Nebelmorgen in einer nördlichen Hafenstadt. In einem Antiquariat hatte ich mir eine alte Ausgabe der „Buddenbrooks“ gekauft, mit herrlichem weichem leicht modrig duftendem Papier. Es war einer dieser Tage, an denen man das Meer nur durch den allgegenwärtigen Duft von salziger Nässe bemerkt. Die Gasse, die zur Mole hinunterführt, versank in weißgrauem Nichts. Das Kopfsteinpflaster schimmerte vor Feuchtigkeit. Ich befühlte das Buch nochmal mit den Fingern, und legte es dann in meine Tasche, in der bereits Baguettebrot, ein Glas eingemachter Schafskäse, mit Ingwer aromatisiertes Kaffeepulver und ein alter Messingwecker lagen.
Ich eilte über den Vorplatz des Festauditoriums der Universität – bei schönem Wetter ein Fleck Sorglosigkeit mit lesenden und frisbeespielenden Studenten zwischen Eichen, die so alt sind wie die Universität – öffnete die Flügeltür, und sah, dass ich gerade noch rechtzeitig war: Ein Gewusel von Damen und Herren in formeller Garderobe schob sich dem großen Saal zu, vorbei an dem Schild das die Veranstaltung ankündigte: „Das Zeitalter des klaren Himmels. Referentin: Jenny Bloom.“
Ich fand einen Platz ganz hinten im Auditorium, zwischen einem mageren Professor mit Vollbart und einer dicken, älteren, viel Güte ausstrahlenden Dame mit gerötetem Gesicht. Meine Tasche nahm ich zwischen die Füße. Einen Augenblick lang schien ich den Nebel mit hereingebracht zu haben: Dann wischte ich meine beschlagenen Brillengläser sorgsam blank und staunte, wie jung die Referentin war. Ich hatte eine Professorin um die 50 erwartet, vom Typ her zwischen Christa Wolf und Lise Meitner. In Wirklichkeit war sie jünger als ich, zierlich aber drahtig wie eine Sportlerin, mit hellblau gefärbtem Haar.
Der Dekan sagte pflichtbewusst einige Begrüßungsfloskeln, die in meinem Gedankenstrom versanken. Dann begann Jenny Bloom ihren Vortrag:
„Vor der industriellen Revolution stand fast nur die Muskelkraft des Menschen für die Produktion zur Verfügung – in gewissem Maße wurden auch Tier-, Wind- und Wasserkraft genutzt. Deshalb waren an der Herstellung einer bestimmten Menge Güter sehr viele Personen beteiligt. Zur Erschaffung von Wohlstand musste ein großer Teil der Bevölkerung hart arbeiten – und zwar im Sinne unkreativer, stumpfsinniger Arbeit: Mit dem Pflug auf dem Feld, mit der Spitzhacke im Bergwerk, als Lastenträger, Manufakturarbeiter oder Handlanger.
Mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Industrialisierung konnte die Wertschöpfungskraft des Arbeiters vervielfacht werden. Zunächst kam nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung in den Genuss des neuen Wohlstandes: Denn es war nicht vorgesehen, dass die Arbeiter genug verdienten, um auch selbst die von ihnen hergestellten Produkte einkaufen zu können. Beginnend mit den Konzepten der Arbeiterbewegung, aber auch sozial orientierter Unternehmer wie Carl Zeiss und Henry Ford – zu dessen Grundsätzen es gehörte, dass ein Arbeiter nach einigen Jahren in der Lage sein sollte, sich eines der Autos zu kaufen, die er herzustellen half – setzte sich allmählich der Gedanke durch, den Lebensstandard aller Bürger anzuheben.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Produktion von der zweiten industriellen Revolution, durch Digitalrechner, Roboter und andere fortgeschrittene Fertigungsverfahren von neuem umgekrempelt. Die Wertschöpfungskraft des Einzelnen stieg von neuem stark an. In den Industrieländern nimmt der Anteil der Bevölkerung, der in der Produktion arbeiten muss, um Wohlstand für alle zu gewährleisten, stetig ab. Ein einzelner Bauer mit modernen Maschinen, Mähdreschern, GPS-geführten Traktoren usw. vermag über hundert Personen zu ernähren. Einige denken bereits darüber nach, alle Bürger ohne erwartete Gegenleistung materiell zu unterstützen, durch ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), Bürgergeld o. ä.
Die mechanisierte, automatisierte Produktion, die es uns Europäern erlaubt, satt zu werden, ohne manuell Ackerböden pflügen oder schwere Lasten tragen zu müssen – da dies Traktor und Gabelstapler erledigen – beruht auf hohen Energieflüssen: Maschinen, Motoren, Computer, etc. müssen von irgendetwas angetrieben werden. Als Energiequelle dienen bislang größtenteils fossile Brennstoffe, was zu starken Umweltproblemen und berechtigten Bedenken bezüglich der mengenmäßigen Begrenztheit dieser Stoffe – Öl, Gas und Kohle – führte. Die Nutzung von Fossilbrennstoffen ist sehr ‚verführerisch‘, denn sie sind verhältnismäßig leicht abbaubar, transportabel und mit einfacher, robuster Technologie – Kolbenmotoren, Gas- und Dampfturbinen – nutzbar.
Die beiden möglichen Alternativen zu fossilen Energieträgern sind Erneuerbare – Solarenergie in verschiedenen direkten und indirekten Formen, Geothermie und Gezeitenkraft – und Kernenergie – Spaltung und die noch nicht unter Energieausbeute realisierte Fusion.
Erneuerbare stehen insgesamt in sehr großen Umfang zur Verfügung – die Erde erhält eine solare Zustrahlung von 176 Mio. GW – sind aber diffus und teilweise unzuverlässig (vor allem Solar und Wind). Es wird eine wichtige politische, industrielle und ökologische Frage sein, wieviel Prozent der Erdoberfläche zur Energiegewinnung genutzt werden sollen. Prinzipiell ist es möglich, den gesamten momentanen Primärenergieverbrauch der Menschheit (15.000 GW) durch riesige Sonnenwärmekraftwerke in Wüstengebieten zu bestreiten, die insgesamt ein Quadrat von ca. 1200 km x 1200 km Größe füllen. Technische Gebilde dieser Ausdehnung wurden noch nie erschaffen. Der Bau großer ‚Solarinseln‘ in der Sahara und anderen Wüsten ist sicher keine schlechte Idee, aber es stellen sich ihm auch viele Probleme entgegen: Wie putzt man die Spiegel in der Wüste, wo kein Wasser zur Verfügung steht (sie müssen in regelmäßigen Abständen mit Hochdruck abgespritzt werden)? Was, wenn die nötigen langen Hochspannungsleitungen durch politisch instabile Gebiete laufen? Kann man so große Gebilde schnell genug bauen? Wie sieht es mit Rückwirkungen auf empfindliche Wüsten-Ökosysteme aus? usw…
Die Hauptprobleme der klassischen Erneuerbaren sind, dass sie schnell flächenmäßig ‚aus dem Ruder‘ laufen – für jedes zusätzliche Gigawatt muss eine Fläche von typischerweise mehreren 100 Quadratkilometern industrialisiert werden – und ihre starken zeitlichen Schwankungen.
Kernenergie hat diese Probleme nicht. Sie ist äußerst kompakt und zuverlässig. Die vierte Kraftwerksgeneration leidet nicht mehr an den Kinderkrankheiten der Technologie. Eine der dabei wichtigsten Ingenieursleistungen besteht darin, dass man die Probleme des Brütens und Wiederaufbereitens von Brennstoffen erfolgreich löste, so dass langlebige Transurane in einen Kreislauf überführt und die Hauptanteile der Ressourcen (Uran 238 oder auch Thorium 232) genutzt werden können, wodurch die Kernkraft von der Ergiebigkeit her zu einer Erneuerbaren Energiequelle wird.
Wie ein optimaler Mix aus Kernenergie und klassischen Erneuerbaren aussieht, soll nicht Thema dieses Vortrags sein. Es gibt letztlich so gut wie unendlich viele Möglichkeiten, verschiedene postfossile Energiequellen miteinander zu kombinieren. Die Zusammensetzung des Mix‘ ergibt sich letztlich daraus, wieviel Landfläche für welche Energiequelle zur Verfügung gestellt werden soll. Man muss jedoch stets im Hinterkopf behalten, dass es nicht nur gilt, die vorhandenen fossilen Energiequellen zu ersetzen, sondern dass auch zur Entwicklung der armen Regionen auf der Erde die Erzeugungskapazität weltweit gesteigert werden sollte. Mangel und Knappheit in Afrika lassen sich nicht dauerhaft beheben, indem man da und dort einen Brunnen gräbt, ein paar Nahrungsmittel, einige Medikamente verteilt. Die armen Regionen brauchen stattdessen Unterstützung zur Industrialisierung, zum Bau moderner Fabriken, Verkehrswege, landwirtschaftlicher Betriebe und natürlich auch Krankenhäuser, Schulen und Universitäten. Zum Aufbau einer modernen Industriegesellschaft aber werden Energieflüsse auf europäischem Niveau benötigt (mehrere kW pro Mensch), beziehungsweise in vielen Fällen noch höhere, da es in ariden Regionen insbesondere in Zeiten des Klimawandels dringend nötig ist, Meerwasser in Süßwasser umzuwandeln, was viel zusätzliche Energie erfordert. Und um Trinkwasser über größere Entfernungen zu transportieren, sind, immer wenn Strecken bergauf bewältigt werden müssen, weitere große Energiemengen nötig – wieviel, kann man sich leicht anhand eines Pumpspeicherwerkes wie zum Beispiel Dinorwig in Großbritannien veranschaulichen, das 9.1 GWh Energie in Form bergauf gepumpten Wassers speichert.
Südlich der Sahara leben rund 800 Millionen Menschen – um jedem 4 kW saubere elektrische Energie zugute kommen zu lassen, sind insgesamt 3200 GW zu installieren. Die Afrikaner sollten nicht noch viele Generationen auf eine Besserung ihres Lebensstandards warten müssen. Um das Industrialisierungsprojekt in 25 Jahren zu realisieren, müssen jährlich 128 GW installiert werden, bzw. ein Gigawatt alle drei Tage. Dies entspricht einem mittelgroßen Kernkraftwerk, oder aber einem Spiegelrinnenkraftwerk in der Sahara von 10 km x 10 km Größe. Es liegt auf der Hand, dass es mit in absehbarer Zukunft vorhandener Technik kaum möglich ist, Spiegelrinnen in diesem Tempo nicht nur zu produzieren, sondern auch zu installieren und mittels langer Hochspannungsleitungen mit dem Netz zu verbinden. Die weltweite Kernkraftwerksbaurate lag dagegen bereits in den 1980ern bei einem Reaktor pro Woche. Heute sollte es mit fortschrittlicherer Technik möglich sein, eine Installationsrate von 1 GW alle 3 Tage pro Kontinent zu erreichen, besonders wenn Reaktormodule in Industriewerken serienmäßig produziert werden. Hinzu kommt, dass Kernkraftwerke Industrie und Städte lokalisiert mit Strom und Wärme (und Trinkwasser!) versorgen können, ohne dass Hochspannungsleitungen über Hunderte oder gar Tausende von Kilometern nötig sind.
Man braucht ein solches ‚Kernenergetisierungsprogramm‘ nicht in Konkurrenz mit der Nutzung Erneuerbarer zu sehen. Während Industriewerke IFR-Module in Serie bauen, stellen kleinere, lokale Betriebe Solarzellen her. Die bereits arbeitenden Kernkraftwerke können sogar die zu Produktion, Transport und Installation der Solaranlagen nötige Energie liefern.
Da die intensivere Sonneneinstrahlung in den Tropen höhere Photovoltaik-Nutzungsgrade als in Deutschland erlaubt – bis 0.2 – würden zirka 10 Quadratmeter fünfzehnprozentige Solarzellen pro Familie hier eine Durchschnittsleistung von 300 W liefern, was bereits zum Betrieb einiger elektrischer Haushaltsgeräte oder eines Computers ausreicht. Nicht verbrauchte Leistung kann zurück ins (sofern schon vorhandene) Netz eingespeist und durch ‚rückwärtslaufende‘ Stromzähler gutgeschrieben werden.
Die Gesundheit der Menschen in Afrika und Südasien würde sich schlagartig bessern, wenn sie mit Elektrizität statt mit Holz kochen könnten.
Zentralafrika verfügt auch über beträchtliche ungenutzte Ressourcen an Wasserkraft. Der Bau von Staudämmen ist ein energieaufwändiger Prozess: Bereits vorhandene Kernkraftwerke sind auch hier zur Unterstützung – insbesondere von Metallverarbeitung sowohl durch Elektrizität wie durch Prozesswärme – geeignet. So kann ein Industrialisierungsplan auf Basis postfossiler Energien aussehen: Die Kernkraftwerke, die mit hohem Tempo in Serie gebaut werden, bilden das Energiefundament, auf dem die Produktion anderer klimaneutraler Energiequellen – und überhaupt die gesamte Industrie – aufgebaut wird.
Ich finde, folgender Gedanke hat etwas poetisches, künstlerisches an sich: Die Menschen, bedrängt von Armut, Umweltverschmutzung und Klimawandel, begreifen, dass sie ihre Probleme lösen können, wenn sie den Bereich der Nanostrukturen der Materie – die Atomhülle – verlassen, und in die Femtowelt vordringen, den Bereich der Kerne: Protonen, Neutronen, Gluonen, Quarks – ähnlich wie Künstler, die, vor neuartige Probleme gestellt, neue Ausdrucksformen entwickeln.
So begannen sich die Europäer gegen Ende des Mittelalters wieder für die Beobachtung und Untersuchung der Natur zu interessieren. Anstatt wie die Scholastiker zu fragen: ‚Was steht bei Aristoteles?‘ fragten sie: ‚Was steht im Buch der Natur?‘ Die Renaissancekünstler entwickelten Techniken und Fertigkeiten zur naturgetreuen Darstellung von Menschen, Tieren, Gebäuden und Landschaften – anders als die mittelalterlichen Maler, denen es vorwiegend darauf ankam, religiöse Allegorien zu erschaffen. Leonardo da Vinci betonte, wer ein guter Künstler sein wolle, müsse unbedingt auch Naturforscher sein, um ein in die Tiefe gehende Verständnis dessen, was er abbilden wolle, zu entwickeln.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann man sich für Prozesse in den Tiefen des menschlichen Geistes zu interessieren. Vor die Aufgabe gestellt, diesen Wahrnehmungsbereich darzustellen, entwickelten Schriftsteller die ‚Stream of Consciousness‘-Technik: Anstatt ihre Texte aus der Schilderung von Handlungen, Gesprächen oder Gedanken aufzubauen, entfachten sie Bildfeuerwerke, erschufen fließende Strukturen aus Eindrücken, Erinnerungen, Ahnungen oder abstrakten Konzepten. Vor allem Alfred Döblin (>Berlin Alexanderplatz< ), James Joyce (>Ulysses< ) und Thomas Pynchon (>Gravity’s Rainbow< ) nutzten – bzw. in Pynchons Fall nutzen – in ihren Romanen diese Technik. Aber schon Marcel Proust und Robert Musil können in gewisser Hinsicht als Wegbereiter des ‚Stream of Consciousness‘ angesehen werden.
Ebenso wie Künstler zu Beginn einer neuen Geistesepoche neue Techniken entwickeln, steht nun die ganze Zivilisation vor der Herausforderung, ihre industrielle Infrastruktur neu zu gestalten, um dem sich verengenden Flaschenhals aus verknappenden Fossilbrennstoffen und kippendem Klima zu entkommen! Ebenso wie Schriftsteller in den 1920ern anfingen, in die Tiefe der menschlichen Bewusstseinsvorgänge vorzustoßen, sind heute die Menschen gefragt, Energie aus den Tiefen der Materie anzuzapfen – die Femtogrenze zu überschreiten und die Interaktionen der Kernteilchen nutzbar zu machen. Schon allein angesichts der hohen Fremdartigkeit der Femtophysik – der von der Quantenchromodynamik beherrschten Welt – kann man sich an die literarischen Pioniertaten von Joyce oder Pynchon erinnert fühlen. Und wir wollen den Grundsatz Leonardos, dass Kunst und Wissenschaft zwei Aspekte derselben Sache seien, nicht in Vergessenheit geraten lassen.“
Der alte Messingwecker hatte das Ende seines Weckerlebens im üblichen Sinne längst überschritten: Er befand sich nun in der Phase des Daseins, in der mechanische Uhren dann und wann spontan zu ticken beginnen, um weniger später wieder stehenzubleiben: Das leicht arythmische metallische Pochen aus meiner Tasche verriet mir, dass sich irgendetwas in ihm hinreichend gelockert hatte, um die Unruh in Bewegung zu setzen. Ich überlegte kurz, ob ich ihn herausholen und gewaltsam stillsetzen sollte, verzichtete aber klugerweise darauf: Mein Hörvermögen hatte sich im Laufe der gemeinsamen Jahre perfekt an Ticken und Läuten des Messingknaben angepasst, so dass ich ihn selbst durch eine Reaktorkuppel hindurch gehört hätte. Die anderen Zuhörer im Saal vermochten das spontan losgegangene Ticktack nicht wahrzunehmen.
Begegnet – denn jeder andere Bezeichnung für den Vorgang wäre unangemessen – war ich der blechernen Uhr zum ersten Mal in Sao Paulo. In einem zweigeschossigen Holzhaus am nördlichen Ende der Stadt, von dem aus man eine schmale Bucht überblicken konnte, in der der Atlantik ruhig wie ein Binnensee war, hatte ich ihn eines morgens entdeckt, als ich mich zum Kaffeetrinken auf den ziemlich verwitterten Balkon des Obergeschosses setzte, und die kleine goldblanke Maschinerie auf einem Korbtisch erblickte, wo sie jemand vergessen hatte. Normalerweise hätte ich der Uhr nicht viel Beachtung geschenkt. Aber ich bemerkte plötzlich, dass sich mein Gesicht in der linken Glocke des Weckers spiegelte. Darüber blitzte winzig der Sonnendiamant, darunter die Bucht als bläuliche Sichel, auf der fast schon mikroskopisch weiße Segelboote gespiegelt schwammen. Mit größerem Abstand zum Zentrum der Reflexion rückten die Schemen zusammen, perspektivisch gedrängt von der Krümmung der Messingglocke. Ich sagte mir, dass irgendwo dort auf der spiegelnden Oberfläche, zu klein um für meine trägen Augen sichtbar zu sein, das Stadtzentrum von Sao Paulo ein Abbild haben müsse, genauso wie die Stadt Toronto, der Südpol, der Mars, der fernste Quasar, unendlich klein zusammengequetscht am Rande der elliptischen Reflexion.
Wenn ich mich im Laufe der folgenden Jahre traurig fühlte, betrachtete ich die Glocken des Weckers, und manchmal gelang es mir, kurz das Spiegelbild des gesamten Universums einzufangen. Das Weckerticken wurde schwächer und erstarb. Ich stützte das Kinn in die Hände und konzentrierte mich wieder auf den Vortrag.
„Viele Europäer verfolgen heutzutage eine ‚beschauliche‘ Zukunftsvision – ein ländliches, zurückgezogenes Dasein im Stile Epikurs, basierend auf handlicher, überschaubarer Technik und niedrigen Energieflüssen aus klassischen erneuerbaren Quellen. Angestrebt wird eine Gesellschaft, deren Ziel die freie Entfaltung der Persönlichkeit und Kreativität ist, wozu die Gemeinschaft jeden Bürger durch ein bedingungsloses Grundeinkommen o. ä. unterstützen soll. Das technische Problem, dass ‚Erneuerbare‘ und ‚handlich und überschaubar‘ aufgrund der charakteristischen Ausdehnung entsprechender Anlagen nicht wirklich gut zusammenpassen, beiseite – freie kreative Entfaltung ist als Konzept zunächst einmal etwas gutes. Man kann sich allerdings leicht überlegen, dass sie – egal ob mithilfe eines Grundeinkommens oder auf anderer Grundlage – durch niedrige Energieflüsse rasch abgewürgt werden würde. Die Tatsache, dass wir heutzutage in den Industrieländern zumindest potentiell großartige Freiheiten genießen – mit anderen Worten, dass wir mit relativ geringem Arbeitsaufwand viel Wohlstand erzeugen und einen hohen Lebensstandard genießen können – verdanken wir unserer hochentwickelten Produktionstechnik, die um zu funktionieren auf starke Energieströme angewiesen ist. In einer Gesellschaft, in der die nutzbare Energiemenge auf einen niedrigen Wert begrenzt ist, ist es nicht möglich, Industriewerke mit hohem Automatisierungsgrad zu betreiben: stattdessen muss, wie in vergangenen Jahrhunderten, ein großer Anteil der Menschen selbst manuell ‚robotische‘, abstumpfende Arbeit verrichten, um das Überleben der Bevölkerung auf größtenteils niedrigem Niveau zu ermöglichen.
Wer auf dem Feld, in der Manufaktur, in den Docks, im Bergwerk ‚malochen‘, das heißt unter Einsatz seiner Körperkraft Tätigkeiten ausüben muss, die eine Maschine oder zumindest ein von Maschinenkraft unterstützter Mensch wesentlich schneller und effektiver erledigen kann, der hat keine Zeit und Energie um zu denken, zu forschen, schöpferisch tätig zu sein. Fällt jemand nach zwölf Stunden stumpfer Arbeit auf sein Lager, fehlt ihm die Kraft, Gravitationstheorie zu studieren, Romane zu schreiben, Philosophie zu lesen, eine Sinfonie zu komponieren oder irgendeiner anderen geistig anspruchsvollen Tätigkeit nachzugehen. Um Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr schöpferisches Potential zu entfalten, muss man sie von mechanischen, verdummenden Tätigkeiten befreien.
Schon dies allein ist meines Erachtens nach ein schlagendes Argument für die Industrialisierung Afrikas: Wer kann wissen, wieviele potentielle Leonardos sich dort gerade mit dem Handpflug abmühen oder ums nackte Überleben kämpfen müssen.
Um den Fortschritt zu ermöglichen, der eine Befreiung der Menschen durch Automatisierung und Robotisierung der Produktion nach sich zieht, sind hohe Energieströme erforderlich. Bislang stammten diese aus fossilen Brennstoffen: begrenzt und umweltschädlich. Soll weiterer Fortschritt, weitere Befreiung der Menschen möglich sein, und soll dieser nicht mehr nur vorwiegend Europäern und Nordamerikanern sondern allen Menschen zugutekommen, dann ist die Erschließung der nahezu unbegrenzten Energieressourcen, die in den Kernbrennstoffen in der Erdkruste und im Meerwasser gespeichert sind, erforderlich: Gegenwärtig durch Brüter auf Uran- und Thoriumbasis, in der Zukunft auch durch Fusionskraftwerke die Deuterium und Lithium – bzw. aus diesem erbrütetes Tritium – oder auch reines Deuterium oder Wasserstoff und Bor verbrennen.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es sehr widersinnig, dass die BGE-Bewegung und die Antiatom-Bewegung eine große Schnittmenge haben. BGE-Anhänger betonen oft, dass sie die Automatisierung als gute Entwicklung ansehen, teilweise mit lustigen und pfiffigen Sprüchen wie ‚Mein Freund ist Roboter‘ oder ‚Maschine arbeite – ich genieße‘. Aber sie scheinen zu vergessen, dass Herstellung und Betrieb von Robotern – wie überhaupt jeder hochtechnisierte Industrieprozess – viel Energie benötigt: Und diese kommt nicht aus der Steckdose.
Die klassischen Erneuerbaren – Solar, Wind, Wasser, Geothermie und andere – sowie energiesparende Technologien – zum Beispiel optimal wärmegedämmte Häuser – sind keineswegs zu verachten und eine sinnvolle Ergänzung. Zur Komplettversorgung der gesamten Zivilisation reichen sie jedoch eher nicht, insbesondere wenn diese in der Lage sein soll, sich weiterzuentwickeln.
Ich finde es schade, dass viele Menschen heutzutage zu denken scheinen, die Menschheit sei dabei, an ein endgültiges Limit zu stoßen, dass nur noch eine Rückentwicklung zu einem simplen, anspruchslosen Dasein möglich sei, da Energie- und Rohstoffquellen bald erschöpft seien. In diesem Zusammenhang hört man oft die Aussage: ‚Wir haben nur einen Planeten, verhalten uns aber, als hätten wir mehrere.‘
Bedenken wir, dass das Material, das wir ‚verbrauchen‘, physikalisch nicht verlorengeht: Jedes Atom, das in einem Produkt drinsteckt, befindet sich auch im Abfall, nachdem das Produkt weggeworfen wurde (abgesehen von eventuellen Kernreaktionen). Es gibt bereits allerlei Bemühungen, das in Abfällen enthaltene Material durch Recycling wieder nutzbar zu machen, vor allem bei Glas-, Zellulose- und Metallabfällen. Um Rohstoffengpässen vorzubeugen, genügt es, diese Technik auf alle Sorten von Abfällen anzuwenden und zu perfektionieren. In seinem >Prescription< -Buch zeigt Tom Blees eine mögliche Technologie auf: Das Plasmarecycling, bei dem Abfälle mittels eines Lichtbogens so stark erhitzt werden, dass sie in ihre atomaren bzw. niedermolekularen Anteile zerfallen. Es entstehen zwei Substanzströme: das Syngas (Wasserstoff und Kohlenmonoxid) das als Brennstoff und petrochemischer Rohstoff genutzt werden kann, und metallisch-silikatische Schlacke, eine Rohstoffquelle für Metall- und Baustoffindustrie.
Abfälle mit hohem Gehalt niedrigoxidierter Substanzen können sogar unter Energiegewinn recycelt werden. Andere – vor allem Metalle und Silikate – dagegen benötigen Energiezuführung, damit sich ihre chemischen Bindungen lösen und sie in nützliche ‚Bausteine‘ aufbrechen. Das bedeutet, dass unsere Fähigkeit, Material zu recyceln, auch von den nutzbaren Energieflüssen abhängt. Wenn in der Zukunft mithilfe von Fusionskraftwerken noch mehr Energie als durch Kernspaltung plus Erneuerbare bereitgestellt werden kann, wird man möglicherweise das Recycling bis zu seinem logischen Extrem entwickeln: Man führt den Abfallstoffen soviel Wärme zu, dass sie nicht nur zu Syngas und Schlacke zerfallen, sondern selbst zu Plasma werden. Dann lassen sich die Rohstoffe zu nahezu hundert Prozent zurückgewinnen, und zwar separiert nach einzelnen Elementen – sogar Isotopen! – indem die Ionen mittels einer elektromagnetischen Vorrichtung, die ähnlich einem Massenspektrografen arbeitet, voneinander getrennt werden.
Sofern genug Energie zum Recycling bereitsteht, existiert bezüglich der meisten Rohstoffe auf der Erde keinerlei Knappheit.
Und falls auch mit Recycling bestimmte Elemente auf der Erde nicht in der benötigten Menge beschafft werden können? Ich wüsste nicht, dass wir nur diesen einen Planeten hätten: Wir haben drei weitere erdähnliche Felsplaneten, zwei Gasriesen, zwei Eisriesen, weit über hundert Monde und Möndchen sowie Zehntausende von Asteroiden, Kometenkernen und Kuipergürtelobjekten in unserem Sonnensystem. Die Menschheit ist gerade dabei, zu lernen, ihre Heimatwelt zu verlassen. Mittel- bis langfristig führt kein Weg daran vorbei, dass wir uns zu einer raumfahrenden Zivilisation weiterentwickeln. Carl Sagan: ‚All civilizations become either spacefaring or extinct.‘ – nur wenn es uns gelingt, aus dem Potentialtopf unserer Heimatwelt zu klettern und andere Himmelskörper zu besiedeln, haben wir eine Chance, Millionen oder gar Milliarden von Jahren als Zivilisation zu existieren. Denn die Erde ist auf Dauer kein sicherer Wohnort: Einschlagende Asteroide, Supervulkanismus, starke Klimaschwankungen auch nicht-anthropogener Natur, Gammastrahlenausbrüche durch nahe Supernovae sind auf lange Sicht alle geeignet, das Fortdauern unserer Spezies zumindest sehr stark zu gefährden.
Die Beschaffung beliebiger Ressourcen ist für eine multiplanetare Zivilisation kein Problem mehr. Allein die erdnahen Asteroide enthalten mehr Metalle, als die Menschheit im Laufe ihrer ganzen Geschichte abgebaut hat. Und wenn man die sonstigen Körper im Sonnensystem hinzunimmt, dann erkennt man sofort, dass für eine raumfahrende Zivilisation nahezu unendliches Produktionswachstum möglich ist.
Eine Zukunftsgesellschaft, die die Grenzen ihres Planeten überwunden hat, die kontrollierte Kernfusion beherrscht und sämtliche Industriezweige robotisiert – oder durch Nanocompiler ersetzt – hat, wird höchstwahrscheinlich nicht zögern, den nächsten logischen und menschlichen Schritt zu gehen und die Zahlungsmittel abschaffen. Denn unter den Bedingungen einer materiell nicht begrenzten, robotischen Post-Scarcity-Gesellschaft ist es sinnlos, Gegenleistungen für Waren und Dienstleistungen zu verlangen, da die Apparate diese bedingungslos zu Verfügung stellen! Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte würde alle Menschen das Recht auf vollständige freie Entfaltung der Persönlichkeit (jeweils nur begrenzt durch die Freiheit der anderen) genießen. Ein faszinierender Gedanke – und aus Sicht mancher BGE-Aktivisten das Fernziel ihres Konzepts.
Bei aller Sympathie, die ich der BGE-Szene entgegenbringe, betrachte ich sie inzwischen auch mit Distanz: Denn obwohl ich das Konzept der freien Persönlichkeitsentfaltung für sehr erstrebenswert halte, scheinen die meisten BGE’ler dies auf einem Weg erreichen zu wollen, den ich aus mehreren Gründen als kontraproduktiv einschätze. Den vielleicht wichtigsten erwähnte ich schon: Eine Gesellschaft, die sich energetisch nur auf Basis von Windkrafträdern, Solaranlagen u. ä. mühsam durchschlägt, kann sich nicht in Richtung Post-Scarcity entwickeln, da zur Produktion, zur effektiven Ressourcengewinnung und zum Recycling die nötigen Energiemengen fehlen. Und in vielen Ländern auf der Erde stehen heutzutage noch nicht mal die Energieflüsse zur Verfügung, die für eine Industriegesellschaft auf jetzigem Stand benötigt werden würden. In dieser Hinsicht muss ich auf Götz Werners Aussage ‚Wir leben in paradiesischen Zuständen‘ antworten: ‚Ja – allerdings auch nur, wenn mit ‚wir‘ Westeuropa, Nordamerika und einige ostasiatische Länder gemeint sind: die Bürger der Demokratischen Republik Kongo werden ihre Lebensumstände kaum als paradiesisch einschätzen. Und besagte paradiesischen Zustände ziehen ihre Grundlage, die Energie, zu über 80 Prozent aus fossilen – endlichen, umwelt-, gesundheits- und klimaschädlichen – Quellen!‘
Europa ist keine isolierte Insel in einem ansonsten leeren Kosmos. Uns einen hübschen Paradiesgarten mit Grundeinkommen, einem schwachen Energierinnsal aus vereinzelten Windparks und Solarzellen auf Südbalkonen und gentechnikfreiem ‚ökologischem Landbau‘ anzulegen ist weder human noch machbar: Nicht machbar, weil ein Grundeinkommen ohne leistungsstarke Industrie bald kaum noch Wert hätte, nicht human, weil das Hineindämmern in einen statischen Gesellschaftsendzustand den Rest der Welt seinem Schicksal überließe und der menschlichen Natur, die durch Forschergeist und Entwicklungsdrang geprägt ist, Gewalt antäte.
Take a walk on the wild side. Wir haben uns lang genug gefürchtet und vor der Zukunft verkrochen. Das Ziel sind die Sterne und kein Schrebergarten, selbst wenn im Schrebergarten zu sitzen auf den ersten Blick schön friedlich und harmlos wirkt. Doch diese Form von Frieden ist in Wirklichkeit nur eine Betäubung. Wer sich aus Angst vor Veränderungen selbst betäubt, wird mit dem Recht auf persönliche Entfaltung nichts anfangen können, denn was hat man dann schon noch, was sich entfalten könnte! Aber ich glaube nicht, dass Menschen sich langfristig von Angst und Irrationalität beherrschen lassen. Sicher, die innere Comfortzone zu verlassen mag zunächst wie ein kalter Lufthauch wirken. Aber, wie schon Bertrand Russell in anderem Zusammenhang bemerkte, ein kalter Lufthauch kann auch erfrischend sein. Wenn die Menschen erst die Zukunft angepackt haben, werden sie sehen, wie schön das ist: Hoffnung statt Furcht.
Möglicherweise ist dies das Wichtigste: Einen Weg fort von der Angst aufzuzeigen. Kein Mensch fürchtet sich gerne – zwar mag es zuweilen den Anschein haben, dass manche das ‚wohlige Grausen‘ genießen, aber mit diesem ‚Wohlsein‘ ist es wie mit dem Frieden dessen, der sich im Schrebergarten verschanzt: Ein falsches, trügerisches Glück. Echtes Glück ist angstfrei.“
Eine Sekunde lang hielt der ganze Saal den Atem an, wie Menschen es am Ende einer Darbietung tun, um den „Geht-es-noch-weiter?“-Moment verstreichen zu lassen. Dann zischte Applaus auf, erst etwas verhalten, sich aber rasch hochschaukelnd zur Zustimmungsbrandung, die zwar nicht zwangsläufig Zustimmung mit dem Vortrag, aber doch Zustimmung mit der Notwendigkeit ausdrückte, offizielle Veranstaltungen in kollektiver Übereinstimmung beenden zu müssen.
„Schenken Sie mir den Wecker?“ Ich sah überrascht auf. Jenny Bloom hatte die Rednertribüne verlassen und stand mit aufmerksamem Gesicht in geringer Entfernung von mir im Mittelgang. Die übrigen Zuhörer strömten bereits nach draußen, und der Dekan schien zerstreut den Blumenstrauß zu betrachten, der vor der Tribüne auf dem Boden stand.
„Ich habe eben ein sehr, sehr gutes Gehör“, sagte sie, als ich ihr den Wecker reichte. Es schien natürlich, dass er in diesem Augenblick den Besitzer wechseln sollte.
Ich bin mir sicher, dass ich den Wecker wiedersehen werde: Schließlich kann er, beziehungsweise seine neue Besitzerin, mittels der Glocke mich stets sehen. Als ich das Gebäude verließ, hatte der Nebel sich aufgelöst. Es wurde ein wunderschöner Spätsommertag.
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Wie hat es Krafft Ehricke mal so schön gesagt? „Auf dieselbe Art und Weise wie Maschinen die Sklaverei ablösten, wird der wissenschaftliche und technologische Fortschritt neue Zugänge zu Quellen für Nahrung, Energie und Rohstoffe schaffen und dadurch Krieg als Prinzip der Konfliktlösung obsolet machen. Denn statt des Benutzens von Waffen hält dieser Fortschritt den Schlüssel zu unserem Ansehen und andauernden materiellen Reichtum, wie er in der langen vortechnologischen Geschichte der Menschheit nicht möglich gewesen wäre.“