Von Dr. Anna Veronika Wendland
Die Osteuropa- und Technikhistorikerin Dr. Anna Veronika Wendland hatte in den 1980ern vor den Toren Tschernobyls in Kiew ihr Studium absolviert. Kernenergie war für sie lange keine Option, ganz im Gegenteil. Nach dem Reaktorunfall in Fukushima-Daiichi begann sie ein Forschungsprojekt, das sie in viele Kernkraftwerke und zu einem intensiven Studium der Anlagen führte. Dies änderte ihre Haltung zur Kernenergie radikal, wie sie in unserer Serie »Mein Fukushima« erzählt.
Ich kam am 11. März 2011 mittags von der Arbeit nach Hause. Mein Mann, der zu der Zeit gerade angefangen hatte, Japanisch zu lernen, sagte mir, dass es ein schreckliches Erdbeben mit Tsunami in Japan gegeben habe und ein Kernkraftwerk betroffen sei.
Ich weiß noch, dass ich alle meine solide gefügten Atomgegnerkenntnisse der Reaktortechnik zusammennahm und ihm sagte, »Wenn sie die Nachwärmeabfuhr nicht hinkriegen, dann verlieren sie die Anlagen in einigen Stunden.« Leider wurden die schlimmsten Befürchtungen schon bald bestätigt. Wir sahen fassungslos die verwischten, körnigen Bilder der Wasserstoffexplosionen im Fernsehen.
Fukushima-Unglück mit Tauchsieder erklärt
Mein ukrainischer Mann hatte ein schlimmes Déja-Vu, weil er nach dem Unfall von Tschernobyl als Achtzehnjähriger in Kiew ausgeharrt hatte.
Zur Emotionsabfuhr ätzten wir rum: »Jedesmal, wenn in unserer Familie jemand eine neue Fremdsprache lernt, passiert in dem Land ein Reaktorunfall.« Dann erklärte ich unseren drei Söhnen, damals 9, 7 und 5 Jahre alt, mit Hilfe eines Tauchsieders, was das Problem da am anderen Ende der Welt war.
Wir fühlten wegen unseres ukrainischen Familienhintergrundes sehr stark mit den Japanern und waren trotz des hohen Opferzolls des Tōhoku-Erdbebens ungeheuer froh, dass der Atomunfall keine direkten Opfer forderte. Der Unfall von Fukushima wurde für mich zur Initialzündung, endlich damit anzufangen, was ich schon nach Tschernobyl jahrelang mit mir herumgetragen hatte, nämlich Vergangenheitsbewältigung zu machen und ein Forschungsprojekt über die nuklearen Lebens- und Arbeitswelten in Osteuropa und anderswo aufzulegen. Ich lebte einige Zeit in einer ukrainischen Atomstadt und forschte in vielen Kernkraftwerken als »industrial anthropologist« zu Mensch-Maschine-Beziehungen in der Kerntechnik. Gerade ist mein Buch fertig geworden.
Wissenschaftlich begründet: Ausstiegsentscheidung war falsch
Dass ich über diesem Forschungs- und Lernprozess auch meine Ansichten zur Kernenergie radikal ändern würde, ahnte ich damals noch nicht. Auch nicht, dass dieser Unfall ausgerechnet die deutschen Kernkraftwerke mit ihren ausgefeilten Sicherheitsrepertoires zur Strecke bringen würde. Jetzt, 10 Jahre später, kann ich wissenschaftlich begründen, warum diese Ausstiegsentscheidung falsch war, und werde von Journalisten darüber befragt. Schade, dass ich es nicht früher konnte.
Eine Antwort
Eigentlich sollte die Aufklärung dazu führen, dass man rational getrieben Entscheidungen treffen kann. Vorher waren die Machtstrukturen eher statisch auf Erbschaft gegründet und oftmals von Analphabeten exekutiert. Umso überraschender, dass de Entscheidungen der Altvorderen im Nachhinein überraschend vernünftig erschienen, die heutigen aber allein durch ein dumpfes Bauchgefühl verstehbar werden. Er fragt heute noch nach vernünftigen Argumenten, die etwas anderes sein sollen als die Bestätigung meiner vorher gegildeten Meinung?