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Europas Atomwende

Von Mathijs Beckers

Die Kernenergie in der EU befindet sich im Umbruch. Zwar hatte die EU jahrelang ehrgeizige Ziele bei der Reduzierung der CO₂-Emissionen, doch die von der EU und ihren Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen waren alles andere als effektiv, und ein immer größerer Teil der Bevölkerung und der Gesetzgeber beginnt dies zu erkennen. Auch dank der aktuellen Erdgaskrise.

Die meisten EU-Mitgliedstaaten haben vergeblich versucht, sich von fossilen Brennstoffen zu lösen, indem sie massiv in erneuerbare Energiequellen wie Wind und Sonne investierten. Diese viel gepriesenen Technologien wurden von 2008 bis 2019 mit weit mehr als einer halben Billion Euro aus Steuergeldern gefördert [i]. Und mit dem zunehmenden Einsatz erneuerbarer Energien und von Elektrofahrzeugen braucht das EU-Netz eine weitere halbe Billion Euro, nur um all diesen Strom zu den Verbrauchern zu bringen [ii].

Der Grund dafür ist recht einfach: Die Fortbewegung mit Hilfe chemischer Brennstoffe ist einfach. Chemische Brennstoffe eignen sich hervorragend, um Energie zu speichern und zu transportieren. Will man eine entsprechende Menge elektrischer Energie transportieren, braucht man dafür die entsprechende Kapazität. Und diese Kapazität wird in Watt angegeben. Mehr Watt bedeuten schlicht mehr Kabel. Da der Kapazitätsfaktor der erneuerbaren Energieträger relativ gering ist und insgesamt deutlich unter 50 % liegt [iii], muss man mehr in Kabel investieren als bei fossilen Generatoren, die mit einem Kapazitätsfaktor von deutlich über 60 bis 65 % arbeiten. Wenn man dann noch das Problem der weiteren Elektrifizierung hinzunimmt, wird klar, warum immer mehr Stromleitungen nötig sind.

Der Atomausstieg macht Europa verwundbarer

Trotz all dieser Investitionen befindet sich die EU derzeit in einer massiven Energiekrise. Seit Jahren hat die EU versucht, ihren Anteil an Kernenergie zu verringern und ihren Anteil an Erdgas zu erhöhen. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder war einer der Vordenker dieser Entwicklung [iv]. Dank seiner Lobbyarbeit auf höchster Ebene wurden die Pipelines Nord Stream 1 und 2 gebaut [v], und Deutschland [vi] und viele andere Länder begannen, in zusätzliche Kapazitäten für Stromerzeugung und Heizung mit Erdgas zu investieren.

Gleichzeitig gab Schröder den Grünen, was sie wollten: den Atomausstieg. Seitdem ist Deutschland führend in der Zerschlagung der Kernreaktoren. Seit 2011 [vii] wurden 16 Gigawatt Kernkraftwerkskapazität stillgelegt, seitdem Angela Merkel durch den Fukushima-Unfall unnötig in Panik geraten war. Die beschleunigte Abschaltung von Kernkraftwerken war eine politische Entscheidung, um angesichts der drohenden Wahlniederlage der Grünen das Gesicht zu wahren. Weitere 4 Gigawatt sind heute noch in Betrieb und sollen Anfang nächsten Jahres stillgelegt werden. Das Ergebnis des deutschen Atomausstiegs ist offensichtlich: Er hat Europa viel verwundbarer für Gaspreisschocks gemacht.

Belgien geht den gleichen Weg [viii], hat den ersten von sieben Reaktoren stillgelegt und erwägt, auch die anderen sechs zu schließen. Vor knapp einem Jahr behauptete die belgische Bundesministerin Tinne van der Straeten, dass es für Belgien von Vorteil wäre, die Kernkraftwerke abzuschalten und mehr Gaskraftwerke zu bauen [ix]. Bis heute ist van der Straeten Bundesministerin in Belgien. Erfreulicherweise gewinnt sowohl in Deutschland als auch in Belgien die politische Strömung, die die Kernenergie weiterhin nutzen will, von Tag zu Tag mehr an Boden, aber wir wissen noch nicht, ob das für die derzeitigen Reaktoren, die von der Stilllegung bedroht sind, schnell genug gehen wird.

Frankreich kassiert teilweisen Atomausstieg

Angesichts der realen Bedrohung, die die Gaskrise für die europäische Industrie und die Verbraucher darstellt, dämmert es den Menschen und den politischen Entscheidungsträgern in der EU, dass es nicht genügt, einfach nur in erneuerbare Energien und Kabel zu investieren, und sie beginnen zu erkennen, dass der Ausstieg aus der Kernenergie keine Strategie ist, die die EU zu einer stabilen und tiefgreifenden Dekarbonisierung führen wird.

Im Jahr 2014, also vor nicht einmal einem Jahrzehnt, erklärte Frankreich unter der Führung von Francois Hollande seine Absicht, die Abhängigkeit von der Kernenergie auf unter 50 % der gesamten Stromerzeugung zu reduzieren [x]. Als Folge davon wurde das Kernkraftwerk Fessenheim Jahre später abgeschaltet [xi]. Technisch war das Kraftwerk Fessenheim in einem hervorragenden Zustand. Leider war es das älteste in Betrieb befindliche Kernkraftwerk und lag am Rhein, der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland. Die Stilllegung der Blöcke 1 und 2 von Fessenheim bedeutete den Verlust von 1840 Megawatt stabiler und umweltfreundlicher Stromerzeugung [xii].

Jetzt, im Jahr 2022, hat sich die Situation komplett gedreht. Die Macron-Regierung hat die 50-Prozent-Politik verworfen und kürzlich angekündigt, bis zu vierzehn neue Kernreaktoren zu bauen [xiii], von denen sie annimmt, dass sie nötig sein werden, um die Stromversorgung zu sichern.

Nach der Entscheidung Frankreichs, sich erneut für die Kernenergie stark zu machen und neue Reaktoren zu planen, springen nun auch Schweden, die Niederlande, Estland und Lettland sowie Polen auf den Atomzug auf.

Polen steigt in die Kernkraft ein, die Niederlande bauen aus

Anfang dieser Woche hat Polen mit der Ankündigung eines staatlich geführten Atomprogramms die Führung in Europa übernommen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und die US-amerikanische Energieministerin Jennifer Granholm gaben bekannt, dass die USA und Polen eine Vereinbarung über den Bau von sechs neuen Westinghouse AP1000 in Polen getroffen haben [xiv],[xv]. Darüber hinaus hat das polnische Unternehmen Synthos Green Energy angekündigt, dass es etwa 10 GE-Hitachi BWRX-300-Reaktoren bauen will [xvi].

Anfang dieses Jahres kündigte die niederländische Regierung ihr Vorhaben an, zwei Großreaktoren zu bauen [xvii] und 5 Milliarden Euro für den Bau neuer Kernkraftwerke bereitzustellen [xviii]. ULC-Energy und Rolls Royce unterzeichneten eine Absichtserklärung, um das Geschäftsmodell für die Kleinreaktoren (Small Modular Reactor, SMR) von Rolls Royce in den Niederlanden zu entwickeln [xix]. Das niederländische Startup-Unternehmen Thorizon konnte sich 12,5 Millionen Euro für die Entwicklung seines neuen Kernreaktorkonzepts sichern [xx].

Atomare Kurskorrektur in Schweden

Schweden hat eine ähnliche Kurskorrektur wie Frankreich vorgenommen. Dort wurden Kernkraftwerke lange Zeit mit einer Sondersteuer belegt, die schließlich zur absehbaren Schließung von Ringhals 1 [xxi] und 2 [xxii] führte. Nun wurde eine neue Regierung gewählt, die die Dinge umkrempeln will. Erstens kündigte sie an, das Ziel »100 % erneuerbare Energien« durch das Ziel »100 % frei von fossilen Brennstoffen« zu ersetzen – ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied. Zweitens hat Schweden angekündigt, die Vorschriften aufzuheben, die die Zahl der Kernkraftwerke auf drei und die Zahl der Kernreaktoren auf zehn begrenzen. Außerdem wurde eine neue Strategie beschlossen, die die Entwicklung neuer Kernkraftwerke beschleunigen soll [xxiii].

Auch Privatunternahmen investieren in Kernenergie

Im Vereinigten Königreich sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Während der Bau von Hinkley Point C endlich Fahrt aufnimmt, rückt die endgültige Entscheidung über den Baubeginn des EPR-Duos in Sizewell Point C von Tag zu Tag näher [xxiv]. In der Zwischenzeit arbeiten die britische Regierung und Rolls Royce an der Entwicklung und dem voraussichtlichen Einsatz von mindestens 16 SMR von Rolls Royce [xxv].

Auch in anderen europäischen Ländern ist der Bau neuer Kernkraftwerke in Planung oder bereits im Gange: in der Schweiz, Estland, Lettland, Bulgarien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien [xxvi]. Zusammengenommen (einschließlich des Vereinigten Königreichs) werden 16 Länder in den nächsten Jahrzehnten neue Kernkraftkapazitäten in ihre Stromnetze integrieren. Einige Länder setzen nach wie vor auf WWER aus russischer Produktion, während der französische EPR und der amerikanische AP1000 die Reaktoren sein dürften, die auf Landesebene zum Einsatz kommen werden.

Neben all diesen Entwicklungen auf der Ebene der einzelnen Länder sehen wir auch eine rege Nachfrage privater Unternehmen nach SMR in Europa. Unternehmen wie Fermi Energia, Fortum, Kärnfull Next, Synthos Green Energy, Vattenfall, CEZ Group, Nuclearelectrica, ULC-Energy und 18 for 0 arbeiten allesamt aktiv an der Entwicklung von Geschäftsmodellen für Kleinreaktoren in Europa.

Man kann also mit Fug und Recht von einer europäischen Renaissance der Kernenergie sprechen. Während man sich ein Jahrzehnt lang von der Kernkraft abgewendet hat, sind zahlreiche Länder und Unternehmen zur Besinnung gekommen und befassen sich wieder mit dem Bau neuer Kernkraftwerke. Nun müssen diesen Worten auch Taten folgen. Einige Länder haben ihre Ziele bereits quantifiziert. Sobald der erste nukleare Beton gegossen ist, geht es los!

Anmerkungen der Redaktion:

  • In der Schweiz wird der Neubau von Kernkraftwerken zwar diskutiert, konkrete Planungen gibt es aber noch nicht.
  • Das Kernkraftwerk Fessenheim wurde stillgelegt, weil Betreiber EDF die für einen Weiterbetrieb erforderlichen Investitionen in Nachrüstungen unter den gegebenen Rahmenbedingungen als nicht sinnvoll ansah.

Quellen

[i] https://www.eca.europa.eu/Lists/ECADocuments/RW22_01/RW_Energy_taxation_EN.pdf

[ii] https://www.reuters.com/business/sustainable-business/eus-green-shift-depends-mammoth-investment-energy-grid-draft-2022-09-23/

[iii] https://windeurope.org/about-wind/daily-wind/capacity-factors

[iv] https://www.nytimes.com/2022/04/23/world/europe/schroder-germany-russia-gas-ukraine-war-energy.html

[v] https://warsawinstitute.org/case-gerhard-schroeder-german-hypocrisy/

[vi] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_geplanter_und_im_Bau_befindlicher_Gaskraftwerke_in_Deutschland

[vii] https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_power_in_Germany

[viii] https://world-nuclear-news.org/Articles/First-Belgian-power-reactor-shut-down.

[ix] https://www.brusselstimes.com/167347/belgium-council-of-ministers-approves-auction-of-two-to-three-gas-fired-power-plants-tinne-van-der-straeten-crm-bill-nuclear-phaseout

[x] https://www.world-nuclear-news.org/NP-New-French-energy-policy-to-limit-nuclear-1806144.html

[xi] https://www.nucnet.org/news/unit-2-at-france-s-oldest-nuclear-station-shuts-downs-for-good-6-2-2020

[xii] https://en.wikipedia.org/wiki/Fessenheim_Nuclear_Power_Plant

[xiii] https://www.theguardian.com/world/2022/feb/10/france-to-build-up-to-14-new-nuclear-reactors-by-2050-says-macron

[xiv] https://www.reuters.com/world/poland-picks-us-offer-its-first-nuclear-power-plant-pm-2022-10-28/

[xv] https://www.world-nuclear-news.org/Articles/Westinghouse-developing-Polish-AP1000-supply-chain

[xvi] https://www.world-nuclear-news.org/Articles/Collaboration-for-Polish-deployment-of-BWRX-300

[xvii] https://www.politico.eu/article/netherlands-to-build-new-nuclear-plants-under-coalition-deal/

[xviii] https://www.neimagazine.com/news/newsnetherlands-plan-for-2025-supports-nuclear-newbuild-9329464

[xix] https://www.rolls-royce-smr.com/press/rolls-royce-smr-and-ulc-energy-collaborate

[xx] https://www.vectrix.nl/nieuws/7827/thorizon-haalt-12-5-miljoen-op/

[xxi] https://group.vattenfall.com/press-and-media/newsroom/2021/the-ringhals-1-reactor-has-crossed-the-finish-line

[xxii] https://group.vattenfall.com/press-and-media/newsroom/2019/ringhals-2-nuclear-plant-shuts-down

[xxiii] https://www.world-nuclear-news.org/Articles/New-Swedish-government-seeks-expansion-of-nuclear

[xxiv] https://www.bbc.com/news/uk-england-suffolk-62035444

[xxv] https://www.energylivenews.com/2020/11/12/rolls-royce-unveils-plans-for-16-mini-nuclear-plants-in-the-uk/

[xxvi] https://world-nuclear.org/information-library/country-profiles/others/european-union.aspx


Mathijs Beckers ist Autor und Vlogger mit einem Abschluss in Informationstechnik. Er ist Autor von Climate Zero Hour, The Non-Solutions Project, Science a la Carte und Highway to Dystopia und betreibt den YouTube-Kanal Nuclear Humanist. Er lebt in Geleen, Niederlande.


Dieser Artikel erschien im englischsprachigen Original bei The 4th Generation.

Über die Nuklearia

Die Nuklearia ist ein gemeinnütziger, industrie- und parteiunabhängiger eingetragener Verein, der die Kernenergie als Chance begreift und darüber aufklären will. Wir sehen die Kernkraft als besten Weg, die Natur und das Klima zu schützen und gleichzeitig unseren Wohlstand zu erhalten. Denn Kernenergie ist emissionsarm, braucht sehr wenig Fläche und steht jederzeit zur Verfügung. Unser Ansatz ist wissenschafts- und faktenbasiert, unsere Vision humanistisch: erschwingliche und saubere Energie für alle.

Eine Antwort

  1. Zitat: „seitdem Angela Merkel durch den Fukushima-Unfall unnötig in Panik geraten war.“

    Frau Merkel ist Physikerin und Politikerin. Die war nicht unnötig in Panik, die wollte nur gerne Kanzlerin bleiben und das ging zu dem Zeitpunkt nur ohne Atomkraft.

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