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Laufzeitverlängerung: Der Kanzler will’s nicht wissen

Sollen die Kernkraftwerke weiterbetrieben werden oder nicht? Am vergangenen Freitag äußerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz endlich zur dieser Frage in einem Interview mit dem Münchner Merkur. Ein klares Nein kommt ihm zwar nicht über die Lippen, doch genau das ist sein Ziel. Von Argumenten aus Fachkreisen will Scholz nichts wissen.

Deutschland steckt in der Energiekrise. »Jede Kilowattstunde zählt«, belehrt uns Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und ruft Bürgerinnen und Bürger zum Energiesparen auf. Da liegt der Gedanke auf der Hand, die letzten drei Kernkraftwerke doch noch ein Weilchen länger laufen zu lassen. Denn die liefern nicht nur drei oder vier dieser wertvollen Habeckschen Kilowattstunden, sondern rund 70.000 – und zwar in jeder Minute. Für jede Kilowattstunde, die aus einem Kernkraftwerk kommt, braucht ein Gaskraftwerk nicht zu laufen. Das gesparte Erdgas kann uns zum Heizen dienen oder in der Industrie genutzt werden.

Interview mit dem Münchner Merkur

Sieht Bundeskanzler Olaf Scholz das auch so? Georg Anastasiadis und Christian Deutschländer vom Münchner Merkur fragen Scholz danach, wie er zu einer Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke steht. Der Kanzler handelt das Thema in zehn Sätzen ab:

Merkur: Sie haben im Bundestag eine Zeitenwende ausgerufen. Gehört dazu nicht auch, die verbliebenen AKWs noch länger laufen zu lassen, um nicht knappes und kostbares Gas verstromen zu müssen?

Scholz: Die Fachleute sagen uns: Das wird nicht funktionieren. Der Atomausstieg ist lange beschlossen, die Brennelemente und nötigen Wartungsintervalle der Anlagen sind genau auf den Ausstieg abgestimmt worden. Die Brennstäbe reichen bis Jahresende. Neue Brennstäbe zu besorgen, dauert nach diesen Aussagen zwölf bis 18 Monate. Mindestens. Deshalb hilft uns die Atomkraft jetzt nicht weiter, nicht in den beiden nächsten Jahren, auf die es ankommt.

Merkur: Sie haben also kein ideologisches Problem mit AKWs, sondern ein praktisches?

Scholz: Ich befürworte den Ausstieg aus der Atomenergie aus vollem Herzen. Gleichwohl: Wenn es problemlos möglich wäre, die Laufzeit um ein oder zwei Jahre zu verlängern, würde sich jetzt wohl kaum jemand dagegen stellen. Da das aber offenbar nicht möglich ist, halte ich mich mit der Frage nicht lange auf.

Merkur: Die CSU sagt: wenigstens bis 2024. Wir hören heute kein kategorisches Nein?

Scholz: Die Argumente der Fachleute, die gegen eine Verlängerung sprechen, sind bisher nirgends widerlegt worden.

Scholz und seine Fachleute

Die Fachleute sind Scholz wichtig. Auf sie beruft er sich sowohl im ersten als auch im letzten Satz des atompolitischen Teils des Interviews. Diese beiden Sätze bilden gleichsam eine Klammer um alles andere. Klar, die technischen und juristischen Fragen, die mit dem Betrieb von Kernkraftwerken verbunden sind, die kann so ein Bundeskanzler ja nicht beurteilen. Dazu braucht er Fachleute.

Deren Einschätzung ist für Scholz zugleich eine Rückversicherung: Sollten die Fachleute mit ihrer Einschätzung falsch liegen, dann ist wenigstens nicht er schuld. Wobei er natürlich trotzdem die Verantwortung für die Folgen einer falschen Entscheidung trägt.

Nicht lange aufhalten mit der Frage nach der Kernkraft

Hat Olaf Scholz denn gar keine eigene Meinung in dieser Frage? Oh doch, die hat er! Er macht sie in den beiden Schlüsselsätzen des Interviews deutlich, in denen er »ich« sagt. »Ich befürworte den Ausstieg aus der Atomenergie aus vollem Herzen«, lautet der erste Satz. Das ist seine Motivation, das ist, was ihn antreibt: Raus aus der Atomenergie! Aus vollem Herzen! Olaf Scholz will keine Laufzeitverlängerung. Er ist diese Diskussion sowas von leid! Die Kernkraft ist ihm ein Greuel. »Der Atomausstieg ist lange beschlossen«, sagt er. Und nach über zwanzig Jahren Kampf soll ihm kurz vor dem Ziel so eine blöde Energiekrise in die Quere kommen und die Sache doch noch kippen? Das geht gar nicht! Die Kernkraft muss weg, koste es, was es wolle – basta! Und da eine Laufzeitverlängerung ja angeblich sowieso nicht möglich sei, – es folgt der zweite Ich-Satz – »halte ich mich mit der Frage nicht lange auf.«

Ja, es ist gefährlich, sich lange mit Fragen aufzuhalten, erst recht mit dieser. Denn durch die gründliche Beschäftigung mit einem Thema könnte man könnte womöglich zu einer neuen, differenzierten und besser begründeten Ansicht kommen. Wer aber den Atomausstieg »aus vollem Herzen« will, der vermeidet so etwas besser, der »hält sich nicht auf« und der hält vor allem nicht den Atomausstieg auf.

Die Fachleute von Olaf Scholz sind gar keine

Nur gut, wenn Fachleute diese Sicht der Dinge bestätigen! Aber was für Fachleute sind das eigentlich? Scholz verrät es nicht. Sie bleiben bei ihm abstrakt, gesichts- und namenlos.

Doch die Argumente, die Scholz dann nennt, machen klar: Das stammt aus dem sogenannten »Prüfvermerk«, einem Papier aus dem Bundesumweltministerium. Es wurde Anfang März wohl von einem ungenannten Ministerialbeamten in kurzer Zeit zusammengeschrieben. Fachorganisationen und Experten wurden dazu nicht befragt. So ist der Prüfvermerk geprägt durch die beschränkte fachliche Kompetenz des Ministeriums. Eine neutrale, objektive Beurteilung der Kernenergie ist von dem seit vielen Jahren antinuklear geprägten Umweltministerium ohnehin nicht zu erwarten, erst recht nicht unter Leitung der Grünen Steffi Lemke.

Fachkritik am Prüfvermerk

Zum Prüfvermerk hagelte es denn auch Kritik aus Fachkreisen. Punkt für Punkt wurde das Papier widerlegt. Wichtige Beiträge in dieser Debatte stammen etwa vom Branchenverband Kerntechnik Deutschland, der mit den technischen und juristischen Falschaussagen des Prüfvermerks aufräumt, oder vom TÜV-Verband, der einen Weiterbetrieb der noch laufenden Kernkraftwerke aus sicherheits- und prüftechnischer Sicht für umsetzbar hält. Ein Rechtsgutachten der Ruhruniversität Bochum und eine Einschätzung des Atomrechtlers Christian Raetzke bestätigen: Für den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ist keine neue Betriebsgenehmigung erforderlich. Die Nuklearia erläuterte, dass die Brennelemente, die sich jetzt in den Reaktoren befinden, auch über den 31. Dezember 2022 hinaus genutzt werden können – im sogenannten Streckbetrieb bei fallender Leistung und zwar bis in den Juli oder August 2023 hinein.

Die Bundesregierung lässt das unbeeindruckt. Statt auf die Kritik einzugehen und sie zu widerlegen, tut sie so, als gebe es sie gar nicht. Nachfragen beim Bundeswirtschaftsministerium auf Twitter nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Kritik am Prüfvermerk beantwortet das Ministerium mit dem Prüfvermerk selbst oder mit Worthülsen.

Twitter-Screenshot
Nachfragen nach einer Auseinandersezung mit der Kritik am Prüfbericht beantwortet das Bundeswirtschaftsministerium – mit dem Prüfbericht …
Twitter-Screenshot
… oder mit Worthülsen.

Von Sachkritik will Scholz nichts wissen

Auch der Bundeskanzler will von Sachkritik nichts wissen. Er befürwortet ja den Ausstieg aus der Atomenergie »aus vollem Herzen« und deshalb »halte ich mich mit der Frage nicht lange auf«, schon gar nicht mit unerwünschter Sachkritik.

»Die Argumente der Fachleute, die gegen eine Verlängerung sprechen, sind bisher nirgends widerlegt worden«, sagt Scholz. Er sagt die Unwahrheit. Aber wer sich »mit der Frage nicht lange aufhält«, wer sich die Ohren zuhält, um nur nichts wahrzunehmen, das den eigenen Standpunkt in Frage stellt, wer nur auf die Ja-Sager in den eigenen Reihen hört, der verliert den Blick für die Realität. Wer beim Überqueren der Straße auf das Smartphone guckt statt nach links und rechts, der bekommt auch nicht mit, was da auf ihn zukommt.

Nein, lieber Olaf Scholz, die Argumente der »Fachleute«, auf die Sie sich berufen, sind längst widerlegt. Und behaupten Sie bloß nicht, Sie wüssten das nicht! Damit kommen Sie nicht durch. Als Bundeskanzler tragen Sie Verantwortung dafür, die Fakten zu kennen und entsprechend zu handeln!

War da nicht was mit Klimawandel?

Drei Monate hat die Bundesregierung nun schon mit Nichtstun vertrödelt. Das ist offenbar die Taktik, um das Thema zum Jahresende vom Tisch zu kriegen.

Um die Stromversorgung zu sichern, sollen nun ausgerechnet die Kohlekraftwerke ran, also Anlagen, die Menschenleben kosten – heute durch Luftvermutzung, morgen und übermorgen durch ihren Beitrag zum Klimawandel. Es ist eine Ironie der Geschichte, das dies ausgerechnet eine Bundesregierung mit grüner Beteiligung veranlasst. Aber im Zweifelsfall geht Versorgungssicherheit vor Klimaschutz, immer und überall. Die CO₂-Emissionen steigen. Anti-Atom hat fertig, Energiewende hat fertig.

Was wir jetzt brauchen

  1. Der Bundestag muss sofort das Atomgesetz ändern und die Begrenzung von Laufzeiten und Strommengen der Kernkraftwerke streichen. Das ist der entscheidende Schritt, auf dem alles Weitere aufbaut. Er gibt den Kernkraftwerksbetreibern die rechtliche Grundlage für den Weiterbetrieb und für sämtliche Schritte, die damit verbunden sind, etwa Brennstoffbeschaffung, Personalplanung, Vorbereitung des Streckbetriebs, Investitionen usw.
  2. Die Betreiber bestellen frische Brennelemente. Die liegen nicht im Regal, sondern werden nur auf Bestellung angefertigt. Je früher die Bestellung raus ist, desto früher sind die Brennelemente einsatzbereit.
  3. Vertragliche Regelungen mit den Betreibern, die diesen Investitionssicherheit geben. Das ist wichtig für den Fall, dass irgendeine künftige Bundesregierung die Kernenergie doch wieder verbieten will.
  4. Falls ein Betreiber sein Kernkraftwerk dennoch nicht weiterbetreiben will – RWE äußerte sich zuletzt in dieser Richtung –, sollte es der Staat übernehmen und als öffentliches Unternehmen weiterführen. Der Finanzminister wird sich über die zusätzlichen Einnahmen freuen.
  5. Weiterbetrieb der Kernkraftwerke Anlagen Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 von Januar bis ca. Juli/August 2023 im Streckbetrieb. Einsatz frischer Brennelemente, sobald diese verfügbar sind. Wann das sein wird und ob es zu einer Unterbrechung der Versorgung kommen wird, steht in der Verantwortung der Bundesregierung, Stichwort Änderung des Atomgesetzes.
  6. Reaktivierung der Ende 2021 abgeschalteten Kernkraftwerke. Die Kernkraftwerke Brokdorf und Grohde haben noch keine Rückbaugenehmigung erhalten, so dass sich der Aufwand in Grenzen halten dürfte. In Gundremmingen C hat der Rückbau bereits begonnen. Hier ist es aufwendiger, die Anlage wieder betriebsbereit zu machen.
  7. Planung und Bau neuer Kernkraftwerke der Generation III+. Eventuell ist auch der Einsatz modularer Kleinreaktoren sinnvoll. Die werden in Reaktorfabriken in Serie hergestellt und brauchen am Einsatzort nur noch zusammengesetzt zu werden. Das sollte den Zeitbedarf für Genehmigungsverfahren und Aufbau im Vergleich zu Großreaktoren verkürzen.
  8. Ausbildung von Fachpersonal für Anlagen und Aufsichtsbehörden.
  9. Forschung und Entwicklung an Kernreaktoren der Generation IV.

Titelbild: Kernkraftwerk Isar. Quelle: Harke, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons


Rainer Klute

Rainer Klute ist Diplom-Informatiker, Nebenfach-Physiker und Vorsitzender des Nuklearia e. V. Seine Berufung zur Kernenergie erfuhr er im Jahr 2011, als durch Erdbeben und Tsunami in Japan und das nachfolgende Reaktorunglück im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi auch einer seiner Söhne betroffen war.

Über die Nuklearia

Die Nuklearia ist ein gemeinnütziger, industrie- und parteiunabhängiger eingetragener Verein, der die Kernenergie als Chance begreift und darüber aufklären will. Wir sehen die Kernkraft als besten Weg, die Natur und das Klima zu schützen und gleichzeitig unseren Wohlstand zu erhalten. Denn Kernenergie ist emissionsarm, braucht sehr wenig Fläche und steht jederzeit zur Verfügung. Unser Ansatz ist wissenschafts- und faktenbasiert, unsere Vision humanistisch: erschwingliche und saubere Energie für alle.

3 Antworten

  1. Richtig, Olaf Scholz wird nicht durchkommen.
    Richtig, bei drohendem Blackout 2023 will keiner Schuld haben. Unglaubwürdig ist auch das Verhalten der deutschen Atomindustrie: Jahrelang wurde gesagt, das Laufzeitverlängerungen nicht möglich oder erwünscht sind, jetzt plötzlich wollen sie sich drehen.
    Und ich sage auch weshalb: Wie alle wollen sie keine Schuld haben.

    Zur Reaktivierung Brokdorf, Grohnde, Gundremmingen C:
    Unrealistisch, wegen folgender Argumente:
    1) Technisch nach meinem Kenntnisstand nicht so gut wie die drei Konvoi-Reaktoren. Zurzeit wird nichts gemacht, auch bei Gundremmingen C wird nach meinen Informationen noch kein aktiver Rückbau betrieben oder Fehler?
    2) Die Reaktoroperateure vor Ort sind schon nicht mehr bei der konkreten Arbeit, ebenfalls bekommen sie keine Schulungen mehr im Simulationszentrum Essen. Ohne Praxis wird das Know how schnell verloren gehen.
    3) Die Personaldecke an Operateuren als auch an dahinter stehenden Experten (u.a. das eben erwähnte Zentrum in Essen) ist so ausgedünnt, dass wohl nur der ZEITVERZÖGERTE Weiterbertrieb der drei Konvoi-Reaktoren irgendwann im Laufe des Jahres 2023 möglich ist. Wie lange, darüber will ich nicht mutmaßen.
    Richtig ist, dass die drei Konvoi-Reaktoren am besten verstaatlicht werden sollten.
    Richtig ist, dass bei Gen III+ die SMR bei Anlagengrößen unterhalb von 500 MW sinnvoll sind. Zwischen 500 – 800 MW entscheidet der Preis und die Verfügbarkeit vor Ort und ab 1.000 MW werden die großen Druckwasserreaktoren klar im Vorteil sein.
    Gen IV: Am meisten Kompetenz hat natürlich das Generation IV Forum. In der Praxis wird es sowohl um die richtigen Konzepte als auch die richtigen Mitarbeiter als aber auch ums Geld gehen. Die Chinesen haben Geld, sie werden mit ihrem Flüssigsalzreaktorkonzept Erfolg haben.

  2. Das Schlimme ist, die Konzerne haben Geld bekommen um die Kernenergieanlagen abzuschalten, und nun wollen sie wieder Geld von Staat haben, das die verbliebenen 6 Anlagen wieder ans Netz gehen bzw. Weiterbetrieben werden.
    So ist das halt,wenn man von Kaspern regiert wird — kommt uns alles teuer zu stehen. Aber die Deutschen haben ja Geld. … kaufen Sie halt weniger Autos! Kann sich ja künftig eh keiner mehr leisten, Individualverkehr!

    1. Ich habe bislang von keinen Forderungen der Betreiber nach Geld für den Weiterbetrieb gehört. Das wäre ja sowieso Verhandlungssache. Die Anlagen würden diese Kosten jedenfalls sehr schnell wieder einspielen, nämlich binnen weniger Monate.

      Aber zu allererst muss das Atomgesetz geändert werden. Das ist die Basis für alles andere.

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