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Am 31.Dezember 2021 endete der Leistungsbetrieb des Kernkraftwerks Brokdorf. Nur wenige Wochen später erschütterten unvorhergesehene Entwicklungen die Welt – und die Kernenergie rückte wieder in den Blick. Trotzdem ist es um das Kernkraftwerk Brokdorf seltsam still geworden. Ist diese Stille eher Friedhofsruhe oder Dornröschenschlaf? Um sich vor Ort ein Bild zu machen, sind die Aktivisten Alyssa Hayes und Mark Nelson aus den USA angereist. Ihr erster Eindruck: Sie finden das Kraftwerk einfach schön.
»Es bricht mir das Herz zu sehen, wie ein großartiger Klimaschützer Jahrzehnte vor seiner Zeit abgeschaltet wird«, sagt Alyssa Hayes. Die junge Doktorandin der Nukleartechnik an der Universität von Tennessee setzte sich seit vielen Jahren für die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken in ihrem Heimatstaat Illinois ein – und das mit Erfolg. Die öffentliche Meinung hat sich in den USA deutlich früher gewandelt als in Deutschland.
»Brokdorf nicht zu nutzen, grenzt an Sabotage«
Der Kontakt zu Alyssa und Mark entstand durch das Hochschulprojekt »Brokdorf bleibt« der Hamburger University of Europe for Applied Sciences. Im Sommer 2023 nahmen die beiden an einer Tour durch das Kraftwerk Brokdorf teil. Marks Fazit: »Das Kraftwerk ist technisch in einem hervorragenden Zustand und gehört zu den zuverlässigsten und leistungsstärksten Anlagen der Welt. Jedes andere Land wäre stolz auf diese Ingenieurskunst und zudem froh, in Zeiten multipler Krisen auf dieses Potential zugreifen zu können. Diese Anlage zu vernichten, grenzt aus meiner Sicht an Sabotage.«
Wie Alyssa ist auch Mark Nuklearingenieur. Und wie Alyssa unterstützt er Kampagnen zum Weiterbetrieb von Kernkraftwerken. Für das Kernkraftwerk Diablo Canyon in Kalifornien zum Beispiel erreichten er und seine Mitstreiter kürzlich eine Laufzeitverlängerung. »Alles spricht auch in Brokdorf für die Neubewertung der Situation und dafür, die intakte Anlage wieder in Betrieb zu nehmen. Ein Neustart ist technisch möglich. Es sind sogar noch Brennelemente für ein Jahr Leistungsbetrieb vorhanden. Was hier fehlt, sind starke Signale aus der Politik.«
Gewaltige Mengen an emissionsfreier Energie möglich
Ohne Rückhalt in der Politik wird die Betreiberfirma PreussenElektra gar keine andere Wahl haben, als die Anlage zu demontieren. Noch ist allerdings nichts Irreversibles vollzogen: Die Genehmigungen zum Beginn des Rückbaus stehen aus. Nach der Besichtigung sind Alyssa und Mark auf dem Elbdeich unterwegs und sammeln Eindrücke in der Gemeinde Brokdorf. Sie erfahren aus erster Hand, wie wichtig die Anlage für die Region war und dass die meisten Anwohner die Kernkraft positiv bewerten.
Mark sieht den möglichen großen Beitrag des Kraftwerks in einer neu ausbalancierten Energiestrategie: »Dieses Kraftwerk kann gewaltige Mengen Energie erzeugen und beinahe ganz Hamburg mit Strom versorgen. Dekarbonisierung bedeutet aber neben Strom auch, dass wir emissionsarme Energiequellen für Verkehr und Heizung finden müssen. Wenn das Kraftwerk Brokdorf in Betrieb bliebe, könnte es Teil der Wasserstoffwirtschaft werden – weltweit werden Kernkraftwerke zu diesem Zweck gebaut oder aufgerüstet.«
»Deutschland kann die Abschaltung dieser sauberen Stromquelle, die zum größten Teil durch fossile Brennstoffe ersetzt wird, noch immer rückgängig machen«, sagt Alyssa. »Deutschland müsste nicht zurück zur Braunkohle, wenn es seine Kernkraftwerke behalten würde. Wir müssen den Klimawandel ernst nehmen.«
Tatsächlich hat die deutsche Politik und auch ein großer Teil der Öffentlichkeit den Klimawandel als ernste Bedrohung auf der Agenda. Sie sieht sich sogar in der Rolle eines Vorbilds für andere Länder. Doch wie ist die Außenwahrnehmung? Statt Vorbild dient Deutschland immer mehr als abschreckendes Beispiel in der Energiepolitik. Nach Marks Überzeugung wird Deutschland wieder zurück zur Kernkraft finden. Die Frage sei nur: Wann?