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Geschichtsschreibung von oben: 40 Jahre Schlacht um das AKW Grohnde

Von Dr. Anna Veronika Wendland

Kernkraftwerk Grohnde
Kernkraftwerk Grohnde – Foto: Heinz-Josef Lücking, CC BY-SA 3.0 de, Wikimedia Commons

Am 19. März 1977 wurde die  „Schlacht von Grohnde“ geschlagen. Damals war ich zehn Jahre alt. Wenn man von Terroristen sprach, waren vor allem die zu Möchtegern-Revoluzzern mutierten Bürgerkinder der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) gemeint. Als Konflikte galten insbesondere die oft gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei an den Zäunen von Kernkraftwerken.

Nun erinnert eine Ausstellung in Hameln an den neben der „Schlacht von Brokdorf“ heftigsten Zusammenstoß militanter Atomgegner mit der Staatsgewalt in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Ausstellung ist, wie die Lokalpresse meldet, aus Sicht der „Bewegung“ gemacht: Mit viel Liebe zusammengetragene Dokumente beschwören die Erinnerung herauf, es gibt Verständnis und Wärme für die damaligen Motive, an deren Redlichkeit man nicht zweifelt. Auch die damals Gewaltbereiten wurden befragt, Kirche und Stadtverwaltung rahmen diese Ausstellung mit Gottesdienst, Bürgermeister-Ansprache, Landratsbesuch und Podiumsdiskussion ein. Man ist sich einig in der Rattenfängerstadt. Aber ist man auch redlich?

Hier der „Atomstaat“, dort die Guten

Denn die Stützen der Energiewende-Gesellschaft verschweigen, abgesehen vom dezenten Hinweis auf die „mitten durch die Familien“ gehende damalige Konfrontation, dass Grohnde keine Schwarz-Weiß-Geschichte war: Hier der Atomstaat, dort die Guten von der Grohnde-Abschalten-Szene.

Grohnde: Das ist nämlich eigentlich eine ganz unerwartete und nie ernsthaft erfragte und erforschte Geschichte der kleinen Leute und der Bauern und Bürger, die damals in dem Kernkraftwerk ihre Zukunft sahen und auch fanden. Damals, als es zwischen Fährhaus, Domäne und Rübenkampagne nicht viel Arbeit in der Gegend gab. Damals, als die Landstraße neben der Weser von Grohnde direkt nach Kirchohsen führte. Dann wurde das KKW auf die alte Landstraße gebaut, in einem fast sowjetisch anmutenden can-do-Akt des modernisierungs-trunkenen Niedersachsen, das auf Staatsland die Technologie der Zukunft errichtete.

Damals, als der elektrische Strom von quasi staatlichen Unternehmen in öffentlichem Besitz erzeugt wurde, deren Aktien eine etwas modernere Form von Omas krisenfestem Sparstrumpf waren. Das KKW Grohnde war, so gesehen, mehr Bürgerkraftwerk als es die subventions-abzockenden Windkraft-Investorenmodelle je sein werden.

Ein Gemeinwesen der kleinen Leute

Grohndes Atomstaat, den die Göttinger und Bielefelder Studenten bekämpften, war en détail ein Gemeinwesen der kleinen Leute, die dort Arbeit fanden: Bauernsöhne und Handwerker, Schiffsmaschinisten, Elektriker und Kesselfahrer, verwegene und keiner Rauferei aus dem Weg gehende Revisions-Gerüstbauer, und ab und zu die in Westdeutschland sehr seltenen Technikerinnen, die sich von ihrem ersten Meister noch anhören mussten, dass Frauen im Team Unglück brächten.

Grohnde wurde auch der Bewährungsort für Leute, die wir als Große ihrer Disziplinen bezeichnen würden, auch wenn sie in der Öffentlichkeit namenlos blieben: Die erste Generation Grohnder Ingenieure, welche die Anlage gebaut und eigenhändig in Betrieb gesetzt haben und deren Namen heute noch mit Bewunderung und Respekt genannt werden, ob man nun vom Reaktorschutzsystem oder der akribischen Kraftwerkschronik spricht.

Autoritär und schnoddrig seien die Alten gewesen, das sicherlich, aber Gehorsam und Respekt gründeten nicht auf Angst, sondern auf einer natürlichen Autorität, welche die alten Ingenieure sich durch harte Arbeit, profunde Fachkenntnis, penetrante Gründlichkeit, vorausschauendes Planen und Selbstentäußerung erworben hätten. Und das sieht man der Anlage auch an. Wer mal in ausländischen Kernkraftwerken war, wird das bestätigen.

Sinnbild des Bösen

Wäre ich meinem Milieu treu geblieben, dürfte ich so etwas eigentlich nicht sagen. Als linksdrehende Jugendliche mit akademischem Familienhintergrund – eben jenem der Göttinger und Bielefelder –  war ich natürlich gegen AKWs. Es wurde gar nicht diskutiert oder nachgehakt, man war gegen den Atomstaat und die Kernkraftwerke, die in dieser Zeit gebaut wurden, galten als die Verkörperung des ultimativ Bösen. AKWs gleich Brutalität, Beton, Bullen. Die Anlagen galten als hässliches Sinnbild der Ausbeutung und der Macht schlechthin. Kraft, Eleganz, Intelligenz und technische Ästhetik durften wir in ihnen nicht sehen.

Doch trieb mich die wissenschaftliche Neugierde schließlich eher zur Kernenergie hin als von ihr weg. Dann kamen Lehr- und Wanderjahre in Osteuropa, vor den Toren Tschernobyls sozusagen, und viele Prozesse des Umdenkens. Es kam die Distanzierung vom Antiamerikanismus unserer Friedensbewegung und vom Alleinvertretungsanspruch der Ökobewegung für alles Wahre, Schöne und Gute. Nach der beruflichen Etablierung als Historikerin fing ich an, wieder über die Kernenergie nachzudenken, und legte ein Forschungsprojekt zur Geschichte nuklearer Sicherheitskulturen auf. Dazu gehören auch Feldstudien in Kernkraftwerken. Grohnde ist eines davon.

Zarte Bilder in Rosa und Taubenblau

Seit ich die von Thorsten Klapsch für seinen Kunstfotografie-Band „Atomkraft“ aufgenommenen Fotos von Grohnde gesehen hatte, zarte Bilder in Rosa und Taubenblau, eine Landmarke vor der Silhouette des Weserberglands, dachte ich, ohne mehr über Grohnde zu wissen: Das ist es.

Inzwischen kenne ich das Dorf Grohnde, das südöstlich des Kraftwerks liegt, die Fachwerkhäuser, den Stundenschlag der Kirchenglocken, den Teich, die Seilfähre, und den neuesten Klatsch über Freundschaften und Familien, Beerdigungen, Jagden und Rübensilvester. Und ich kenne das Kraftwerk, in dem ich als „participant observer“ seit gut einem Jahr immer mal wieder auf einer Betriebsschicht arbeite.

Ich kenne es gut genug, um behaupten zu können: die in Hameln erzählte Geschichte von Grohnde ist nur die halbe, die halbwahre Geschichte. Das KKW ist eben kein ideeller Gesamt-Antagonist, sondern ein historisch gewachsener technosozialer Organismus, der aus Menschen und Maschinen geformt wurde.

Einseitige Erzählung

Die Stimmen der Menschen und Artefakte wurden in der lupenreinen Grohnde-Widerstands-Erzählung nicht gewünscht, nicht gehört, nicht gefragt, nicht aufgezeichnet. Ein solches Narrativ müssten kritische Historiker heute eigentlich als Geschichte von oben bezeichnen – in ironischer Umkehrung der Tatsache, dass Linke und Grüne einst angetreten waren, um Geschichte von unten, polyphone Geschichten, Geschichten der Materialität zu schreiben.

Was einmal Herausforderung war, ist heute hegemonialer Diskurs – in Behörden, Schulen, Kirchen. Was nicht ins hegemoniale Narrativ passt, muss weg. Und deshalb wird die Geschichte von Grohnde, um es im Jargon der Elektriker zu formulieren, freigeschaltet und gegen Wiederanschalten gesichert.

Das aber macht diese Geschichte nicht ungeschehen. Dass es im Kraftwerk Grohnde Menschen und Geschichten, ja überliefernswerte Lokalgeschichte gab und gibt, das ist den Gerechten und Selbstgerechten von Hameln nie aufgefallen – obwohl sich die Stadt einer Legende rühmt, in der ein um den gerechten Lohn Gebrachter Geschichte macht.



Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Achse des Guten.

9 Antworten

  1. http://grohnde.gelderblom-hameln.de/

    Ich kann dem Artikel von Frau Dr. Wendland nur beipflichten, man hat mal wieder eine Chance vertan mit einer glaubwürdigen Aufarbeitung der damaligen „Schlacht um Grohnde“. Schade, dass hier der Landkreis als Förderer vermutlich mit Steuergeldern solch eine oberflächliche Arbeit unterstützt hat. Es wird auch nicht damit geheilt, weil ein Ministerpräsident sich das Ganze anschaut. Nun werden sicher auch etliche Schulklassen über diese Ausstellung gejagt!

  2. Das ist ein wunderbarer sehr guter Artikel über das KKW-Grohnde und den Kampf um selbiges. Ich habe es einmal um das Jahr 2000 herum besichtigt, komme aus der gleichen Gegend und fahre öfters dran vorbei. Frau Wendland läuft mir öfters über den Weg. Sie ist eine ganz außergewöhnliche und sachkundige Autorin. Sehr empfehlenswert. Dennoch habe ich ein Fragezeichen. Das Dorf neben dem Kraftwerk Grohnde ist meines Wissens nicht Grohnde sondern Emmerthal.

  3. Naja, die Pro-Atom-Fraktion kann ja auch eine Ausstellung machen, in der erklärt wird, warum man russisches Roulette mit AKWs spielt, bei denen ein Flugzeugabsturz eine ganze Region verseuchen kann.

    Warum z.B. damals Bielefelder Kommunalpolitik unbedingt AKWs wollte, ist auch spannend. Ich schätze aus Geltungssucht.

  4. Grohnde ist selbst gegen A380 Absturz gesichert. BASF nicht. Gab es je eine Demo „Bhopal mahnt, BASF jetzt abschalten“? Natürlich nicht, denn BASF ist keine Konkurrenz für die Kohleindustie.

    1. Die herrschende Meinung ist halt, dass nach einen Chemie- und oder jedem anderen denkbaren Unfall z.B Flutwelle nur ein bisschen aufgeräumt und geputzt werden muss und daher nach kurzer Zeit alles wieder in Ordnung ist. Während nach einem AKW-Störfall, egal welcher Art, ein ganzes Land für (beliebig grosse Zahl einsetzen) Jahre verstrahlt ist.

      1. Fakt ist: in Bophal gab es 8000 unmittelbare Chemietote. In Fukushima gab es nicht einen Fall von Strahlenkrankheit, und auch ohne Evakuierug hätte es keinen gegeben. Aus der Strahlenbelastung kann man langfristig bis zu 3000 Todesfälle hochrechnen. Das schaffen deutsche Kohlekraftwerke mit ihren toxischen Emissionen jedes Jahr durch Normalbetrieb.

        1. Was nach einem Chemieunfall passieren kann, sieht man oft noch Jahrzehnte später, beispielsweise in Italien. Aber das interessiert von den Umweltschützern seveso keinen mehr….

  5. Die herrschende Meinung ist natürlich für Jahrzehnte von der Kohle- Öl und Gaslobby gezielt in diese Richtung manipuliert worden. Aber Atomkraftgegner fabulieren lieber von der allmächtigen Atomlobby als anzuerkennen, dass sie selbst nur die nützlichen Idioten der viel mächtigeren fossil-lobby sind.

  6. Das AKW Grohnde ist doch zur Zeit vom Netz und macht Pause, so meine Informationen.

    Gruß

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