Das Deutsche Atomforum hatte sich entschlossen, den Film „Pandora’s Promise“ von Robert Stone am Rahmen der Veranstaltungsreihe „Energie im Dialog“ in Berlin mit anschließender Diskussion zu zeigen! Der im Energiewendeland weitgehend ignorierte Pro-Kernkraft-Film sollte also doch in einer deutschen Stadt auf der großen Leinwand zu sehen sein – das konnte das Atomhörnchen sich nicht entgehen lassen…
Unterwegs
Frühmorgens am 18. Februar huschte ich aus meinem Kobel in Jena und machte mich erwartungsvoll auf in Richtung Berlin. Genaugenommen lag eine Art Rundreise vor mir: Denn nach dem Film- und Diskussionsabend würde ich nicht direkt zurück nach Jena, sondern am darauffolgenden Tag nach Erfurt fahren, wo ich bei der „Lesebühne für junge Thüringer Autoren“ (LEA) aus meinem in der Entwicklung begriffenen Zukunftsroman „Projekt Kardaschow“ vorzulesen gedachte. Reisen würde ich mit Mitfahrgelegenheiten (mein Verhältnis zur Deutschen Bahn ist ein… angespanntes), übernachten in Berlin bei der Mutter eines Mit-Nukleiden. Sehr zufrieden mit meinen Reiseplanungskünsten verzehrte ich daher in einem Cafe ein Schnitzel mit Bratkartoffeln (ich hänge der Schule „Frühstücken wie ein Kaiser, zu Mittag essen wie Zeus, zu Abend essen wie Richard Branson“ an) und begab mich daraufhin zum Johannisplatz, wo mein Fahrer auf mich wartete.
Wir waren zu viert: Der Fahrer, neben ihm auf dem Schrotflintenplatz sein kleiner Sohn im Kindersitz, hinten eine junge Dame und meine Wenigkeit. Meine Reisetasche verstauten wir im Kofferraum und los ging’s: Durchs Nordviertel von Jena fuhren wir, über geschlängelte Landstraßen zur Autobahn. Was wir denn in Berlin vorhätten?, wollte unser Fahrer wissen. Die Dame neben mir erzählte, dass sie mit dem Zug weiter zu ihrer Familie die auf einem Dorf wohnte fahren wollte. Eine Filmpremiere!, sagte ich, nicht ohne Vorsicht. Zehn Uhr morgens ist nach meinem Geschmack deutlich zu früh für RL-Shitstürme.
„Bei der Berlinale?“ erkundigte sich der Fahrer. Nein, eine… Privatvorführung sei es, von einem in Deutschland ganz unbekannten Film über… den Klimawandel! (Sofern der Fahrer nicht zur Spezies der geifernden Klimawandelleugner gehörte, war ich nun im sicheren Bereich – hoffte ich.)
„Warum ist der Film denn in Deutschland unbekannt? Ich studiere nämlich Filmwissenschaft…“
Also gut, ich musste es wohl riskieren: Der Film „Pandora’s Promise“ käme zu der in Deutschland bekanntermaßen unpopulären Schlußfolgerung dass zum effektiven Klimaschutz flächendeckender Einsatz neuer Kernkraftwerke nötig sei.
„Wie sollen denn Kernkraftwerke das Klima schützen?“ erkundigte sich die Dame neben mir verständnislos, als hätte ich behauptet, dass Esel fliegen könnten.
Der Fahrer blaffte, im Ausland seien manche Leute der Auffassung, Kernkraftwerke seien gut für den Klimaschutz da sie ja kein Kohlendioxid emittierten, und dass man daher neue bauen solle, er jedoch sei völlig anderer Auffassung, da… nun, hier begann das altbekannte Sperrfeuer aus ökologistischer K———-e. Die Worte „unbeherrschbar“, „Super-GAU“ und „Atommüll“ schwebten durchs Innere des Wagens, der sich der Autobahnauffahrt näherte.
Wusstet ihr eigentlich, dass es keine exakte englische Entsprechung des deutschen Wortes „unbeherrschbar“ gibt? Als Übersetzung werden „unrulable“ oder „uncontrollable“ vorgeschlagen, doch diese Worte sind keine präzise Übertragung des Sinn- und Emotionsgehaltes. Entsprechend gibt es übrigens im Deutschen keine exakte Entsprechung der Worte „fair“ und „gentleman“. Doch anstatt einen Exkurs über gesellschaftliche Konsequenzen der Sapir-Whorf-Hypothese zu beginnen, möchte ich lieber mit meinem Reisebericht fortfahren.
Ich erklärte ein wenig die Probleme der Energieversorgung mittels Erneuerbaren, wies darauf hin, dass Onshore-Windkraft Nutzungsgrade von 20% oder weniger, Solarkraft in Deutschland von 11% aufweise und letztere zuweilen monatelang fast komplett brachliege, so wie im Winter 2012/13. Als unser Fahrer, der Filmstudent, mir zu erklären versuchte, was ein Nutzungsgrad sei, nahm das Ganze eine rasche Wendung ins Surreale.
Das Hörnchen wies den Goldfisch darauf hin, nicht unbedingt Kletterunterricht von diesem zu benötigen, und fuhr fort, einige Andeutungen über die Theorie der Techno-Urbanen Gesellschaft zu machen… „Ich kenne die Theorie!“ fauchte der Fahrer – insofern unwahrscheinlich, als da ich sie momentan entwickle und noch nicht in größerem Stil veröffentlicht habe… über die Techno-Urbane Gesellschaft und die Bedeutung konzentrierter Energiequellen und des Recyclings von Abfällen aller Art für diese, wobei zu beachten sei, dass das Recycling bestimmter Arten radiotoxischer Abfälle (nämlich der Transurane) aufgrund der enormen Stärke der Kernkraft mehr als genug Energie freisetze, um sowohl die produzierende Industrie wie auch das im Allgemeinen endotherm verlaufende Recycling der chemotoxischen Abfälle am Ende der Wertschöpfungskette zu unterstützen. Doch ich hatte den Eindruck, dass meine Mitreisenden nicht wirklich viel Interesse dafür aufbrachten. Wir fuhren auf die Autobahn. Ich versuchte noch ein paar Erklärungen bezüglich der nun mit hoher Regelmäßigkeit links und rechts vorbeiziehenden Wind- und Solarparks abzugeben, doch die Dame neben mir beschäftigte sich lieber mit ihrem Smartphone, das genug Lanthan enthielt, um die Produktion eines neuen Smartphones zu ermöglichen, wenn denn genug Energie zur Verfügung stünde um es zu recyceln nachdem die Inhaberin zu dem Schluß gekommen war, dass es nicht mehr aktuell genug sei. Unser Fahrer starrte reglos auf die Asphaltpiste.
Wir fegten nordwärts. Im Auto herrschte eine zutiefst sauertöpfische Stimmung, was eventuell darauf zurückzuführen war, dass Fahrer und Smartphonedame das Gefühl hatten, mit einem gemeingefährlichen Irren vom Kaliber eines Papa Doc im Wagen zu sitzen. Ich ließ mich nicht einsauertopfen, lehnte mich zurück und genoß die Fahrt. Windkraftanlagen und Solarparks, Einkaufszentren und Felder wechselten sich ab und wichen schließlich den Nadelwäldern, die Berlin außenherum umgeben. Wenig später wurde Papa Doc am Messegelände Süd abgesetzt, und ich kann mir lebhaft das Aufatmen vorstellen, das den Innenraum des Autos erfüllte, während ich mit großen wohlgemuten Schritten der U-Bahn-Station zustrebte.
Live aus Berlin
Die U-Bahn trug mich rasch zu Frau Dr. D. in Charlottenburg, bei deren Familie ich übernachten wollte. Diese Dame, eine rundherum sympathische Frau, besuchte ich in ihrer Kinderarztpraxis, wo sie und ihr Hündchen mich begrüßten und sie mir den Schlüssel zu ihrer auf rundherum sympathische Weise chaotischen Wohnung gab.
Wo ich schon in Berlin war, wollte ich nicht die ganze bis zur Filmvorführung am Abend verbleibende Zeit innerhäuslich herumsitzend verbringen. Ich packte einige Bücher – ich gehe nie irgendwo ohne Lesestoff hin! – in meinen Dichterbeutel und fuhr zum Alexanderplatz, an dem ich mich meist zuallererst orientiere wenn ich in Berlin bin.
Ich reflektierte darauf, mal wieder das Computerspielemuseum zu besuchen, doch ein am Bahnhof erstandener Stadtführer verriet mir, dass es heute geschlossen sei. Daher entschloss ich mich zu einem Ausflug ins Viertel Prenzlauer Berg, nördlich des Alexanderplatzes, wo es, dem Stadtführer zufolge, genug Cafes gäbe, in denen sich in aller Ruhe lesen ließe.
Ich konnte mich nicht recht entscheiden, ob ich den Prenzlauer Berg affektiert oder behaglich finden sollte. Einerseits hatten die breiten, ruhigen Straßen rund um den Kollwitzplatz etwas sehr anziehendes, hier verband sich die Ruhe einer ländlichen Gegend mit der Kultur der Großstadt, die sich in zahlreichen Cafes und Läden vom Kunstpostkarten-plus-Röhrenradio-Typus manifestierte. Andererseits war ich überrascht, in wie hohem Maße sich das Klischee „Hipster“ zuweilen in der Realität wiederfindet. Nicht nur dass ich einer überproportional hohen Anzahl von Leuten begegnete, die auf ihren Eingangrädern gerade mit umgehängter Spiegelreflexkamera vom Kurs „Gesellschaftskritische Fotografie für Einsteiger“ zu kommen schienen – es fand sich sogar ein Laden, der auf besagte Eingangräder spezialisiert war.
Ich vergentrifizierte mich in ein arabisches Lokal, das von einem Hund bewacht wurde, dessen quäkende Stimme und optisches Erscheinungsbild an ein kleines dickes Schaf erinnerten, trank Kaffee und las Bücher, bis es Zeit wurde für „Pandora’s Promise“.
VIP at the movies
Die Vorführung fand im CinemaxX am Potsdamer Platz statt. Auf dem Weg dorthin wettete ich mit mir selber, ob irgendwelche Kernkraftgegner davon Wind bekommen und sich trommelnd vor dem Kino postiert hätten. Doch dort stand nur ein unauffälliges Ankündigungsschild, ebenso wie die Einladung des Atomforums eher zurückhaltend gewesen war – kein offensichtlicher Link auf der Homepage, man musste schon die Adresse geschickt bekommen haben um das Anmeldeformular zu finden. Das war wohl eine vernünftige Entscheidung gewesen, zumindest insofern als dass von trommelnden Kernkraftgegnern weit und breit nichts zu sehen war.
In der Eingangshalle des Kinos zeigte ich einigen Menschen-mit-Funktion meine Anmeldebestätigung, und konnte daraufhin stolz wie Bolle (wer ist das eigentlich?) ein Schild mit der Aufschrift „Fabian Herrmann – Nuklearia e. V.“ am Revers meines Sakkos befestigen und solcherart ausgewiesen eine Treppe hinauf zur VIP-Lounge schreiten.
Während ich mich an Würstchen mit scharfer Sauce und Laugenbrötchen gütlich tat, belebte sich die Lounge. Vorwiegend Personen in formeller Garderobe, aber auch der eine oder die andere im Nerdzivil – T-Shirt und Schlabberhose – strömten herein. Was waren das wohl für Leute? Ich knüpfte einige Gespräche an.
„Bundestag“ verkündete das Namensschild eines an der Fensterfront sitzenden Herrn bezüglich seiner organisatorischen Zugehörigkeit. Nein, er sei nicht im Parlament, er arbeite nur dort! Mitglied in der SPD sei er allerdings – erklärte er mir. Ich erwähnte den Ursprung der Nuklearia in der Piratenpartei und fügte hinzu, dass ich an einer ähnlichen Arbeitsgemeinschaft in der Linken Interesse hätte. Der Sozialdemokrat wiegte den Kopf hin und her: „Das könnte schwierig werden!“ „Ja. Ich glaube allerdings, gehört zu haben, dass es innerhalb des Ostflügels der Linken noch einige Ältere geben könnten, die an Kerntechnik Interesse haben.“
Ein weiteres Nuklearia-Mtglied außer mir war vor Ort. Ferner traf ich den freundlichen Ingenieur P. und ergründete, dass die Schlabberhosenfraktion der Technikerstab einer Firma für Strahlendiagnostikgeräte sei. Ein lustiger, wenn auch etwas verloren erscheinender Amerikaner in bunter Kleidung erwies sich als der in Berlin lebende Kunstlehrer von Robert Stones Sohn: „Robert and me skype every day, and he told me, hey, why don’t you go see my movie?“ Der Kunstlehrer wirkte wie ein bunter Schmetterling zwischen lauter grauen Motten.
Allmählich begannen wir uns in Richtung Kinosaal zu bewegen! Ich fand es lustig, dass es auch bei einer derartig „formellen“ Vorführung typische Kinokost am Eingang gab – Popcorn und Tacos. Ich nahm im Halbdämmer des Saales Platz und begrüßte den Herrn zu meiner Linken, der sich als Physiklehrer erwies, eigentlich gegen die Kernkraft war, aber sich das Ganze dennoch interessehalber mal anschauen wollte.
Ein Moderator vom Atomforum hielt eine kurze Einführungsansprache auf Englisch. „Robert Stone has gone back to the hotel, he will arrive later for the discussion. He told me he knows the movie already, and I believe him. Now, enjoy the movie like you would any other film, with your popcorn and tacos, but after the end, do not leave like you normally would! Because then we will have a discussion between Robert Stone and Felix Matthes and you will have the opportunity to ask questions.“
Und dann wurde es, wie schon unzählige Male seit Anbeginn des Zeitalters der laufenden Bilder, dunkel! Der Film begann.
Es ist natürlich nicht möglich, hier den gesamten Film nachzuerzählen! Ihr solltet unbedingt eine Möglichkeit finden, ihn euch selbst anzusehen. Ich möchte jedoch einige Highlights erwähnen, die sich mir besonders eingeprägt haben:
- Robert Stone reist mit einem Geigerzähler um die Welt und vergleicht natürliche und künstliche Strahlenbelastungen: Der Wert am Strand von Guarapari ist hundertmal höher als in der Exklusionszone um das Kraftwerk Fukushima Daiichi. Die Badegäste tummeln sich fröhlich auf dem Monazitsand und lassen sich sogar in ihn eingraben, da dies angeblich gesund sein soll.
- Ein ukrainischer Pope, festlich in seinem goldenen Talar, erzählt: „Wir wohnen hier [in einem Dorf nahe dem zerstörten Kraftwerk Chernobyl] schon seit vielen Generationen! Am Tag des Reaktorunglücks kamen Uniformierte und sagten, wie müssten fort. Zum Schein sind wir mitgegangen, nachts kehrten wir jedoch heimlich durch den Wald zurück. Uns vertreibt nichts und niemand aus unserem Dorf! Wir haben hier keine Gesundheitsprobleme. Niemand hat Krebs.“
- Helen Caldicott wird gefragt, wie die Vereinten Nationen es fertigbrächten, eine riesige Verschwörung anzuzetteln, und aus einer Million Toten (laut Caldicott die Zahl der Opfer von Chernobyl) einige Tausend (die von Medizinern abgeschätzte Anzahl aller Personen, deren Leben aufgrund der freigesetzten Radiotoxizität in irgendeiner Form verkürzt wurde) zu machen. Caldicott druckst herum und weiß keine Antwort.
- Dr. Charles Till führt uns durch die EBR-II-Versuchsanlage! Wir sehen den Pyroprozessor und den Kontrollraum, einschließlich alter Filmaufnahmen der Experimente aus dem Jahr 1986, die die passive Sicherheit des EBR-II demonstrierten. Eindrucksvoll zu sehen, wie die Ingenieure die Kühlpumpen abschalten, das Alarmsignal losgellt, die Kerntemperatur jedoch nur einen minimalen Anstieg zeigt, bevor sie abzufallen beginnt und sich auf einem niedrigeren Niveau stabilisiert! Zum Schluss des Ausflugs nach Argonne West sehen wir Dr. Till, der im Sessel vor dem Hauptkontrollpult sitzt, die Hände an den Steuerelementen, so als würde EBR-II gleich wieder die Arbeit aufnehmen.
Ein spannender, informativer, wichtiger Film!
Was mich allerdings störte, waren zwei ältere Herren zu meiner Rechten, die befanden, währenddessen Waldorf und Statler spielen zu müssen. Bisher musste ich allenfalls Kinder und Jugendliche im Kino ermahnen, endlich still zu sein. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich noch nie zuvor einen älteren Menschen zu höflicherem Verhalten aufgefordert – es gibt für alles ein erstes Mal.
Nach dem Film erhob sich spontan Applaus. Kurz darauf erschien Robert Stone auf dem Podium vor der Leinwand, und auch Felix Matthes vom Öko-Institut stellte sich ein. Die beiden führten eine moderierte Diskussion, an der sich auch das Publikum mit Fragen beteiligen konnte.
Auch wenn ich Herrn Matthes Positionen nicht teile, muß ich doch sagen, dass ich es mutig von ihm finde, sich quasi in die „Höhle des Löwen“ zu begeben, d.h. in einen Raum voller Kernkraftfreunde. Anfangs hatte der Moderator gefragt, wer unter den Besuchern gegen Kernenergie sei, und nur einige wenige Hände hoben sich (darunter die des Lehrers zu meiner Linken). Auch der Moderator selbst stand, als Mitglied des Atomforums, auf der Pro-Seite.
Während der Diskussion brachte Herr Matthes immer wieder das Argument vor, ein Reaktorunfall habe so katastrophale Folgen, dass die gesamte Volkswirtschaft zusammenbräche, und der Einsatz von Kernkraftwerken sei daher ethisch nicht zu verantworten. Die bisherige Geschichte unterstützt diese Schlußkette jedoch eher nicht: Wir wissen von Three Mile Island her, was passiert, wenn bei einem Kernreaktor westlicher Bauart die Kühlung zusammenbricht – keine Toten, keine Verletzten, keine Schäden außerhalb des Kraftwerksgeländes, nur minimale Freisetzung von Radiotoxika; nichts, was irgendeine Volkswirtschaft in die Kniee zwingen würde. Auch Fukushima löste erst durch die psychologischen und politischen Reaktionen auf den Unfall bedenkliche Schäden aus, zum einen Tote und Verletzte durch die panische Evakuierung, zum anderen beträchtliche wirtschaftliche Probleme durch riesige Flüssiggasimporte nach Abschalten der japanischen Kernkraftwerke.
Weiterhin deutete Herr Matthes an, die Konzepte der Kernkraftbefürworter seien leere Versprechen aus vergangenen Jahrzehnten, die nie realisiert worden seien. Hierzu meldete ich mich zu Wort. Ich stellte mich als „German pro-nuclear blogger (yes, they do exist!)“ vor, und begann dann einige Gedanken, die mir im Kopf herumschwirrten, in Worte zu fassen.
Viele Leute scheinen zu denken – so erklärte ich – die Zukunft der Energieversorgung auf Kernkraft aufbauen zu wollen sei eine altmodische Idee aus den 1950ern, die sich zugunsten modernerer Konzepte wie Solar und Wind überlebt habe. Abgesehen davon, dass lokal – vor allem in Frankreich und Schweden – in der Tat billige Stromversorgung mit Kernkraft als Rückgrad realisiert wurde, ist die Idee der Solarenergienutzung keinesfalls moderner als die Kernkraft. Die der Photovoltaik zugrundeliegenden Effekte sind länger bekannt als die Kernspaltung, und schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Vorschläge zur solaren Energieversorgung diskutiert. Im Jahr 1950 veröffentlichte die New York Times den aus heutiger Sicht sehr lustigen Artikel „Miracles you’ll see in the next fifty years“. Nach Vorstellungen des Autors würden im Jahr 2000 zwar noch keine Astronauten auf dem Mond gelandet sein, aber die Energieversorgung auf der Erde vorwiegend auf Solarenergie beruhen – außer in den arktischen Regionen, wo Kernkraftwerke zum Einsatz kämen, mit Thorium als Energieträger, da bis dahin „das Uran ausgegangen sein werde“. (Noch heute wirbelt hin und wieder als Argument für Thoriumreaktoren die Behauptung durch den Raum, Uran werde bald verknappen. Wird es nicht.) Fernreisen im Jahr 2000 würde man meist mittels überschallschneller Raketenflugzeuge erledigen, und das Mittagessen werde aus Sägemehl synthetisiert.
An den Prognosen in dem Artikel hat sich natürlich NICHTS bewahrheitet (mit Ausnahme der TV-Shoppingkanäle). Insbesondere die Energieversorgung beruht zu Beginn des 21. Jahrhunderts keinesfalls auf Solarenergie sondern weltweit überwiegend auf fossilen Brennstoffen, immer noch wie im Jahr 1950. Auf Robert Stones‘ Frage hin, weshalb in Deutschland neue Kohlekraftwerke gebaut werden würden, wenn Wind- und Solarkraft denn so effizient seien, reagierte Felix Matthes übrigens ähnlich wie Helen Caldicott auf die Frage nach der WHO-Verschwörung: Er druckste herum und wusste keine Antwort.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts, erläuterte ich (nachdem ich auf den Einwurf des Moderators, ich solle versuchen mich etwas kürzer zu fassen und endlich meine „question“ vorbringen, erwidert hatte, es handle sich eigentlich nicht um eine „question“ sondern eher eine „remark“), sei der Traum von der postfossilen Energieversorgung immer wieder zwischen Kern- und Solarenergie hin- und hergependelt. Als gegen Ende der 1970er die Befürchtungen bezüglich Umweltschäden durch Fossilverbrennung konkreter wurden und die Ölkrise das öffentliche Bewußtsein dominierte, prognostizierten einige, schon in den 1990ern würde Solarenergie billiger als Öl, Gas und Kohle geworden sein. Dies trat nicht ein, die weltweite Vollversorgung aus postfossilen Quellen blieb eine Zukunftsvision. Um diese Vision endlich Realität werden zu lassen, so schloß ich meine „remark“, sei es doch sicher angemessen, die beiden „Gegenspieler“ Solar und Kernkraft eben nicht mehr als Gegenspieler aufzufassen, sondern alle postfossilen Quellen sollten sich vielmehr vereinen, um gemeinsam die fossilen Kohlenstoffgiganten zu besiegen. Hier nickte Robert Stone zustimmend.
Eine interessante Frage, die jemand aus dem Publikum Herrn Matthes stellte, war, welchen Anteil der deutschen Staatsfläche er zur Energieerzeugung aus Erneuerbaren nutzen wolle? Fünf Prozent, antwortete er, dies reiche zur kompletten Versorgung. Hat er recht?
Die Staatsfläche Deutschlands liegt bei 360.000 Quadratkilometern. Bedecken wir fünf Prozent davon mit Wind- oder Solarparks, deren Flussdichten wir optimistisch bei 5 W pro Quadratmeter ansetzen, so erhalten wir eine Leistung von:
[math]!P_{5\%} = 0.05 \, \cdot \, 3.6 \cdot 10^{11} \, \mathrm{m}^2 \, \cdot \, 5 \, \frac{\mathrm{W}}{\mathrm{m}^2} = 90 \, \mathrm{GW}[/math]
Dies entspricht in der Tat recht genau dem momentanen Strombedarf. Ob es realistisch ist, 5 Prozent unserer Landfläche mit Windparks zu bedecken und wo welche Speicheranlagen hinkommen, dies wurde in der Diskussion nicht aufgebracht, und ich möchte es auch an dieser Stelle nicht diskutieren, jedoch darauf hinweisen, dass wir bei weitem nicht nur Energie in Form von Elektrizität verbrauchen. Den größeren Anteil verbrauchen wir durch die direkte Verbrennung von Erdölprodukten in Motoren und Heizungen. Dieser Bedarf ist in Herrn Matthes fünf Prozent Landfläche nicht berücksichtigt – und das wäre auch kein Problem, wenn er Kernreaktoren mit hoher Betriebstemperatur zur Erzeugung von Synfuel in sein Portfolio mit aufnehmen würde!
Doch Herr Matthes blieb steif und fest bei seinen ausschließlich auf klassischen Erneuerbaren beruhenden Konzepten. Robert Stone fand hierzu ein gutes Schlusswort: Selbst wenn es denn Deutschland irgendwie gelänge, seinen Energiebedarf ausschließlich aus Erneuerbaren zu stillen, so bleibe doch der Rest der Welt äußerst energiehungrig, vor allem die Länder in Afrika, die dringend Energiequellen zur Armutsbekämpfung benötigten. Um postfossile Energie in der benötigten Menge heranzuschaffen, werde man um Kernkraftwerke der vierten Generation wohl kaum herumkommen.
Zurück in der VIP-Lounge zückte ich ein Bier und gönnte mir einige weitere Würstchen mit scharfer Sauce. Film und Diskussion hatten mich hungrig gemacht, wir alle waren zugleich erschöpft und aufgekratzt. Was für ein Erlebnis! Ich unterhielt mich noch ein wenig mit dem freundlichen Ingenieur P. und kam spontan auf den Einfall, ihm ein wenig von dem Text, den ich am darauffolgenden Tag bei LEA präsentieren wollte, vorzulesen. Er hörte aufmerksam zu: „Sehr bildhafte Sprache!“ In der Tat habe ich eine sehr visuelle Vorstellung, vieles, was ich mir ausdenke, erscheint in meinem Kopf zunächst als eine Art… Film.
An einem Tisch entdeckte ich Mr. Stone. Diese Veranstaltung würde ich nicht verlassen, ohne mit dem „Big Man“ einige Worte gewechselt zu haben! Ich stellte mich in seinen Dunstkreis, bis er mich bemerkte, und wir unterhielten uns über die Einstellungen zur Kernenergie in verschiedenen Ländern. „Ich have never seen a country which is as rabidly anti-nuclear as Germany“, konstatierte Robert Stone. „It is probably one of the most anti-nuclear countries in the world.“
In Großbritannien dagegen gäbe es zwar einerseits einige Kernkraftgegner, andererseits aber auch eine Anzahl von Befürwortern – während die breite Mehrheit der Bevölkerung weitgehend indifferent sei: Dies erklärten mir einige britische Kerntechniker und eine Kerntechnikerin, die aus anderen Gründen in Deutschland waren und beschlossen hatten, sich bei dieser Gelegenheit den Film anzusehen. Ja, ein nicht zu vernachlässigendes Problem sei der alte Affe „German Angst“, sagte ich.
Was ich denn genau zu erreichen versuche, im Rahmen der Nuklearia oder auch außerhalb – das wollten sowohl die Briten wie auch Ingenieur P. wissen. Was meine Ziele seien?
Dark sarcasm in the classroom…
Vor vielen Jahren, früher auf dem Gymnasium, behandelten wir „Das Leben des Galilei“ von Bert Brecht und diskutierten in der Klasse über den Dialog zwischen Galilei und dem kleinen Mönch (Szene 8). Es schockierte, ja empörte mich, dass sowohl fast alle Schüler wie auch – was ich am schlimmsten fand – der Lehrer sich auf die Position des Mönches stellten: „Mir ist es gelungen in die Weisheit des Dekrets einzudringen. Es hat mir die Gefahren ausgedeckt, die ein allzu hemmungsloses Forschen für die Menschheit in sich birgt, und habe beschlossen, der Astronomie zu entsagen. … Was würden [die Campagnabauern] sagen, wenn sie von mir erführen, dass sie sich auf einem kleinen Steinklumpen befinden, der sich unaufhörlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestirn bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender! Wozu ist jetzt noch solche Geduld, solches Einverständnis in ihr Elend nötig oder gut? … Kein Sinn liegt in unserem Elend, Hunger ist eben Nichtgegegessenhaben, keine Kraftprobe; Anstrengung ist eben Sichbücken und Schleppen, kein Verdienst. Verstehen Sie da, dass ich aus dem Dekret der Heiligen Kongregation ein edles mütterliches Mitleid, eine große Seelengüte herauslese?“
Das vermochten die meisten in meiner Schulklasse nachzuvollziehen: Wissen und Lernen waren doch sowieso unnötig anstrengend, um wieviel besser hatten es da zum Beispiel Menschen in Afrika, die den ganzen Tag über nur auf einem Balken hin- und herzulaufen brauchten, um eine Wasserpumpe zu bedienen. Unwissen machte glücklich, zuviele Zusammenhänge zu kennen verwirrte nur das Herz! Mein Einwand, anstatt die Menschen in Unwissenheit zu halten, damit sie ihr Los willig ertrügen, sei es doch vielmehr angemessen, ihre Situation zu bessern, mehr Gerechtigkeit und Wohlstand zu erschaffen. Doch dies ließ man nicht gelten: Die Welt gerechter zu gestalten, damit seien doch schon die Ostblockstaaten gescheitert, es liege in der Natur des Menschen, dass es immer Reiche und Arme, Herrscher und Beherrschte, geben müsse.
Ihr seht nun, dass ich eine gewisse Erfahrung darin habe, Minderheitenpositionen gegen eine zahlenmäßig überwältigende Mehrheit zu verteidigen. Besonders wichtig ist mir dabei, einen Kontrapunkt zu dem allgemein – mir scheint jedoch vor allem in Deutschland! – herrschenden Zynismus und Pessimismus zu setzen. Die momentan vorherrschende Haltung („Die Menschheit kann ihre Probleme nicht lösen! Wir können uns nur noch zurückentwickeln – Wissenschaft und Technologie haben viel mehr Schaden als Gutes gebracht“) sollte durch eine menschenfreundliche, optimistische Grundeinstellung abgelöst werden. Das sagte ich auch Ingenieur P. und den Engländern: Mein Ziel sei, den Menschen Alternativen zum heute modischen „Geht-sowieso-nicht“ aufzuzeigen! Da war der Schmied, bei dem der spätere Bilderbuchautor Janosch in die Lehre ging, schon viel weiter: „Man brachte mir den wichtigsten Satz meines Lebens bei: ‚Es gibt nichts, was nicht geht!'“
Pessimismus ist nicht alternativlos
Die Kernenergie ist für mich dabei quasi nur ein Mosaiksteinchen. Wenn Kernenergiebefürworter sagen: „Die Solarenergie ist eine sinnlose Modeerscheinung des grünen Zeitgeistes! Nie wird sie nennenswert zur Energieversorgung beitragen!“ – dann finde ich das genauso problematisch wie wenn Grüne behaupten: „Der Schnelle Brüter ist eine gescheiterte Technologie, nie wird er in großem Umfang eingesetzt werden und er ist auch viel zu gefährlich!“ Ich sehe in der Kernenergie, vor allem in Reaktoren mit schnellem Neutronenspektrum, viel Zukunftspotential – aber auch in der Solarenergie! Projekte wie Lieberose, bei denen ein paar Solarpanels in Deutschland auf die Wiese oder auf Dächer gestellt werden, sind zwar aufgrund des niedrigen Nutzungsgrades und Gesamtertrages eher mitleiderregend…
„…aber man kann es doch weiterentwickeln, verbessern!“ rief die Hippiedame, die mich am nächsten Tag von Berlin nach Erfurt chauffierte.
„Ja. Wie es in dem Schlager von Reynhard Mey heißt: ‚Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein‘ – wenn wir die Solarenergie nutzen wollen, ohne dass das Wetter oder die Erde selbst im Weg ist, müssen wir hoch hinaus und Solarstationen im Weltall konstruieren, die die Energie mit Mikrowellen zur Erde schicken. Natürlich geht das nicht gut mit chemischen Trägerraketen wie wir sie heute nutzen. Elektromagnetische Katapulte, die täglich tausende Tonnen Nutzlast ins Erdorbit transportieren können, sind eine für Weltraumsolarkraftwerke dringend benötigte Zusatztechnologie.“
„Phantastisch! Unglaublich, was es alles für Möglichkeiten gibt. Schnelle Kernreaktoren zum Atommüll-Recycling und Solarkraftwerke im All!“
In grauer, kühler Morgenfrühe hatte ich am Mittwoch mein Lager in Berlin abgebrochen, um nach Erfurt zum Thüringer Dichtertreffen LEA zu fahren. Familie D. war noch nicht wach, nur der Minihund kam angetrippelt und schnupperte an meinem Bein. Ich kraulte ihn zum Abschied hinter den Ohren. Auf den Eingangsstufen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz träumte ich von Sahra Wagenknecht und wartete auf meine Mitfahrgelegenheit.
Ein mit bunten Klecksen bemalter Kastenwagen rollte heran. Auf dem Beifahrersitz saß ein Mädchen, das auf einer Ukulele herumklimperte, am Steuer eine Dame, etwas älter als ich, die mit ihrer Tochter – denn um diese handelte es sich bei der recht schüchternen, stillen Ukulelenbesitzerin – in einer ländlichen, sehr ökologischen und alternativen Kommune in der Nähe von Erfurt wohnte. Musikerin sei sie, erzählte sie, sie spiele Geige und Akkordeon im Bereich Folk.
Ich staunte, denn ich hatte bislang gedacht, in Kommunen lebende musizierende Hippies seien Ende der Siebzigerjahre durch klimatische Veränderungen nach einem Asteroideneinschlag ausgestorben. Zwar erweckten die Begriffe „ökologisch“ und „nachhaltig“, die die Dame öfters im Zusammenhang mit ihrer Kommune nannte, gemischte Gefühle bei mir, aber dennoch fühlte ich mich in dem Kastenwagen außerordentlich wohl. Sei es, dass meine Psyche sehr -delisch ist, sei es, dass die beiden Frauen ein intensives Flauschfeld erzeugten – mir war sofort klar, dass die Rückfahrt die mürrische Hinfahrt mehr als wett machen würde.
Über kurz oder lang kamen wir darauf zu sprechen, was ich in Berlin so getrieben habe. Eine Filmpremiere, interessant – um welchen Film es sich denn gehandelt habe? Diesmal wollte ich etwas behutsamer vorgehen und die beiden nicht gleich ins kalte Kühlwasser werfen.
„Pandora aus der griechischen Mythologie fand, was viele nicht wissen, am Boden ihrer Büchse die Hoffnung! Die Grundidee des Films ist, dass die Menschen ihre Probleme lösen können und ihre Technologie nicht zur Zerstörung einsetzen werden sondern um sich selbst und die Umwelt zu schützen.“
„Wunderbar, genau! Das denke ich auch, ich glaube dass sich die Menschheit weiterentwickeln wird.“
Wieder zogen links Windparks, rechts Solarparks, rechts Windparks, links Solarparks vorüber. Ich sagte: „Wir haben heute allerlei Probleme, z. B. Energieknappheit und toxische Abfälle. Viele machen sich besonders viele Sorgen wegen der radiotoxischen Abfälle aus Kernkraftwerken. Aber auch Windkraftanlagen erzeugen Giftmüll, vor allem bei der Produktion der Neodymmagnete. Doch wir brauchen nicht ewig auf Giftstoffen sitzen zu bleiben, wenn wir das Prinzip des Recyclings auf alle Materialströme ausweiten. Leider verschlingt das Recycling der meisten Abfälle recht viel Energie. Doch es gibt auch Abfallarten, deren Recycling Energie freisetzt. Manche davon erzeugen sogar einen so großen Energieüberschuss, dass sowohl genug zum Recycling anderer Abfälle wie auch zur Versorgung der Zivilisation zur Verfügung steht.“
Ich schilderte, wie der Integrierte Brutreaktor bestrahlte Brennelemente aus Kernkraftwerken zu recyceln vermag, und wie ein Teil der so erzeugten Energie Plasmakonverter antreiben kann, mit denen sich sonstige Abfälle, vom Hausmüll bis hin zum Cadmiumschlamm aus Solarzellenfabriken, in ihre Bestandteile zerlegen und wieder der Wertschöpfungskette zuführen lassen.
Wie es mit Unfällen und Angriffen von Terroristen aussähe?, wollte meine blumige Chauffeurin wissen.
„Alle Reaktorunfälle sind bisher sehr glimpflich verlaufen: Three Mile Island – keine Toten, keine Verletzten, kaum Radiotoxinfreisetzung. Fukushima – keine Toten, keine Verletzten, schwache Radiotoxinfreisetzung. Selbst Chernobyl, der schwerste Reaktorunfall, forderte vermutlich nicht mehr als 4000 Tote (weniger als ein Prozent der jährlichen Sterberate durch Kohlekraftwerke). Im Film war ein Dorf zu sehen, dessen Bewohner sich den Anordnungen der Sowjetbehörden heimlich wiedersetzten und in die Evakuierungszone zurückkehrten; sie bemerken keine erhöhten Krebsraten oder Gesundheitsprobleme. Ein modern gebauter Reaktor jedoch würde selbst bei Versagen aller Pumpen und aktiven Sicherheitssysteme nicht überhitzen, da er sich durch Konvektion selbsttätig kühlen kann.“
Und Terroristen? Ich hielte – so sagte ich – gar nichts von der vor allem von konservativen Politikerinnen und Politikern angeheizten und als Begründung für allerlei Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen herangezogenen Panik vor Al Qaida und ähnlichen Organisationen. Würden Terroristen wirklich versuchen, ein Kernkraftwerk anzugreifen, so hätten sie es ziemlich schwer. Reaktorkuppeln sind extrem massiv und mit einem simplen Sprenggürtel oder einer Autobombe nicht ohne weiteres zu knacken. Der Integrierte Brutreaktor ließe sich sogar ein Form kleiner Module bauen, die tief im Boden versenkt werden und allen Angriffen bis auf solche mit sehr raffinierten Grabsprengköpfen standhalten.
Die Hippiedame am Steuer nickte bedächtig: „Absolute Sicherheit gibt es wohl nicht, wenn man mit technischen Apparaten lebt sind immer auch irgendwelche Unfälle möglich. Aber bei richtig gemachter Technik ist das Risiko, dass jemand zu Schaden kommt, wohl sehr sehr gering.“
Wir erreichten Erfurt in gehobener Stimmung. Am Ortseingang bemerkte ich erfreut, dass die Dichterlesung LEA auf einer elektronischen Tafel angekündigt war.
„Viel Erfolg bei deiner Lesung! Es war sehr interessant, dich kennenzulernen!“ Mutter und Tochter Hippie setzten mich am Bahnhof ab. Wir trennten uns voller Sympathie, sie fuhren davon zu ihrer Kommune und ich bereitete mich mental auf LEA vor.
Projekt Kardaschow
Woran liegt es, dass man bei Hippies viel mehr Offenheit für technikpositives Denken findet als bei irgendwelchen (klein-)bürgerlichen Grünen, die ihr Gewissen bezüglich der dicken BMW-Limousine mit ein paar Solarzellen auf dem Dach der Reihenhaushälfte beruhigen? Es ist sicherlich eine Frage der Mentalität. Hippies haben eben eine positive Grundeinstellung bezüglich des Lebens und der Menschheit. Dies ist heutzutage leider selten geworden. Bei LEA fiel mir, ähnlich wie schon bei anderen Dichtertreffen auf denen ich meine Arbeit vorstellte, auf, dass die meisten Texte, die junge Autoren schreiben, düster und zynisch sind – das Versagen von Menschen, das moralische und persönliche Scheitern steht im Vordergrund. Das ist nicht verblüffend, wenn man bedenkt, dass, zumindest meiner Erfahrung nach, Zynismus bereits den Schülern auf dem Gymnasium eingepflanzt wird. Mit meinem Zukunftsroman „Projekt Kardaschow“ möchte ich dieser Tendenz entgegenwirken. Mein Ziel ist, eine neue Literaturform zu erschaffen, deren Grundstimmung der Musik des Psytrance-Künstlers Talamasca ähnelt: Uplifting!
Bei „Projekt Kardaschow“ handelt es sich nicht um klassische Science Fiction im Stil von Asimov oder Heinlein, sondern eher um eine Art surrealistischen Traum über Science-Fiction-Motive. Unter anderem kombiniere ich Ideen der wissenschaftlichen Phantastik, wie sie in den Ostblockstaaten existierte (Stanislaw Lem, Arkadi und Boris Strugatzki) mit Elementen der westlichen Postmoderne: Thomas Pynchon, Günter Grass, Alfred Döblin und Arno Schmidt. Auch mit dem Film „Inception“ wurde meine Arbeit bereits verglichen.
Mein Text fand bei LEA sehr positive Resonanz. Er sei sprachlich schön, und ihr gefalle, wie in der Geschichte die Tiere mit den Menschen kommunizieren, sagte eine Dame.
An dieser Stelle endet Atomhörnchens Roadtrip! Nach der Lesung fuhr ich mit dem (selbstverständlich stark verspäteten) Zug heim nach Jena.
Hier könnt ihr den Auszug aus „Projekt Kardschow“ als .pdf herunterladen (doch Vorsicht – Bloom-Molly-Zone ~ Text mit erotischen Motiven):
Der Auszug ist die Schlusspassage eines Kapitels, das in einer parallelen Realität spielt. Wer aufmerksam liest, und ein wenig um die Ecke denkt, wird einige Zusammenhänge mit „Pandora’s Promise“ entdecken!