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Tschernobyl: Fakes und Fakten
Tschernobyl: Fakes und Fakten
Veröffentlicht am 2017-04-25
Von Rainer Klute
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Von Dr. Anna Veronika Wendland

Riesenrad in Pripjat

Wie in jedem Jahr, so wird auch dieses Jahr am 31. Gedenktag des schwersten Unfalls in der Geschichte der zivilen Kerntechnik mit Opferzahlen im Hunderttausender-, gar Millionen-Bereich »argumentiert« werden. Ich teile daher in diesem Beitrag eine Auflistung der dokumentierten Opfer des Tschernobyl-Unglücks aus seriösen Quellen – mit Dank an Hans Ambos für die Zusammenstellung.

Bei aller Tragik – und ich weiß aufgrund meines ukrainischen Familienkontextes wirklich, wovon ich spreche – geben die quellenbasierten Fakten einen Hinweis darauf, dass Tschernobyl historisch als großer Industrieunfall einzuordnen ist. Als Weltkatastrophe jedoch wurde es vor allem diskursiv produziert. An dieser Chernobyl industry wiederum hatten und haben deutsche Sinnproduzenten und Interessengruppen aus der gutmeinenden Ecke einen nicht geringen Anteil.

Man hätte über die 31 Jahre das viele Geld, das man zur Mobilisierung gegen die Kernenergie zum Fenster hinausgeschmissen hat – auch in der Ukraine, wo dies nicht recht gelang – in den Aufbau sinnvoller sozialmedizinischer Programme für die Betroffenen vor Ort stecken können. Das gilt auch für die gigantischen Anstrengungen der sogenannten Tschernobyl-Kinder-Initiativen, die annahmen, man müsse die ukrainischen und belarussischen Kinder nur einmal drei Wochen aus ihrer »verstrahlten« Umgebung in den goldenen Westen bringen, um ihnen nachhaltig etwas Gutes zu tun. Ich war bei einer solchen Initiative 1991 als Dolmetscherin (und Noch-Atomgegnerin) dabei und kam gleichwohl bereits damals zu dem Schluss, dass die Kinder infolge des Umgebungs- und Sprachwechsels und des irrsinnigen Konsumversprechens, das ihnen die Gastgeberfamilien der westdeutschen Provinz vorführten, total überfordert und gestresst waren.

Denkmal vor dem havarierten Reaktorblock 4 im Kernkraftwerk Tschernobyl

Etliche Initiativen, deren Vorkämpfer ohne Zweifel in gutem Glauben handelten und persönlich hochintegre Menschen sind, haben ihre Aktivitäten daraufhin in die betroffenen Länder verlegt, gleichwohl ideologisch überwölbt von der Mission, die Menschen vor Ort auf die obligatorische deutsche Atomkraft-nein-danke-Linie zu bringen. Die Idee, dass eine mögliche Antwort auf Tschernobyl auch ein Engagement für eine bessere und sichere Kerntechnik sein könnte, wurde zur Diskussion nicht zugelassen. Dieses und viele andere Erlebnisse haben mich in dieser Zeit zur Atom-Renegatin gemacht.

»Mörderisches Atom«: Spiegel vom 5. Mai 1986

Hätte man in der Ukraine und Belarus nach 1986 die Mittel gehabt, die Menschen in ihrer Heimat medizinisch zu versorgen und Grundnahrungsmittel der in den agrarischen Regionen um den Unfallort ansässigen Selbstversorger zu substituieren, hätte das viele Zehntausende Menschen vor der Evakuierung bewahrt. Nach den heutigen Erkenntnissen der Strahlenbiologie, die hierzulande immer noch als Tabubruch behandelt werden, ist unterhalb einer Expositionsschwelle von 100 Millisievert pro Jahr keine gesundheitliche Beeinträchtigung zu erwarten, die statistisch vor dem Rauschen der üblichen Erkrankungsraten nachweisbar wäre. Die Evakuierung, welche die Erstursache für stressinduzierte Erkrankungen war, ist somit auch im Fall Tschernobyls in vielen »Zonen« eigentlich gar nicht indiziert. Doch der Mythos vom »mörderischen Atom« (Spiegel-Titel vom 5. Mai 1986) ist stärker: It’s the culture, stupid.

Die Faktenlage nach Quellen – UNSCEAR, IAEA, WHO, BfS

Bundesamt für Strahlenschutz:

Akute Strahlenschäden

Werksangehörige und Feuerwehrleute

  • 2 Personen starben unmittelbar aufgrund schwerer Verletzungen und Verbrennungen aufgrund der Explosion des Reaktors.
  • 134 Werksangehörige und Feuerwehrleute erlitten ein akutes Strahlensyndrom.
  • 47 Werksangehörige und Feuerwehrleute verstarben.
  • 28 Personen von diesen 47 starben innerhalb weniger Tage oder Wochen nach dem Unfall.
  • Weitere 19 Personen starben in den Folgejahren (1987 – 2004). Die Todesursache kann aber nicht eindeutig auf die Strahlenexposition zurückgeführt werden.
  • Einige Personen erhielten durch Betastrahlung hohe Hautdosen von bis zu 500 Gray. Diese verursachten schwere Verbrennungen und erschwerten die medizinische Behandlung zusätzlich.
  • Nur zwei von 13 von Personen, die eine Knochenmarktransplantation erhielten, hatten überlebt. 11 von 47 sind unter den Verstorbenen.
  • Die 87 Personen mit akutem Strahlensyndrom, die überlebt haben, leben größtenteils heute noch und sind zwischen 60 und 80 Jahre alt.

Liste der Opfer und Überlebenden “Individual involvement in the Chernobyl disaster”

  • Z.B.: Chemie-Laborleiter Pjotr Palamarchuk und Kraftwerksingenieur Alexej Breus überlebten 8 Sievert.
  • Entgegen anderslautenden Berichten (Prof. Dr. Lesch) sind Alexei Michailowitsch Ananenko, Boris Alexandrowitsch Baranow und Valeri Bespalov, die Ventile öffneten, um den Wasserabfluss aus dem unteren Reaktorbereich zu ermöglichen, und flüssigen Stickstoff zur Kühlung einbrachten, nicht im Verlauf des Unglücks ums Leben gekommen.
  • Baranov starb 2005 im Alter von 65 Jahren ohne dokumentierten Zusammenhang zur Nuklearkatastrophe.
  • Die Angler Pustavoit und Protasov erhielten Dosen von ca. 4 Sv und überlebten.

Bevölkerung

  • In der Bevölkerung wurden nach den vorliegenden Berichten keine akuten Strahlenschäden beobachtet.

Schilddrüsenkrebs

  • 1991 bis 2005 rund 6.900 Schilddrüsenkrebserkrankungen: 9 Todesfälle

Andere Tumoren

  • Für Tumorerkrankungen an anderen Organen, wie z.B. Brustkrebs bei Frauen, liegen bisher nur onkologische Studien vor. Diese Untersuchungen gelten als weniger aussagekräftig.

Leukämien

  • Es gibt Hinweise auf erhöhte Leukämieraten bei Liquidatoren. Ab einer Dosis von 150 Millisievert wurde eine signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehung beobachtet.
  • Dagegen zeigen die bislang veröffentlichten Daten keine erhöhte Leukämierate bei Personen, die als Ungeborene im Mutterleib oder als Kinder exponiert waren.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Katarakte

  • Für Liquidatoren, die eine Strahlenexposition von über 150 Millisievert erhalten hatten, wurde in einer Studie eine Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen festgestellt. Des Weiteren zeigt sich bei den Liquidatoren ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Exposition und dem Risiko, an einem Katarakt (Trübung der Augenlinse, Grauer Star) zu erkranken.

Andere Folgen

  • In der am meisten betroffenen Bevölkerung zeigten sich vermehrt Stresssymptome, Depressionen, allgemeine Angstzustände und medizinisch nicht erklärbare körperliche Krankheitssymptome. Diese Erkrankungen sind als mittelbare Folge des Reaktorunfalls zu werten, nicht aber als direkte Folge der Strahlenbelastung. Hierzu beigetragen haben auch die unzureichende Information über die Vorgänge in und um Tschernobyl, die Art und Weise der Kommunikation, der Zusammenbruch der Sowjetunion sowie die allgemeine Verschlechterung der gesellschaftlichen und ökonomischen Situation.

UNSCEAR:

  • Malcolm Crick, Generalsekretär von UNSCEAR am 14. März 2005 in Wien, wo die Eckdaten des Berichts vorgestellt wurden.
  • Datenbasis: mehr als 530.000 Personen

Durchschnittliche effektive Dosis

  • 120 mSv (von 10 mSv bis 1.000 mSv) für die 530.000 Arbeiter und Nothelfer (»Liquidatoren«).
  • Max. 30 mSv für 115.000 evakuierte Personen.
  • Max. 9 mSv während der ersten zwei Jahrzehnte für diejenigen Menschen, die in den kontaminierten Gebieten weitergelebt haben.
  • Unter 1 mSv im ersten Jahr nach dem Unglück für die europäischen Länder der nördlichen Hemisphäre und graduell abnehmend in den Folgejahren.
  • Nachweislich hat bei den weißrussischen Kindern nur der Schilddrüsenkrebs zugenommen. Er sei etwa 30-mal häufiger als vor dem Unglück. Die UNSCEAR kann nicht nachweisen, dass die Patienten als direkte Folge von Tschernobyl erkrankt seien.
  • Für die UN-Kommission steht fest, dass von den 134 Menschen, die zum Zeitpunkt der Explosion im Atomkraftwerk beschäftigt waren, 28 innerhalb der ersten drei Monate an den Akutfolgen der Strahlenbelastung gestorben sind. Sie gehörten zu den 600 Arbeitern, die sich am Tag nach der Explosion auf dem Reaktorgelände befunden hatten.
  • Weitere 106 entwickelten eine akute Strahlenkrankheit und mussten über Jahre wegen Verbrennungen, Infektionen und Hauttransplantationen behandelt werden.
  • Bis 2006 starben aus ihrem Kreis 19 Personen, allerdings »aus unterschiedlichen, nicht unbedingt durch die Strahlung verursachten Ursachen«, heißt es in dem Bericht.
  • Bei den 530.000 Liquidatoren gebe es Hinweise auf »leicht erhöhte Raten« an Leukämie und Katarakten.
  • Es ist bekannt, dass Trübungen der Augenlinse durch relativ niedrige Strahlendosen verursacht werden. Darüber hinaus habe man keine Belege für strahlenbedingte Gesundheitsbeeinträchtigungen gefunden, bilanziert das UN-Komitee.
  • Weitgehend unerforscht sei auch die Auswirkung von Radioaktivität auf die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

IAEO (IAEA) / WHO:

  • Weniger als 50 Tote bis Mitte 2005
  • Ca. 2000 Fälle von Schilddrüsenkrebs v. a. bei Kindern und Jugendlichen; davon bis jetzt 9 Todesfälle.
  • Kein Beweis für den Anstieg von Fehlbildungen und Unfruchtbarkeit oder von Leukämie und anderen Krebsarten in Zusammenhang mit dem Reaktorunfall.
    Insgesamt werden möglicherweise zukünftig bis zu 4.000 Menschen infolge des Reaktorunfalls sterben.
  • Die Akte Tschernobyl kann geschlossen werden: Armut, ungesunde Lebensweise und psychische Krankheiten stellen ein viel größeres Problem dar als die Strahlenbelastung.

Gedenkstätte in Kiew für die Todesopfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl

  • Hier sind Personen benannt, deren Tod unmittelbar durch die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl verursacht wurde.
  • Von diesen starben
    • 2 durch die Explosion,
    • 4 bei einem einzelnen Hubschrauberabsturz,
    • 41 an akuter Strahlenkrankheit und
    • 3 durch medizinische Komplikationen, die als Spätfolge des Unfalls angesehen werden.
  • Unter den Todesopfern befanden sich:
    • 1 Kameramann,
    • 1 Arzt,
    • 7 Feuerwehrmänner,
    • 2 Aufsichtsorgane sowie
    • 30 Angehörige des Kraftwerkspersonals.
  • Nach dem Unfall starben
    • 1 Person am Kraftwerksgelände an einer Herzthrombose,
    • 15 Kinder an Schilddrüsenkrebs

Weitere Beiträge zum Thema Tschernobyl


Dr. Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Historikerin mit einem Forschungsschwerpunkt in der Geschichte der Kerntechnik. Sie publiziert zur Geschichte von Atomstädten und nuklearen Sicherheitskulturen in Ost- und Westeuropa, unter anderem im Zusammenhang des transregionalen Sonderforschungsbereiches SFB-TR138 »Dynamiken der Sicherheit« der Universitäten Marburg und Gießen sowie des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Im SFB geht es um Versicherheitlichungsprozesse von der Antike bis zur Jetztzeit. Im Kontext ihrer Projekte hat Dr. Wendland mehrere Jahre lang über längere Zeiträume als “participant observer” in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland gearbeitet. Sie ist Vorstandsmitglied des Nuklearia e. V.


Fotos: Dr. Wilfried Jacobi, mit freundlicher Genehmigung

Kategorien
Tschernobyl
Michael sagt:

Könnt ihr im Artikel bitte noch Quellenangaben hinzufügen?

Rainer Klute sagt:

Quellen sind doch angegeben – okay, halt nicht als Links.

Michael Vogt sagt:

In der FB-Gruppe “Energiewirschaft Deutschland” wurde ein Foto von einem mißgebildeten Kind gepostet, mit der der Behauptung das es sich um ein “Tschernobyl-Opfer” handelt.
Mich würde interessieren, ob es sich dabei um Fake Foto handelt?

https://www.facebook.com/groups/energiewirtschaftdeutschland/permalink/1162327283951729/?comment_id=1162921237225667&reply_comment_id=1163291590521965&comment_tracking=%7B%22tn%22%3A%22R%22%7D

Rainer Klute sagt:

Es ist natürlich sehr einfach, irgendein Foto herzunehmen und das »Tschernobyl«-Etikett draufzukleben. Ja, das kann er, der Jürgen Haar! Er weiß, dass Bilder unmittelbar Emotionen auslösen und Betrachter sofort gegen die »böse Atomenergie« einnehmen. Ob das Bild überhaupt mit Tschernobyl oder mit Strahlung zu hat, bleibt völlig ungeprüft und ist ihm auch egal.

In diesem Fall und in manchen anderen, die man auf angeblichen Tschernobyl-Fotos sieht, könnte es sich um Elephantiasis handeln, ausgelöst z.B. durch Infektionen. https://de.wikipedia.org/wiki/Elephantiasis

Wanderer sagt:

Hallöchen,

ich würde zum Thema Tschernobyl gerne eine Frage los werden und würde mich auch über eine Antwort freuen.

Ich möchte gerne wissen, ob ein Rückbau des havarierten Reaktorblocks 4 des KKW Tschernobyl geplant ist?

R. Albrecht sagt:

…nur s i n d die Desinformatoren mit Staatsknete überversorgt.

R. Albrecht sagt:

Versachlichung tunt not, nur sich die Desinformatoren mit Staatsknete überversorgt. Dagegen hilft nur: anders wählen.

Dr. Michael Stiehl sagt:

Vielen Dank für diesen sachlichen Artikel, der es mir erspart, die umfangreichen Quellen selbst zu durchforsten. Ich habe mich schon lange gefragt, woher die exorbitanten Opferzahlen kommen, die immer wieder für Tschenobyl und Fukushima kolportiert werden. Interessant wäre noch zu vergleichen, wieviele Menschen seit 1086 in russischen und ukrainischen Kohlebergwerken und Kohlekraftwerken umgekommen sind? Wahrscheinlich deutlich mehr.

Peter Weigl sagt:

Der englische Guardian Autor und Umweltschützer George Monbiot hat 2011einen ähnlich überzeugenden Artikel wie diesen veröffentlicht. Wenn soviel Englisch drin ist, sehr empfehlenswerte Lektüre:
“The unpalatable truth is that the anti-nuclear lobby has misled us all”
https://www.theguardian.com/commentisfree/2011/apr/05/anti-nuclear-lobby-misled-world
Er beginnt: “Over the last fortnight I’ve made a deeply troubling discovery. The anti-nuclear movement to which I once belonged has misled the world about the impacts of radiation on human health. The claims we have made are ungrounded in science, unsupportable when challenged, and wildly wrong. We have done other people, and ourselves, a terrible disservice….”

So kann man also zusammenfassend für Tschernobyl und Fukushima sagen, dass das grösste gesundheitliche Problem für die Bevölkerung auf die massive Falschinformation der Behörden, die Panikmache der NGOs und die Übertreibungen der Medien zurückgeführt wurden kann. Strahlenschäden spielten bei beiden Unfällen eine im Verhältnis zum Gesamtschaden eher untergeordnete Rolle.