intensiv bestrahlt, um den Zustand des Reaktordruckbehälters in der betroffenen Zone näherungsweise zu simulieren. Insbesondere an diesen Proben entzündete sich die Kritik der Grünen und der von ihnen bestellten Experten. Diese Proben seien nicht repräsentativ, und bei konservativem Ansatz müsse man dann auf Nummer sicher gehen und die Anlagen stilllegen. Tatsächlich kamen auch die von der FANC bestellten Gutachter während der zweiten Untersuchungsphase zu dem Schluss, dass eine der beiden Fremdproben, ein Wasserstoffflocken enthaltendes Stück aus einem verworfenen AREVA-Dampferzeuger (»VB395«), als nicht repräsentativer Ausreißer zu werten sei.

Xaver Schuler von der MPA kritisiert dieses Auschlussverfahren: So zeigten gerade die Befunde aus der VB395-Probe genau in einer Seigerungs-Zone mit Wasserstoffflocken einen starken Anstieg der Sprödbruch-Übergangstemperatur, sollten also mit in Betracht gezogen werden. Seine Kollegen mochten den Befund aber nicht auf die Wasserstoffflocken zurückführen. Die anderen Proben blieben bei der Versprödung im erwarteten Bereich und gaben den Experten Anlass zu der Schlussfolgerung, dass die Wasserstoffeinschlüsse nicht während des Betrieb entstanden und gewachsen seien. Vielmehr seien sie statisch und von Anfang an vorhanden gewesen. Trotzdem wurde bei der Neuberechnung der kritischen Sprödbruch-Übergangstemperatur der ungünstigste Fall zugrundegelegt und aufgrund eines Gutachterhinweises aus einer der Expertengruppen eine zusätzliche Sicherheitsmarge addiert.

Offene Fragen zur Basissicherheit

Prinzipiell müssen offene Fragen an Hersteller und Betreiber über die späte Entdeckung der Defektanzeigen zur Kenntnis genommen werden. So ist zu fragen, warum diese Defekte, wenn sie herstellungsbedingt sind, nicht schon bei der Abnahme entdeckt wurden, denn geeignete Prüfinstrumentarien gab es auch schon in den 1970er Jahren. Die Fertigungsdokumentation ist leider unvollständig und gibt auf diese Frage keine Antwort. Die Kritiker führen diese offenen Fragen als Begründung für ihre Forderung nach Schließung der beiden Anlagen an. Sie argumentieren, dass von Anfang an dagewesene Defekte auch hätten dokumentiert werden müssen; der Auftraggeber hätte die Abnahme der Behälter seinerzeit wegen zu vieler Defekte verweigern müssen. Andersherum lasse die Nichtreaktion und die späte Entdeckung der Wasserstoffeinschlüsse den Schluss zu, dass es damals keine Defekte gegeben hätte – was bedeute, dass die Defekte später entstanden seien. Das suggeriert ein Bild des gefährlichen Defektwachstums. Der Materialforscher Schuler vermutet, wie erwähnt, eine beim Anlagenbetrieb erfolgte nachträgliche Öffnung der von Anfang an vorhandenen, aber schwer detektierbaren Defekte, welche diese Diskrepanz erklären könnte.

Folgt man dem Konzept der Basissicherheit für Reaktordruckbehälter, das seit 1979 für deutsche KKW bindend ist, so hätten die beiden Behälter verworfen werden müssen. Das Konzept ist allerdings redundant aufgebaut: Neben der Qualitätssicherung bei der Komponentenfertigung – die im Fall »T2D3« offensichtlich nicht gewährleistet war – gibt es weitere Verfahren, die die Sicherheit gewährleisten. Dazu gehören etwa die genannten Praktiken der Voreilproben-Analyse und der wiederkehrenden zerstörungsfreien Inspektion mit Ultraschall, die Prüfung der Berechnungen im »Worst-case«-Experiment und die Validierung der Modelle und Rechenverfahren durch unabhängige Gutachten. Diese Bedingungen wurden aus Sicht der belgischen Aufsichtsbehörde mit den oben geschilderten Prüfverfahren erfüllt.

Schuler hingegen hält wichtige Fragen, die für die Gewährleistung der Basissicherheit zweifelsfrei beantwortet werden müssten, für weiterhin offen, zum Beispiel ob das für Doel und Tihange vorgelegte bruchmechanische Modell wirklich alle Spezifika der besonderen, »quasilaminaren« (das heißt mit leichter Neigung parallel zur Behälterwand verlaufenden) Risspopulation in den RDB abdecke und ob es auch für die Bedingungen von Unfalltransienten noch repräsentativ sei. Um diese Unsicherheiten abzudecken, seien zusätzliche Sicherheitsmargen und konservative Annahmen notwendig.

Das belgische Atomrecht und Sicherheitskonzept verfährt etwas anders als das deutsche Basissicherheitskonzept. Es orientiert sich an US-Standards und weist zum Beispiel probabilistischen Sicherheitsanalysen (PSA) eine wichtigere Rolle zu. Nach belgischer Sicherheitsauffassung gewährleisten die zusätzlichen Vorkehrungen einen sicheren Betrieb der Anlagen. Es ist zu vermuten, dass Tihange 2 und Doel 3, handelte es sich um deutsche Anlagen, stillgelegt worden wären, weil eine der Redundanzen des Basissicherheitskonzepts – die Qualitätssicherung bei der Produktion – nicht erfüllt wurde und es bei weiteren, nämlich der experimentellen Validierung sowie der Analyse von Proben, offene Fragen über die Repräsentativität der herangezogenen Experimente und Proben für diesen speziellen Fall gibt. Es wäre wichtig, hier zusätzliche Klarheit zu schaffen. Das ist die Position der deutschen Fachleute für Komponentensicherheit, die ich für diesen Beitrag befragt habe.

Rissreaktor? Plädoyer für Sachlichkeit

Trotz der berechtigten Fragen nach offenen Punkten ist festzustellen, dass die deutsche Diskussion um Tihange 2 und Doel 3 über weite Strecken mehr über Deutschland als über Belgien und den Zustand seiner kerntechnischen Anlagen aussagt. Hauptmerkmal der öffentlichen Debatte in Deutschland ist eine starke Emotionalisierung und systematische Delegitimierung belgischer und internationaler Expertise beziehungsweise das weitestgehende Ignorieren dieser Experten. Das wirkt sich vor allem in einer diffamierenden und schlampigen Begrifflichkeit aus. Charakteristisch ist auch der massive Druck der deutschen Öffentlichkeit auf Amtsträger: Diese sollten ihren Einfluss in Belgien geltend machen oder dafür sorgen, dass belgische Kernkraftwerke nicht mehr mit Brennelementen aus deutscher Produktion beliefert werden. All das zeugt nicht von Respekt für Sachargumente, Zuständigkeiten, europäische Rechtsnormen und Vertragsfreiheit von Unternehmen. Es ist leider charakteristisch für die Aufgeregtheit und Maßlosigkeit, welche die öffentlichen Diskussionen in Deutschland in letzter Zeit prägen.

Die von den Experten zu prüfende Materie ist hochkomplex und kann auch an dieser Stelle nur ansatzweise vorgestellt werden. Wer sich genauer informieren will, der sollte den Abschlussbericht der belgischen FANC sowie die Literaturtipps konsultieren und komplementär auch den kritischen Bericht der europäischen Grünen. Auf diesen Bericht rekurrieren Gegner immer wieder, er ist aber in Teilen durch die zweite Untersuchungsphase der FANC-Expertengruppen 2014/15 überholt. Wer sich zu Tihange 2 und Doel 3 äußert, sollte auf jeden Fall die Befunde der Expertengruppen gesichtet haben. Ferner sollte beachtet werden, dass es die FANC dem Betreiber Electrabel nie leicht gemacht hat. In Zweifelsfällen hörte sie auf kritischere Minderheitenvoten innerhalb einer Expertengruppe und verlangte vom Betreiber zusätzliche Untersuchungen. Auch kann man bei Stillstandszeiten von weit über einem Jahr nicht von einer übereilten oder schlecht dokumentierten Entscheidung sprechen. Auch deutsche Fachleute wie Schuler loben die Transparenz des Verfahrens und halten die NRW-Jodtablettenaktion für ein unsinniges und angstschürendes Unternehmen.

Inzwischen gab es eine Reihe deutsch-belgischer Konsultationen, bei denen die Sachfragen im Vordergrund standen. Es steht zu hoffen, dass endlich wieder eine kritische, aber sachliche und wissenschaftlich abgesicherte Bereichterstattung über die Reaktorsicherheit zum Zuge kommt. Schrottreaktorpropaganda im Stile der allfälligen Hysterisierung politischer Debatten, wie sie in Deutschland nicht nur bei der Kernenergie in letzter Zeit immer stärker zum Tragen kommt, haben wir mehr als genug.

Literatur


Titelfoto: Kernkraftwerk Doel, Belgien, mit vier Reaktoren, Wim Robberechts & Co (CC BY-ND 3.0)


Dr. Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland forscht zur Geschichte und Gegenwart nuklearer Sicherheitskulturen in Ost- und Westeuropa. Für ihre Habilitationsschrift hat sie in mehreren Kernkraftwerken in Osteuropa und in Deutschland Forschungsaufenthalte durchgeführt. Dr. Wendland arbeitet in der Direktion des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Sie leitet Arbeitsgruppen im Bereich Technik-, Umwelt- und Sicherheitsgeschichte.

Kategorien
Physik
Politik
Ulrich Thiele sagt:

Liebe Frau Wendland,

danke für diesen Beitrag, da möchte ich noch etwas ergänzen, was sich allerdings zunächst anders anhört: Während meines Studiums der Reaktortechnik bei Prof. Nickel und Prof. Kugler, Mitte der 70er Jahre, wurde mir eine andere Sicht auf die Dinge vermittelt. Die Wasserstoffeinschlüsse werden während der Herstellung des RDB mit großer Sorgfalt möglichst homogen in den Stahl eingebracht, und das mit Absicht: Die Gaseinschlüsse wirken wie die Lufteinschlüsse im Kunststoffschwamm, sie machen das an sich spröde Material elastisch. Beim RDB, der ja in der Tat mit der Zeit spröder wird, erreicht man, dass die Wechsellast durch Druck- und Temperaturschwankungen elastisch abgefedert wird, und somit keine Schäden durch Sprödbruch oder Totalversagen während der Lebensdauer zu befürchten sind. Also: Not a bug, but a feature?

Diese Begründung für die heute vom WDR propagandistisch genannten “Risse” war mir damals – lange vor der Diskussion um Tihange – als Werkstoffwissenschaftler dermaßen genial und logisch vorgekommen, dass ich das bis heute gut behalten habe. Als die Diskussion in Aachen dann losbrach, war mir klar, dass es sich hier um ein gewaltiges Missverständnis handelte.

Einzig eines verstehe ich nicht: Die von Ihnen genannten Literaturquellen gehen auf die absichtlich eingebrachten Blasen nicht ein, das verwundert mich.

Viele Grüße

Prof. Dr.-Ing. Ulrich Thiele

Georges Graff sagt:

Sehr geehrte Frau Wendland
Was sagen Sie zu den ausgedienten Brennstäben und den radioaktiv verseuchten Abfällen?
Wie lange müssen Brennstäbe gekühlt werden, bis sie für immer entsorgt werden können?
Wie kann man sicherstellen, dass die Kühlung auch bei Krieg, Erdbeben, Krisen, politischen Umwälzungen gewährleistet ist?
Wie viel tausend Jahre müssen Endlager vor dem Zugriff unwissender oder krimineller Gruppen geschützt werden und wie?
Mit freundlichen Grüssen
Georges Graff

Rainer Klute sagt:

Das sind berechtigte Fragen, die viele Menschen beschäftigen.

Es gibt aber gute Antworten. Zum Atommüll siehe die Themenseite der Nuklearia.

Kurzfassung: Die Mengen hochradioaktiven Atommülls sind gering, und 96 Prozent davon lassen sich recyceln. Dieser Vorgang wandelt die langlebigen Abfälle in kurzlebige um und setzt große Mengen Energie frei. Der in Deutschland vorhandene Atommüll reicht beim heutigen Stromverbrauch für über 250 Jahre Vollversorgung. Für die Lagerung der Abfälle dessen, was übrigbleibt, reichen dann gut 300 Jahre.

Detlef zum Winkel sagt:

Sehr geehrte Frau Wendland, im Vergleich zu Ihren früheren Artikeln zum gleichen Thema rudern Sie nun aber erheblich zurück und sind viel vorsichtiger geworden oder täusche ich mich da? Nun, ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Appelle zu mehr Sachlichkeit und weniger Propaganda auch auf sich selbst anwenden. Bei der Gelegenheit: in Belgien und auch in Frankreich gibt es ja das gravierende Problem mit fehlenden oder manipulierten Herstellerunterlagen. Sie haben doch einen Job in Grohnde als Archivarin oder Historikerin. Also sind Sie die richtige Anlaufstelle für die Frage, ob es sowas auch in unserem ordentlichen Land gibt. Ist denn im AKW Grohnde alles komplett? Alles sauber? Können Sie das bezeugen? Bitte ohne Worthülsen antworten, da schließe ich mich ausnahmsweise Herrn Reichart an.

Anna Veronika Wendland sagt:

Lieber Herr zum Winkel, zumächst lassen Sie mich eines klarstellen: ich habe keinen “Job in Grohnde”, schon gar nicht als “Archivarin”, sondern einen Job als Wissenschaftlerin bei einem Forschungsinstitut der Leibniz-Gemeinschaft, wie Sie unschwer aus den Autorenangaben erschließen können. Offensichtlich spuken da Vorstellungen in Ihrem Kopf herum, jeder, der sich nicht mit der AKW-Nee-Fahne auf die Straße stellt, werde von der Atomwirtschaft bezahlt, um geschönte Geschichten zu produzieren.

Hinsichtlich der Vollständigkeit der Unterlagen zum Produktionsprozess eines RDB jedoch kann ich Ihnen sagen: allerdings sind diese in den deutschen Anlagen vollständig, andernfalls gäbe es ernsthafte Probleme beim Sicherheitsbericht für den RDB (warum das so ist, steht in dem obigen Artikel).

Und da ich eine unabhängige Wissenschaftlerin bin, habe ich überhaupt keine Schwierigkeit damit, “zurückzurudern”, wenn es neue Quellen, Untersuchungen und Erkenntnisse gibt. Ich bin nicht dazu da, Tihange zu retten. Aber ich fordere Mindeststandards einer fairen Berichterstattung und sachlichen Auseinandersetzung ein. Die findet hierzulande nicht statt, das Meinungsmonopol zur Frage belgischer KKW liegt in Deutschland beim WDR, der in jeder Schlagzeile den großen Knall beschwört und dessen selbsternannter Experte sich schon mehrmals durch Unkenntnis wichtiger Zusammenhänge blamiert hat. Aber er kämpft ja, wie er meint, für eine gute Sache: daher macht er sich mit ihr gemein.

Detlef zum Winkel sagt:

Einst schrieben Sie über den „historisch gewachsenen technosozialen Organismus“ Grohnde, dass Sie dort eine „Feldstudie zur Geschichte nuklearer Sicherheitskulturen“ durchführten und dass Sie das Kraftwerk länger als ein Jahr als „participant observer“ kennenlernen durften. Das meinte ich mit einem Job in Grohnde und der interessiert mich mehr als das zarte Rosa und Taubenblau, in welchem die Silhouette des Weserberglands gelegentlich erscheint.

Dieses Projekt (so einverstanden?) müsste Sie ins Archiv zu jenen Dokumenten geführt haben, die in Tihange bspw. nicht mehr vorhanden sind. Ihre Antwort verstehe ich so, dass diese Unterlagen in Grohnde vollständig vorhanden sind und dass es an ihrer Qualität aus Ihrer Sicht nichts zu beanstanden gibt (also keine Verwendung von Tipp-ex oder ähnliches). Daraus hoffe ich mit Ihrem Einverständnis schließen zu dürfen, dass im AKW Grohnde bei seiner Inbetriebnahme keine Mängel in der Stahlqualität festgestellt wurden, also keine Wasserstoff-Flocken à la Belgique, Kohlenstoff-Anomalien à la France oder Aluminiumoxideinschlüsse à la Suisse. Sollten im AKW Grohnde also irgendwann Mikrorisse entdeckt werden, was ich nicht hoffe, wohl aber fürchte, so wären sie eindeutig betriebsbedingt und nicht herstellungsbedingt entstanden.

Das „spukt“ mir in diesem Kontext im Kopf herum. Welche Fahne Sie auf welcher Straße schwenken wollen, machen Sie bitte mit sich selbst ab.

Hallo und vielen Dank für den interessanten Artikel. Ist eigentlich bekannt, ob diese Reaktoren auch eine Absalzautomatik verwenden? Ich hoffe ja dass Belgien auch bald seine Reaktoren abschaltet.

Anna Veronika Wendland sagt:

Was meinen Sie mit “Absalzautomatik”? Betrifft das Kühlmittel- oder Speisewasseraufbereitung?

Marco Graf sagt:

Guten Tag Frau Müller,

noch eine Frage: wenn Sie von “diesen Reaktoren” sprechen, meinen Sie damit den Primärkreis eines Druckwasserreaktors? Meines Wissens nach wird eine Absalzautomatik in offenen Kühlkreisläufen, welche nicht demineralisiertes Wasser nutzen, eingesetzt. Hier reichern sich Salze und andere Stoffe im Wasser an.
Im Primärkreis eines Druckwasserreaktors wird demineralisiertes Wasser genutzt, wobei dieses Kühlmittel Zusätze enthält, um z.B. Korrosion vorzubeugen. Darüber hinaus wird permanent ein gewisser Anteil des Kühlmittels abgezogen und aufbereitet wieder zurückgeführt.

Mit freundlichen Grüßen
Marco Graf

Marco Graf sagt:

Eine kleine Recherche hat folgendes ergeben:
Eine Absalzautomatik wird in kleinen Kühlkreisläufen (offen und geschlossen) eingesetzt, da hier eine kontinuierliche Aufbereitung zu teuer wäre. Im Kraftwerksbereich wird das wohl nicht zum Einsatz kommen.
Wie kommen Sie darauf, dass die Anlagen in Belgien “auch” so etwas verwenden könnten?

Karl Reichart sagt:

In diesem Beitrag wird kennzeichnend für die Debatte, auf das Grundproblem hingewisen: Es geht nicht um die Sache, es geht um die Deutungshoheit im politischen kampf.Bei den Jamaica-Verhandlungen wird es auch um die politische Macht gehen, auch den wissenschaftlich größten Unfug möglichst in die Praxis umzusetzen. Fachleute sind da nicht gefragt, leere Worthülsen bei möglichst vielen Bürgern mit Angst fest zu verankern, das ist das Prinziop. Danke für Deinen Beitrag, ein paar, hoffenlich nicht bald groß geschrieben, werden ihn vernünftig lesen.