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Reise ins Innere von Tschernobyl
Reise ins Innere von Tschernobyl
Veröffentlicht am 2018-04-25
Von Rainer Klute
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Von Dr. Walter Rüegg

Vor 32 Jahren explodierte Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Heute ist die Strahlung in der Sperrzone von Tschernobyl fast überall geringer als in den Alpen oder in Rom. Trotzdem gibt es tödliche Gefahren, wie eine Studienreise zeigte.

Die Reise

Immer wieder werde ich gefragt, ob eine Reise nach Tschernobyl nicht gefährlich sei. Natürlich gibt es Gefahren. Ich wurde jedenfalls einer Dosis ausgesetzt, welche etwa der halben tödlichen entsprach, ein Kollege kam sogar recht nahe an die tödliche Dosis heran. Doch der Reihe nach!

Vom 6. bis 12. September 2015 konnte ich als Mitglied einer informellen, 12-köpfigen amerikanischen Expertengruppe Tschernobyl und Umgebung besuchen. Die Gruppe war sehr heterogen zusammengesetzt: mehrere Universitätsforscher, Strahlenschutzfachleute, Katastrophenexperten, eine Reaktoroperateurin – und ich als »Privatgelehrter«. Organisiert wurde die Exkursion vom Strahlenschutzbeauftragten einer amerikanischen Universität und einem Feuerwehr-Strahlenexperten.
Wir logierten während des ganzen Aufenthaltes im einzigen »richtigen« Hotel von Slavutych, mit überraschend gutem westlichen Komfort. Diese Stadt wurde nach der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 in aller Eile als »Ersatzstadt« für die evakuierte Stadt Pripyat gebaut. Jede Sowjetrepublik musste ein Quartier bauen, entsprechend bunt ist ihr Erscheinungsbild (Abbildung 1).

Abbildung 1: Die Stadt Slavutych, etwa 45 km vom Unglücksreaktor entfernt (Bild im Tschernobyl-Museum von Slavutych, Aufnahme bewilligt).

Die meisten der heute im Kernkraftwerk Tschernobyl Beschäftigten wohnen in Slavutych und pendeln täglich zum 45 km entfernten Kraftwerk. Auch wir benutzten jeden Morgen einer dieser Züge. Die Fahrt führt durch menschenleere Waldgebiete, ein Teil der Strecke liegt in Weißrussland. Eine nennenswerte Strahlung misst man erst in der Nähe des Kraftwerkes. Noch im Zug wurden wir mündlich und schriftlich darüber informiert, was man in der Exclusion Zone machen darf und was nicht. Durch Unterschrift mussten wir bestätigen, dass wir alles verinnerlicht hatten. Viele dieser Vorschriften sind heute übertrieben (z.B. darf in der ganzen Zone nichts berührt werden), werden aber andererseits auch nicht mehr ganz ernst genommen.

Abbildung 2: Einfahrt des Pendelzugs Slavutych-Tschernobyl
Abbildung 3: Das zu unterschreibende Formular regelt genau was man darf und was nicht.

Die Katastrophe

Vor dem Besuch der Kraftwerksblöcke standen eine Reihe von Vorträgen auf dem Programm. Besonders interessant: Ein ehemaliger Reaktoroperateur von Block 3 erläuterte den genauen Ablauf der Explosion im Unglücksblock 4; die nachfolgenden Abbildungen stammen aus seinem Vortrag (Aufnahmen bewilligt).

Das Drama begann bereits in der Vorbereitungsphase für einen Sicherheitstest. Ein Absenken der Leistung auf 25 Prozent war vorgesehen, durch eine Fehlmanipulation oder durch einen Elektronikdefekt sackte sie jedoch auf 1 Prozent ab. In jeder Vorlesung über Reaktorphysik lernt man, dass dann eine schwere Xenonvergiftung einsetzt. Der Reaktor muss für etwa zwei Tage ganz abgeschaltet werden; das Xenon baut sich dann ab. Das Problem: Das Xenon wirkt wie eine Vollbremsung, ein stabiler Betrieb ist nicht mehr möglich. Aber den Test wollte man unbedingt durchführen, also man gab Vollgas: Praktisch alle Steuerstäbe wurden bis zum Anschlag ausgefahren. Die Leistung stieg trotzdem nur auf kümmerliche 7 Prozent. Als der eigentliche Test eingeleitet wurde (Abschaltung der Turbine) stieg die Leistung aus physikalischen Gründen (Dampfblasen entstanden) plötzlich an, die Notabschaltung wurde manuell eingeleitet. Aber es war schon zu spät.

Abbildung 4: Die kritische Phase nach Beginn der Notabschaltung, wenige Sekunden vor der Explosion. Im unteren Teil des Bildes (violette Linien) ist die vertikale Verteilung des Neutronenfluss (und damit die Leistung) für drei Steuerstabstellungen abgebildet.

Eigentlich unglaublich: Diese Reaktoren verfügten über keine Schnellabschaltung. Die ganz ausgefahrenen Steuerstäbe (»Vollgasstellung«) benötigten 15 bis 20 Sekunden, bis sie völlig eingefahren waren (»Vollbremsung«). Schlimmer noch: Um beim Normalbetrieb die Leistung zu maximieren, bestanden die Spitzen der Steuerstäbe aus Graphit (gelbe Teile in Abbildung 4). Dieses Graphit erhöhte in den ersten paar Sekunden des Einfahrens den Neutronenfluss und damit die Leistung im unteren Teil des Reaktors. Der Zustand des instabilen Reaktors kippte plötzlich auf Vollgas. Die Leistung stieg lawinenartig an, innerhalb von vier Sekunden auf den hundertfachen Nominalwert.

Der untere Teil des Reaktorkerns erhitzte sich auf über 3.000 °C, das Kühlwasser verdampfte explosionsartig. Der entstehende Dampfdruck war so gewaltig, dass er den gesamten Reaktorkern (mit Abschirmungsdeckel um die 3000 Tonnen) wie eine Rakete etwa 40 m hoch in die Luft steigen liess. Der Reaktor drehte sich dabei um fast 180 Grad. Dann erfolgte eine zweite, noch stärkere Explosion, verursacht durch das entstehende Knallgas. Der untere Teil des Reaktors wurde in Stücke gerissen und in die Umgebung geschleudert. Der ganze Ablauf ist in Abbildung 5 dargestellt, der »Flug« des Reaktors dauerte 4 bis 5 Sekunden.

Abbildung 5: Ablauf der Zerstörung des Reaktors. Beschriftungen und Pfeile vom Autor eingefügt.

Der obere Reaktorteil mit dem schweren Betondeckel fiel in den Reaktorschacht zurück (siehe Abbildung 6). Man sieht in dieser Abbildung die vielen Druckröhren aus dem Reaktordeckel herausragen. Der Brennstoff in diesem oberen Reaktorteil dürfte sich noch teilweise in diesen Rohren befinden. Die meisten sowjetischen Reaktoren dieser Zeit bestanden aus Bündeln von einzelnen Druckröhren, direkt abgeleitet von den ersten militärischen Typen. Trotz der bekannten Instabilitäten dieses Reaktortyps wurde sowohl eine Schnellabschaltung als auch ein Containment als überflüssig angesehen.

Wer ist schuld?

Auf die Frage an den Reaktoroperateur, ob seine Kollegen vom Katastrophenblock 4 Fehler gemacht haben, lautete die spontane Antwort: Nein. Etwas einschränkend fügte er hinzu, dass zumindest keine Betriebsvorschriften verletzt worden seien. Diese Reaktion ist typisch: Die Ukrainer schieben alles auf die »Konstruktionsfehler« des russischen Reaktors. Für die Russen hingegen ist die ignorante ukrainische Mannschaft an allem schuld. Wer hat recht? Beide: Nur das Zusammentreffen einer nicht instruierten Mannschaft mit einem »heiklen« Reaktortyp ohne Schnellabschaltung konnte zu einer solchen Katastrophe führen.

Rätselhafterweise sind die spezifischen Betriebsvorschriften für diesen Reaktor »verschwunden«. Ohne Zweifel wurden die allgemeinen Vorschriften für diesen Reaktortyp massiv verletzt (z.B. minimale Anzahl Steuerstäbe im Reaktor), unklar ist aber der Instruktionsgrad der Mannschaft.

Abbildung 6: Oberes Ende des zerstörten Reaktors von Block 4. Die rötliche Farbe stammt von der Beleuchtung.

Eines ist klar: Der Reaktor hatte keine »Konstruktionsfehler«. Die Reaktoren der 60er- und 70er-Jahre wurden auf Leistung optimiert. Die Sicherheit war kein zentrales Thema (wie auch bei den Fukushima-Reaktoren, ebenfalls ein Produkt dieser Zeit). Die russischen Konstrukteure waren sich der Schwächen des Designs sehr wohl bewusst, die Betriebsvorschriften berücksichtigten dies entsprechend. Das funktioniert aber nur bei einer guten Sicherheitskultur, und diese fehlte vollkommen.

Im Kernkraftwerk Leningrad 1 kam es 1974, dem erstes Betriebsjahr mit einem »Tschernobyl-Typ-Reaktor«, zu verschiedenen ernsthaften Problemen. Unter anderem erfolgte eine partielle Kernschmelze mit teilweiser Zerstörung des Reaktorkernes. Drei Mitarbeiter starben. Und 1982 trat im Block 2 von Tschernobyl ebenfalls eine Kernschmelze auf. In beiden Fällen wurden beträchtliche Mengen radioaktiver Substanzen freigesetzt, da die Reaktoren über kein Containment verfügten. Lehren daraus wurden kaum gezogen; im Gegenteil, alles wurde streng geheim gehalten.

Der Sarkophag

Ein weiterer interessanter Vortrag betraf den Bau des Sarkophags. Der Vortragende war ein Liquidator der ersten Monate und zugleich einer der Leiter des Baus des Sarkophages – und er jagte mir einen gehörigen Schrecken ein! Als er strammen Schrittes den Saal betrat, fragte er als erstes (über die Dolmetscherin), wer Walter Rüegg sei. Ich zuckte zusammen, in solchen Staaten kann man vieles falsch machen. Als ich zögernd meine Hand aufstreckte, kam er auf mich zu und begrüsste mich herzlich. Die Dolmetscherin klärte mich auf: Ich sei genau gleich alt wie er (Jahrgang 1941).

In der Pause unterhielten wir uns wie alte Bekannte. Über die seinerzeit erhaltene Strahlendosis wollte er sich nicht so recht äussern. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dürften es einige 100 mSv gewesen sein – heute für viele eine Horrordosis. Offensichtlich hatte die Strahlung keine negative Wirkung entfaltet, im Gegenteil: Man würde ihm höchstens 60 Jahre geben (siehe Abbildung 7), er ist dynamisch und fit wie ein Tennisschuh. Und zwar buchstäblich: In seiner Freizeit trainiert er die Tennisjunioren von Slavutych. Als er vernahm, dass ich auch noch Tennis spiele, wollte er unbedingt mit mir spielen. Der enge Terminplan unserer Gruppe rettete mich.

Der Bau des Sarkophags einige Monate nach der Katastrophe war, unter Berücksichtigung der sehr schwierigen Umstände, eine Meisterleistung. Aber zum Zeitpunkt unserer Reise 2015 war er in einem schlechten Zustand. Er war einsturzgefährdet, insbesondere bei einem schweren Erdbeben. Dicht war er auch nicht; man berichtete von über 100 m2 offener Flächen, Vögel flogen hinein und heraus. Im Innern des Sarkophags herrschten Strahlendosen, die mehrere Zehnerpotenzen höher waren als in der Umgebung des Kraftwerkes.

Abbildung 7: Erste Phase des Baus des Sarkophags um den explodierten Block 4. Der Vortragende, Jahrgang 1941, war in leitender Stellung vor Ort tätig.

2007 wurde mit dem Bau einer riesigen neuen Hülle begonnen. Abbildung 8 zeigt den Zustand des New Safe Confinements im September 2015. Man erkennt direkt hinter der neuen Hülle den Sarkophag um Block 4 sowie die Blöcke 3, 2 und 1. Ende 2016 wurde das NSC über den bestehenden Sarkophag geschoben.

Abbildung 8: Neue Hülle aus einem Stahlgerüst, innen und aussen verkleidet mit Stahlplatten, Kostenpunkt ca. 2 Milliarden $. Im Hintergrund die Blöcke 4, 3, 2 und 1.

Das Kraftwerk

Im Kraftwerk selber besuchten wir die verschiedenen Blöcke. Abbildung 9 zeigt unsere Expertengruppe im Kontrollraum von Block 2.

Abbildung 9: Unsere Expertengruppe im Kontrollraum von Block 2. Dieser Reaktor wurde 1991 stillgelegt.

Die unbeschädigten Reaktoren der Blöcke 1, 2 und 3 wurden nach dem Unglück weiterbetrieben, aber umgehend für etwa 400 Millionen $ mit vielen zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen aufgerüstet. Unter anderem wurden »richtige« Schnellabschaltungen eingebaut, die den Reaktor in 1 – 2 Sekunden stoppen konnten, zudem machten verschiedene Umbauten eine explosive Leistungsexkursion unmöglich. Ein neues »Tschernobyl« mit einem massiven Austritt radioaktiver Substanzen konnte aus physikalischen Gründen ausgeschlossen werden, eine »normale« Kernschmelze aber nicht. Trotzdem: Sehr zum Ärger der Ukrainer mussten sie auf Druck der Europäer die Reaktoren der Blöcke 1, 2 und 3 abschalten, den letzten im Jahr 2000. In Russland sind Stand heute immer noch 11 dieser aufgerüsteten »Tschernobyl«-Reaktoren in drei Kernkraftwerken im Betrieb, ernsthafte Probleme gab es nie mehr.

Für die Ukraine war die Stilllegung ein ökonomisches Problem: Jeder Block hätte pro Jahr für rund eine halbe Milliarde $ Strom produziert. Ein gewisser Ausgleich erfolgte durch die finanzielle Unterstützung insbesondere bei Sicherheitsaufrüstungen in anderen Kraftwerken. Die Ukraine verfügt heute über insgesamt 15 Reaktoren russischer Bauart, damit wird rund 50 Prozent des elektrischen Stromes erzeugt. Diese zwischen 1981 und 2006 in Betrieb genommenen Druckwasserreaktoren gehören einer neueren Generation an, sie besitzen ein Containment und sind mittlerweile sicherheitstechnisch auf einem westlichen Niveau.

Abbildung 10 zeigt das langgestreckte Turbinengebäude, dahinter befinden sich die vier Reaktorblöcke. Ganz hinten sieht man die neue Hülle. Die Strahlungsintensität an diesem Ende des Kraftwerkes ist mit 0,16 µSv/h (Mikrosievert pro Stunde) überraschend niedrig, ähnliche Werte misst man überall auf der Welt. Ein Grund für die tiefen Werte: Der Boden ist mit Steinplatten belegt, diese schirmen einen großen Teil der Strahlung ab. Über Naturboden war die Strahlung deutlich höher, wir maßen typischerweise 0,5 – 2 µSv/h. In der Nähe vom Block 4 stieg die Strahlung auf etwa 10 µSv/h. Direkt an der Wand des Sarkophags (Zugang normalerweise streng verboten, aber wir waren keine »normale« Gruppe) registrierten wir Werte über 100 µSv/h.

Ohne Vergleiche sind solche Dosisleistungsangaben wenig aussagekräftig, man kann sie nicht einordnen. Daher enthält der folgende Text einige Vergleiche mit anderen Orten dieser Welt. So etwas fehlt in den meisten Berichten in den Medien, wie auch sehr häufig überhaupt keine konkreten Zahlen zu finden sind. Man beruft sich allenfalls auf die »normale« Strahlung, doch die liegt je nach Ort zwischen 0,04 µSv/h und 100 µSv/h. Oder man zitiert Grenzwerte, doch die liegen mittlerweile weit unter der natürlichen Strahlung. Anstelle von Vergleichen findet man nicht besonders hilfreiche Ausdrücke wie »Todeszone«, »radioaktive, strahlende Hölle«, »Sperrgebiete, deren Betreten unmittelbar lebensgefährlich sein kann« (Zitate aus: Die strahlende Wahrheit, M. Arnold, U. Fitze, 2015, ISBN: 978-3-907625-77-4).

Abbildung 10: Blick vom südlichen Ende des Kraftwerkes. Die Strahlung ist hier recht tief (0,16 µSv/h), in Bülach/Schweiz ist sie höher (eines meiner Lieblingslokale befindet sich dort).
Abbildung 11: Der alte Sarkophag, Zustand September 2015. Die Strahlung im Abstand von 100 m betrug etwa 10 µSv/h.

Im Inneren von Block 4

Eine Exkursion ins Innere des Sarkophags, z.B. in den Kontrollraum von Block 4, sei lebensgefährlich, deshalb völlig unmöglich und streng verboten, wurde uns am ersten Besuchstag erklärt. Aber wir waren, wie bereits erwähnt, offenbar keine »normale« Besuchergruppe. Es half wohl auch, dass zwei Mitglieder unserer Gruppe fliessend Russisch/Ukrainisch sprachen und sich mit den lokalen Sitten und Gebräuchen auskannten. Aber so genau will ich es gar nicht wissen.

Jedenfalls kamen wir in den Unglücksblock 4 hinein und konnten den Kontrollraum gründlich besichtigen und ausmessen. In die völlig zerstörte Reaktorhalle oder in die Räume direkt unter dem Reaktor konnten wir nicht gehen. Dort ist es bei Strahlungswerten von bis zu mehreren Sv/h bei längerem Aufenthalt von mehr als etwa einer halben Stunde tatsächlich lebensgefährlich. Abgesehen davon sind die Trümmer instabil.

In den zugänglichen Bereichen um Block 4 herum maßen wir Strahlenintensitäten von typischerweise 10 µSv/h, mit Spitzen bis etwa 200 µSv/h. Der Hauptteil der Strahlung stammt heute von Cäsium-137. Während der Katastrophe herrschten hier Intensitäten von bis zu einigen 10 Sv/h, tödlich innerhalb von 5 – 30 Minuten. Am schlimmsten war die Strahlung in der Reaktorhalle, direkt neben dem zerstörten Reaktorkern: innerhalb von einer Minute tödlich. Mehrere Tage lang hatte man kaum Informationen über die Höhe der Strahlung, denn geeignete Strahlenmessgeräte fehlten weitgehend. Zudem behaupteten die Verantwortlichen einen vollen Tag lang steif und fest, dass der Reaktor nicht zerstört sei. Die Folgen: Etwa 1.000 Einsatzkräfte wurden sehr stark bestrahlt, über 130 wurden schwer strahlenkrank, 30 verloren ihr Leben.

Abbildung 12: Der Autor im Kontrollraum des Unglücksblock 4, ca. 40 m von der völlig zerstörten Reaktorhalle entfernt. Ein doppelter Schutzanzug ist Pflicht, über dessen Notwendigkeit kann man sich streiten.

Der Kontrollraum 4 befindet sich rund 40 m von der zerstörten Reaktorhalle entfernt. Dicke Betonwände verhinderten eine direkte Einwirkung der Explosionen, konnten aber das Eindringen von radioaktiven Substanzen nicht verhindern, teils durch die Luft, teils von der Belegschaft hineingebracht. Die Strahlendosis erreichte sehr hohe, bei längerem Aufenthalt lebensbedrohende Werte von 20.000 – 50.000 µSv/h. Anatoli Dyatlov, stellvertretender Chefingenieur des Kraftwerkes und Leiter des Versuches, erlitt, wenn man den Angaben trauen kann, eine nahezu tödliche Strahlendosis von 3.9 Sv. Er starb 10 Jahre nach dem Unglück im Alter von 64 Jahren an einem Herzinfarkt, nachdem er wegen seiner Fehlentscheidungen fünf Jahre lang im Gefängnis verbracht hatte.

Heute ist die Strahlung im Kontrollraum auf relativ harmlose 5 µSv/h abgeklungen, siehe Abbildung 13. Der Raum befindet sich in einem trostlosen Zustand. Alles ist von einer dicken Staubschicht überzogen, praktisch sämtliche Instrumente wurden ausgebaut. Offiziell dienten sie als Ersatzteile für die anderen Reaktoren, inoffiziell wurden sie als Souvenirs mitgenommen, manchmal tauchen sie auf dem Schwarzmarkt wieder auf.

Abbildung 13: Die Strahlung im Kontrollraum 4 beträgt heute etwa 5 µSv/h. Zum Vergleich: Während des Fluges Kiev-Zürich maß ich über 3 µSv/h, bei Flügen nach USA oder Asien kann sie bis gegen 10 µSv/h steigen. Während der Katastrophe betrug die Strahlung 20.000 – 50.000 µSv/h.

Die hochradioaktiven Abfälle

Die vier Tschernobyl-Reaktoren erzeugten im Laufe der Zeit einiges an hochradioaktiven Abfall, vor allem in Form abgebrannter Brennstäbe. Die Lagerung wird sehr pragmatisch angegangen. Die Abfälle werden in grosse, relativ dünnwandige Stahlzylinder verpackt. Diese sind doppelwandig, die Luft dazwischen wird ständig überwacht. Ein allfälliges Leck kann leicht festgestellt werden.

Diese Behälter werden horizontal und leicht herausholbar in einem Betonbunker gelagert, siehe Abbildung 14. Die Lagerung ist für einen Zeitraum von höchstens 100 Jahren vorgesehen. Die Idee dahinter: Die abgebrannten Brennstäbe der Tschernobyl-Reaktoren bestehen zu etwa 97 – 98 Prozent aus unverbrauchtem Uran. Mehrere kommerzielle Reaktortypen der nächsten Generation können solche »Abfälle« als Brennstoff nutzen. Vor allem Russland und China werden solche Reaktoren in größerer Zahl bauen, vermutlich auch Südkorea, Indien und möglicherweise westliche Industriestaaten. Prototypen laufen bereits. Mit einer gewissen Berechtigung erwarten die Ukrainer deshalb, dass ihre »Abfälle« in 20 bis 30 Jahren als Brennstoff für diese neuen Reaktoren benutzt werden können.

Ein (extrem teures) Endlager tief unter der Erde ist jedenfalls nicht vorgesehen. Plan B: Nach 100 Jahren könnte man die Bunker unter einer zusätzlichen meterdicken Betondecke vergraben. Diese sollte mindestens 500 Jahre halten. Anschließend ist der gefährlichste Teil der Abfälle, die stark strahlenden und beweglichen Spaltprodukte, praktisch vollständig zerfallen. Die übriggebliebenen, unbeweglichen radioaktiven Schwermetalle stellen keine grosse Gefahr mehr dar. Letzteres ist im Westen allerdings stark umstritten. Die Meinungen reichen bis zu »extrem gefährlich«.

Abbildung 14: Etwa 1 km neben den Reaktorblöcken wurden die Bunker zur Lagerung der hochradioaktiven Abfälle gebaut (2015).

Pripyat

Die Stadt Pripyat liegt 3 bis 4 km vom Kraftwerk entfernt im Gebiet des größten Fallouts. Die etwa 50.000 Bewohner wurden als erste evakuiert. Wenn man den Berichten in den Medien glauben darf, herrscht dort immer noch eine gefährlich hohe Strahlung. Beliebte Bezeichnungen sind »Todeszone«, »radioaktiv strahlende Hölle« usw.

Im offenkundigen Widerspruch zu diesen Aussagen steht der rege Katastrophentourismus. Ganze Busladungen von Touristen aus Kiev ergießen sich täglich über die Stadt. Die systematischen Plünderungen und der überall sichtbare Vandalismus vermitteln ein düsteren Bild, haben aber nichts mit der Strahlung zu tun.

Unsere Gruppe wanderte kreuz und quer durch Pripyat und erfasste dabei Tausende von Messpunkten. Auf den asphaltierten oder betonierten Strassen war die Strahlung recht tief, zumindest auf den moosfreien Teilen, und lag dort typischerweise bei 0,2 – 0.3 µSv/h, siehe Abbildung 15. Solche Werte misst man auch bei uns. Über Naturböden und ganz besonders über einem der vielen Moosbeete strahlt es wesentlich stärker. Die meisten Werte lagen um 1 – 2 µSv/h herum, mit Spitzen von etwa 4 µSv/h, gemessen in 1 m Höhe.

Abbildung 15: Strahlung von 0,22 µSv/h auf einer der Hauptstraßen von Pripyat
Abbildung 16: Der Kulturpalast im Zentrum von Pripyat vor der Katastrophe (Bild im Tschernobyl-Museum von Slavutych, Aufnahme bewilligt).

Im Zentrum von Pripyat befindet sich der Kulturpalast. Abbildung 16 zeigt dieses Gebäude vor der Katastrophe (links im Bild). In Abbildung 17 sieht man den heutigen Zustand. Diese Aufnahme habe ich über einer stark vermoosten Stelle gemacht.

Moose lieben Kalium. Wer ein schönes Moosbeet will, sollte deshalb reichlich mit Kalium düngen. Cäsium ist chemisch mit Kalium eng verwandt, es steht im Periodensystem unterhalb von Kalium. Das Moos verwechselt Cäsium-137 mit Kalium und nimmt es begierig auf. Wenn man also in Fallout-Gebieten nach stark strahlenden Stellen sucht, wird man über Moosflächen schnell fündig. Cäsium-137 ist übrigens mit Abstand für den größten Teil der Strahlendosis der Bevölkerung verantwortlich, übrigens auch in Fukushima.

Abbildung 17: Kulturpalast 2015. Die Strahlung über einem Moosbeet ist mit 2 µSv/h relativ hoch.

Die Strahlung im Inneren der Gebäude liegt meistens im Bereich zwischen 0,1 und 0,2 µSv/h. Das sind Werte, die auch bei uns üblich sind. Ein Beispiel aus dem Kulturpalast mit 0.11 µSv/h zeigt Abbildung 18. Wenn ein Gebäude einigermassen dicht ist und man während des radioaktiven Niederschlags alle Fenster und Türen geschlossen hält, dringen nur minimale Mengen radioaktiver Substanzen ins Innere. Die externe Strahlung wird durch das Mauerwerk weitgehend abgeschirmt, zudem reduziert bereits der Abstand die Strahlung. Ganz offensichtlich wird auch keine Radioaktivität von außen in die Gebäude verschleppt, trotz täglich Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Besuchern und völlig demolierten Fenstern und Türen. Der einfache Grund: Praktisch sämtlicher radioaktive Staub ist schon längst von Wind und Regen weggeblasen oder weggeschwemmt worden oder in tiefere Erdschichten gewandert.

Abbildung 18: Die Strahlung im Innern des Kulturpalastes ist ähnlich tief wie in unseren Gebäuden: 0,11 µSv/h. Man beachte den Vandalismus, auch massivste Glasscheiben wurden systematisch zerstört.

Die höchsten Strahlungswerte in Pripyat registrierten wir über einem Moosbeet: 11 µSv/h, gemessen in einigen Zentimetern Abstand, siehe Abbildung 19. Zum Vergleich: Meine alte Tissot »Seastar« aus den 50er-Jahren, mindestens 15 Jahre lang Tag und Nacht getragen, strahlt dank der Radium-Leuchtziffern auch heute noch mit etwa 14 µSv/h. Andere Uhren aus dieser Zeit können noch stärker strahlen; ich habe Werte bis zu 200 µSv/h (!) gemessen. Meiner Schätzung nach haben die vielen Millionen Radium-Leuchtzifferuhren, die zwischen ca. 1915 und 1965 hergestellt wurden, die Menschheit mit einer ähnlich hohen Kollektivdosis bedacht wie der gesamte Fallout des Tschernobyl-Unglücks.

Abbildung 19: Die höchste in Pripyat gemessene Strahlung war 11,1 µSv/h über einem Moosbeet. Zum Vergleich meine alte Tissot „Seastar“, strahlt mit 14,5 µSv/h. Und läuft heute noch.

Das Dilemma

Die durchschnittliche Strahlung während meines gesamten Aufenthaltes in Pripyat betrug 1,0 µSv/h. Das ist der Mittelwert aus sämtlichen Messungen, die alle 10 Sekunden automatisch erfolgten. Dies entspricht einer Jahresdosis von 8,8 mSv. Allerdings bewegten wir uns zum größten Teil außerhalb der Gebäude, suchten bewusst nach »heißen« Stellen und legten die Messgeräte darüber.

Ein »normaler« heutiger Bewohner dürfte kaum über 5 mSv im Jahr kommen, selbst wenn er sich vorwiegend im Freien aufhält. Dies entspricht etwa der natürlichen Durchschnittsdosis in der Schweiz und in vielen anderen Teilen der Welt. Eliminiert man alle Moosbeete, kann man mit etwa 3 mSv rechnen. Hinzu kommt die innere Bestrahlung: Ernährt man sich hauptsächlich von lokalen Lebensmitteln, könnten durchschnittlich noch etwa 1 bis 2 mSv dazukommen. Dazu gibt es viele Untersuchungen, auch mit Ganzkörperzähler. Meist rechnet man mit 10 bis 20 Prozent der externen Dosis.

Die Grünen im Europäischen Parlament gaben 2006 einen sehr kritischen Bericht über die Folgen von Tschernobyl heraus (TORCH-Bericht: The Other Report on Chernobyl). In diesem Bericht schätzen sie die innere Dosis der Bevölkerung in den Fallout-Gebieten auf etwa 30 Prozent der totalen Dosis, vor allem durch Cäsium-137. Der gleiche Bericht anerkennt übrigens ausdrücklich, dass natürliche Strahlung genau gleich wirkt wie »künstliche«. Weiter wird vermerkt, dass keine erhöhte Anzahl von Missgeburten registriert wurde, wohl aber mehrere tausend Schilddrüsentumore bei Kindern, zum Glück praktisch immer gut heilbar.

Das grosse Dilemma: In Anbetracht einer Pripyat-Dosis von 5 mSv pro Jahr müsste man konsequenterweise auch große Teile der Alpen zur Todeszone erklären. Denn dort erreichen die Dosen Werte bis über 30 mSv pro Jahr, inklusive der inneren Bestrahlung. Dies verdanken die Alpenbewohner dem überdurchschnittlichen Gehalt von Uran oder Thorium im Gestein. Das gleiche gilt auch für Teile von Schwarzwald, Erzgebirge, Massif Central, Süditalien, Piemont usw. Dasselbe Dilemma besteht auch im Fall von Fukushima – mit wesentlich weniger Fallout als bei Tschernobyl.

Aufgrund des Vorsorgeprinzips und der heutigen Forderung nach Nullrisiko wurden die Grenzwerte immer weiter gesenkt. Heute liegen sie unterhalb der natürlichen Umgebungsstrahlung. Die ist allerdings – aus welchen Gründen auch immer – vom Grenzwert ausgenommen. Rein juristisch müssen die Alpen also doch nicht evakuiert werden, und ich kann weiterhin wandern und skifahren.

Um es nochmals klar zu sagen: Es besteht ein breiter wissenschaftlicher Konsens, dass natürliche Strahlung genau gleich wirkt wie »künstliche«. Eine Unterscheidung macht physikalisch keinen Sinn.

Tschernobyl-Stadt und Asti (Piemont)

Wir besuchten auch die Stadt Tschernobyl, etwa 15 km südlich des Kernkraftwerks gelegen. Sie liegt ebenfalls in der Sperrzone und ist für eine dauerhafte Besiedlung nicht freigegeben. Allerdings befinden sich einige Verwaltungsgebäude der Zone in der Stadt, außerdem Unterkünfte für Einsatzkräfte und sogar ein kleines Hotel (sah nicht gut aus, würde ich nicht empfehlen). Die Stadt ist, ganz im Gegensatz zu Pripyat, in einem guten Zustand. Es leben dort auch illegale Bewohner. In der gesamten Sperrzone sind es mehrere hundert. Sie werden von den Behörden toleriert. Diese Menschen ernähren sich fast ausschliesslich von lokalen Produkten.

Unsere Messungen zeigten etwas Erstaunliches: Die Strahlung in dieser Stadt liegt typischerweise zwischen 0,1 und 0,2 µSv/h – und ist damit niedriger als in vielen anderen Städten auf diesem Planeten. In Rom etwa liegt die externe Strahlung meist über 0,2 µSv/h; zusammen mit der internen Strahlung muss man mit mindestens 0,5 µSv/h rechnen. Auch in weiten Teilen des Piemonts strahlt es stärker als in Tschernobyl, siehe Abbildung 21.

Abbildung 20: Tiefe Strahlungswerte (0,08 µSv/h) am Rand von Tschernobyl-Stadt.
Abbildung 21: Strahlung im Zentrum von Tschernobyl (0.10 µSv/h). In dieser Stadt strahlt es
wesentlich weniger als in vielen anderen Städten auf dieser Erde.

Plutonium und Co

Aus der Tatsache, dass die Sperrzone immer noch eine Sperrzone ist, wird geschlossen, dass der Aufenthalt gefährlich sein muss. Die Zone sei für Hunderte von Jahren unbewohnbar, je nach Quelle auch für Tausende oder gar Zehntausende von Jahren. Man argumentiert mit den teilweise sehr langen Halbwertszeiten gewisser Fallout-Elemente wie vor allem Plutonium, obwohl diese langlebigen Elemente

  1. nur einen sehr kleinen Bruchteil des Fallouts ausmachen,
  2. nur schwach strahlen (je länger die Halbwertszeit, desto schwächer die Strahlung, ein Naturgesetz),
  3. von den natürlicherweise vorhandenen langlebigen radioaktiven Elementen wie Uran mengenmässig und auch radiotoxisch in den Schatten gestellt werden.

Durchschnittlich findet man etwa 5 g Uran und etwa 15 g Thorium pro Kubikmeter Erde. Und viele ihrer Zerfallsprodukte, wie Radium, Radon oder Polonium, sind gefährlicher als Plutonium.

Wie dem auch sei, es ist eine leicht zu überprüfende Tatsache, dass die Strahlung des Fallouts heute auf einen winzigen Bruchteil der Werte abgesunken ist, die während oder unmittelbar nach dem Unglück beispielsweise in Pripyat gemessen wurden. Zu diesem Zeitpunkt dominierten die kurzlebigen und zum guten Teil gasförmigen Spaltprodukte wie Xenon-133, Tellur-132 oder Iod-131. Mit Halbwertszeiten von wenigen Tagen sind diese Substanzen längst zerfallen und haben »ausgestrahlt«. Heute beträgt die Strahlung des Fallouts nur noch Zehntausendstel des ursprünglichen Wertes oder weniger. Oft ist sie kaum noch nachweisbar. In weiten Teilen der Sperrzone dominiert die natürliche Strahlung. Nur in unmittelbarer Umgebung des Unglückreaktors gibt es noch vereinzelt Stellen mit hoher Strahlungsintensität, teilweise sogar höher als die höchsten natürlich vorkommenden Werte (100 µSv/h).

Gefährlich?

Immer wieder werde ich gefragt, ob eine solche Reise nicht gefährlich sei. Natürlich gibt es Gefahren. Da sind einmal die vielen wilden Wölfe, siehe Abbildung 22. Auch das Klettern im halb zerfallenen Block 5, im Halbdunkeln, mit vielen tiefen Schächten war nicht ohne Gefahr. Aber wirklich gefährlich war etwas anderes. Ich wurde jedenfalls einer Dosis ausgesetzt, welche etwa der halben tödlichen entsprach.

Das kam so: Am letzten Tag organisierte unser lokaler Guide eine tolle Abschiedsparty in einer Datscha. Dabei war das Trinken von selbstgebranntem, 60-prozentigem (!) »Wodka« obligatorisch. Siehe Abbildung 23, man beachte die interessante grünlich-giftige Farbe! Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas Grauenhafteres getrunken. Benzin dürfte besser schmecken. Mit Mühe, Not und List – es gelang mir manchmal, mein Wodka-Glas heimlich mit Wasser zu füllen – kam ich mit 3 bis 4 Gläsern davon. Das entspricht rund 100 g Alkohol, etwa 50 Prozent der tödlichen Dosis. Die Nachwehen dauerten 2 Tage.

Ein Kollege setzte sich unvorsichtigerweise direkt neben unserem Guide. Er konnte kaum kneifen und verpasste die tödliche Dosis nur knapp. Noch einen Tag später war er kaum ansprechbar. Ein anderer Kollege, ein ehemaliger US-Marine, konnte erstaunlich gut mithalten. Aber unser Guide schlug alle: Er dürfte an diesem Abend die doppelte tödliche Dosis getrunken haben, ohne sichtbare Wirkung. Ein medizinisches Wunder! Vermutlich wurde er als ehemaliger Rotarmist durch intensives Trink-Training gründlich immunisiert. Und ein häufiges Training ist in der Ukraine, selbst bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von nur etwa 150$, noch finanzierbar: Der Wodka war für etwa 1$ die Flasche zu kaufen, kaum teurer als die Milch im Laden. Die traurige Folge: bis zu 200.000 alkoholbedingte Todesfälle pro Jahr!

Abbildung 22: Die Umgebung des Kraftwerks (fast) ohne Menschen hat sich in ein üppiges Naturparadies verwandelt. Allerdings sollte man sich vor Wölfen in acht nehmen, aber auch Wildschweine, Bären und Bisons sind nicht ganz harmlos.
Abbildung 23: Selbstgebrannter Wodka, ca. 60 Prozent. Kostet etwa 1$ pro Liter. Man beachte die ordentlich grossen Gläser. Das Glas muss mit einem Schluck geleert werden (anders bringt man das Zeugs auch gar nicht runter). Die tödliche Dosis liegt für Ungeübte bei etwa 6 Gläsern.

Nachtrag

Ich habe in diesem Bericht ganz bewusst nichts über die gesundheitlichen Langzeitfolgen der Katastrophe geschrieben. Denn damit verlässt man die exakte Wissenschaft.

Google Scholar registrierte 2016 über 225.000 wissenschaftliche Arbeiten unter dem Stichwort »Chernobyl«. Man kann leicht eine Unmenge Arbeiten finden, die zu dem Schluss kommen, dass die Strahlung schädlich war oder noch immer ist. Ebenso leicht findet man eine Unmenge Arbeiten, die keine oder sogar positive Auswirkungen belegen. Die Qualität der Arbeiten schwankt zwischen unbrauchbar und hochwissenschaftlich. Und so kommt es, dass man sich darüber streitet, ob 50 oder viele Millionen Todesfälle auf das Konto der Strahlung gehen.

Es gibt zwei Gründe für diese Situation:

  1. Parallel zum Niedergang der Sowjetunion in den 1980er und 1990er Jahren fand eine dramatische Abnahme der Lebenserwartung statt, bei Männern von etwa 65 Jahren auf 57 Jahre. Dies ist auf eine massive Verschlechterung des Gesundheitszustandes zurückzuführen. Krebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Infektionen nahmen sehr stark zu. In der gesamten damaligen Sowjetunion, auch im fernen Sibirien, starben Millionen Menschen vorzeitig. Wenn die Menschen 20 Jahre früher sterben als bei uns, ist der allgemeine Gesundheitszustand vergleichsweise sehr schlecht, mit oder ohne Fallout.
  2. Sämtliche der Strahlung zugeschriebenen Langzeitfolgen kommen auch »natürlich« vor. Man kann bei einer Krankheit wie z.B. Krebs nicht feststellen, ob die Strahlung sie verursacht hat oder die Ursache eine andere ist. Verschlechtert sich der Gesundheitszustand einer Bevölkerung (siehe Punkt 1), kann man natürlich auch der Strahlung die Schuld geben.

Im Falle der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki ist die Situation viel eindeutiger: Erstens war die Strahlenbelastung der betroffenen Bevölkerung sehr viel höher (bis 100 mal), und zweitens wurden die Untersuchungen mit einem Milliardenaufwand äusserst professionell durchgeführt. Man streitet sich höchstens um Faktor 2.

Bei Tschernobyl ist man sich zumindest einig über die Folgen der sehr hohen Strahlendosen der ersten Tage und Wochen: Etwa 50 Todesopfer sind darauf und auf die Explosionen zurückzuführen. Außerdem kam es zu einigen tausend Schilddrüsentumoren bei Kindern.

Ziemlich einig ist man sich auch über die Dosen, welche die umliegende Bevölkerung erhalten haben; diese lassen sich auch einfach messen. Diese Dosen liegen praktisch ausnahmslos weit unter der natürlichen Strahlung. Eigentlich würde man kaum strahlenbedingte Langzeitfolgen erwarten. Mit Hilfe umstrittener und unbeweisbarer Risikomodelle, welche annehmen, auch die kleinste Dosis sei schädlich, können einige 1.000 bis einige 10.000 vorzeitige Todesopfer errechnet werden. Eindeutig nachweisen wird man dies aber nie können. Allerdings verlangt eine außerordentliche Behauptung, nämlich kleine Strahlendosen seien stark gesundheitsschädlich, auch außerordentliche Beweise, insbesondere wenn die Behauptung dem bisherigen 115-jährigen Wissen über die Wirkungen kleiner Dosen widerspricht.

In den betroffenen Gebieten kann man das gesamte Spektrum von Ansichten hören, von »Die Strahlung ist an allem schuld« bis »Die Strahlung ist völlig irrelevant«. Die erste Ansicht ist stärker verbreitet. Ein möglicher Grund dafür könnte sein: Viele Menschen haben den Status von Strahlenopfern und bekommen deshalb finanzielle Zuwendungen und verschiedene Privilegien. Diese würden entfallen, falls man der Strahlung keine negativen Auswirkungen zuschreiben kann. Die wirtschaftliche Situation dieser Menschen ist katastrophal, sehr viele sind auf solche Zuwendungen angewiesen.


Dr. Walter Rüegg

Dr. sc. nat. Walter Rüegg ist Kernphysiker mit einem starken Interesse an der Strahlenbiologie. Er war 20 Jahre lang an der ETH Zürich und am Schweizerischen Institut für Nuklearphysik (SIN), heute Paul Scherrer Institut (PSI), in der Grundlagenforschung tätig und arbeitete später im Bereich Elektronik und Messtechnik der Asea Brown Boveri (ABB). Als langjähriger Chefphysiker der Schweizer Armee befasste er sich intensiv mit der Radioaktivität und ihren Wirkungen auf Mensch und Umwelt. Heute ist er selbständiger Berater und Entwickler elektronischer Systeme für die Energietechnik, unter anderem auch für Windenergieanlagen.

Seit 2006 pensioniert, ist Walter Rüegg noch immer intensiv auf dem Gebiet der Elektronik und Messtechnik tätig, vorwiegend als freier Mitarbeiter und Berater für ABB. Daneben betätigt er sich publizistisch, schreibt Artikel und hält Vorträge über Radioaktivität, Nuklearwaffen, Radiobiologie, Molekularbiologie, Abfälle (nicht nur nukleare), allgemeine Lebensrisiken und Energiesysteme/Energiewende.

Kategorien
Tschernobyl
Matthias Freund sagt:

Ich finde diese ganze Geschichte eigentlich ganz schön dreist. Sich da hinzustellen und (sinngemäß) – mehr oder weniger – zu behaupten, dass “das ja alles gar nicht so schlimm sei, mit der Strahlung (siehe die verharmlosenden Alpen-Vergleiche, etc.)”. Vom physikalischen Standpunkt wird das sicher alles passen. Was der Herr aus der Schweiz aber vergisst, ist, dass zuvor tausende Menschen ihre Gesundheit und sogar ihr Leben auf’s Spiel gesetzt haben und setzen, damit sich ebendieser im besagten Gebiet als Erlebnistourist überhaupt wieder ohne allzu große Gefahr aufhalten kann ist. Sich nach dieser Vorgeschichte dann hinzustellen und dann sinngemäß zu sagen “ja, is woanders auch so” …. verwerflich. Aber wenigstens wissen wir, wen wir beim nächsten Reaktorunglück voran schicken dürfen, (sind auch sicher dann nur ein paar Transatlantikflüge).

Thomas Eckardt sagt:

Hallo Herr Rüegg,

sehr interessanter Reisebericht, eines war für mich jedoch neu “…Und 1982 trat im Block 2 von Tschernobyl ebenfalls eine Kernschmelze auf… ”
Der Block wurde doch danach noch weiter betrieben , betraf die Kernschmelze nur einen Teil der einzelnen Druckröhren und wie wurde das denn wieder “repariert” .Die einzelnen Druckröhren bzw. der Brennstoff drin ist ja sogar im laufenden Betrieb wechselbar, das ist ja einer der wenigen Vorteile dieses Reaktortyps aber ja nur im normalen Betriebszustand. Wenn es da aber eine Kernschmelze gegeben hat dürfte es wohl selbst durch Abschaltung des Reaktors ja nicht so einfach sein, dort etwas auszutauschen .

Günter sagt:

Ich habe eine ganz einfache (dumme) Frage und bisher nie eine Antwort gefunden: Nehmen wir an ich habe eine Strahlenquelle und bestrahle eine Coladose damit, OHNE radioaktive Partikel auf der Dose zu platzieren. Wenn ich nun den Strahler entferne ist die Dose dann noch radioaktiv? Was doch “nur” strahlt sind die Partikel oder?

Andreas sagt:

Toller Artikel,

Mich würde mal interessieren wie man Bq in Sievert umrechnet z.B. für Cäsium-137. Leider wir z.B. bei den Schweinen in Bayern immer nur Bq/kg aber nicht µSv angegeben. Sievert ist aber der wichtige Faktor ob eine Strahlung bei einem Organismus potentiell einen Schaden auslöst.

Wäre echt toll wenn da jemand eine Idee hat.

Danke und weiter so.
Andreas

Rainer Klute sagt:

Man muss den gemessenen Becquerel-Wert mit einem isotopspezifischen Dosiskonversionsfaktor multiplizieren, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Dosiskonversionsfaktor. Dazu muss man natürlich wissen, was es ist, das da strahlt.

Andreas sagt:

Super Danke,

danke für diese einfache Lösung. Keine Ahnung warum ich da nicht selbst drauf gekommen bin.

Ludwig Schmidt sagt:

Vielen Dank für den informativen Beitrag.
Ich hätte nur eine abschließende Frage, die mich schon seit dem Unfall beschäftigt.
Plutonium und später Americium wurden freigesetzt und können inhaliert werden. Als Alphastrahler zerstören sie laut Literatur zu hundert Prozent die Zellumgebung, bzw. lösen Krebs aus. Beide Stoffe gelangen in die Lunge vor Ort, je näher man sich dem Unfallort nähert.
Kann unser Körper Plutonium denn wieder loswerden.?
Ich hatte deshalb all die Jahre sogar Angst, nach Kiew zu fliegen, wegen Plutonium in der Luft, das man einatmen könnte.
Oder ist das alles wirklich vernachlässigbar?

Kotulla sagt:

Mein Freund und ich haben eine Reise dort hin geplant und schlafen in prypjat in einem “Hotel”. Der gesamte Aufenthalt dort beträgt ca 24 h.
Was meinen Sie..
Sind wir einer hohen bzw gesundheitsgefährdender Dosis der Strahlung ausgesetzt ?

Walter Rüegg sagt:

Ich glaube nicht, dass man in der völlig verlassenen Stadt Prypjat legal übernachten kann. Ich habe im ehemaligen Hotel “Polissia” (heute in einem desolaten Zustand, eine bessere Ruine) im Innern Strahlendosen gemessen welche sich nicht von derjenigen in anderen Hotels der Welt unterscheiden. Ausserhalb ist die Strahlung stärker, besonders über Moos. Aber in den Alpen, im Schwarzwald, im Piemont und an vielen anderen Orten finden sich ebenso stark strahlende Stellen (teilweise noch stärkere). Und im Flug nach Kiev erhalten sie eine höhere Strahlendosis. Die Stadt könnte man unbedenklich wieder bewohnen.
In Tschernobyl-Town gibt es ein kleines Hotel, es wohnen dort auch Leute (nicht ganz legal). Aber ich würde ein Hotel in Slavutych bevorzugen, guter westlicher Standart, es gibt auch viele recht gute Restaurants und etwas Nachtleben. In Slavutych wohnen die meisten Arbeiter/Liquidatoren des Kernkraftwerkes Tschernobyl.

mfcmichael sagt:

Hallo,
da ich Laie bin frage ich sie das jetzt einfach mal direkt.
Kann ich also nach Ihrer Reise und Analyse davon ausgehen das Tschernobyl bzw. Prypiat überhaupt nicht unbewohnbar ist? Theoretisch wäre es also möglich dort jetzt schon wieder das Leben normal aufzunehmen?? Wenn ja wieso macht man es nicht?. Also ausgehend davon das natürlich alle Gebäude kaputt sind usw. Aber man könnte ja wieder Anfangen zu bauen. Neue Häuser usw.

Rainer Klute sagt:

Es gibt in der Tat solche Bestrebungen. Die BBC-Wissenschaftsjournalistin Victoria Gill berichtet unter anderem davon in ihrer Reportage »Chernobyl: The end of a three-decade experiment«. Allerdings stehe für die Betroffenen einiges auf dem Spiel, denn sie erhalten staatliche Entschädigungszahlungen. Gill berichtet auch von den Menschen, die bereits kurz nach der Evakuierung 1986 wieder zurückgekehrt sind und seit Jahrzehnten dort leben.

Immerhin hat der ukrainische Präsident Zelensky im Juli 2019 eine bessere touristische Erschließung der Sperrzone und die Aufhebung einiger Restriktionen angeordnet, siehe z.B. »Chernobyl to become official tourist attraction, Ukraine says«.

Wolfram Fischer sagt:

Atomenergie
Es Ist zwar schon etwas her, daß diese Diskussion lief… erst heute stieß ich zufällig darauf. Seit kurzem versuche ich, mir mein Bild zu machen, wie gefährlich oder ungefährlich Kernenergie ist. Das wäre für mich die Antwort auf die Frage, wie ethisch vertretbar oder nicht vertretbar diese Art der Energieversorgung ist.
In D sind “wir” hier ja weitaus überwiegend extrem ablehnend, in anderen Ländern ist man da sehr viel unbesorgter… ob (ethisch) zurecht, ist eben die Frage die mich umtreibt.
Nun lese ich so extrem divergierende Meldungen von
A) Wahren Horrorszenarien bis
B) alles doch nicht so schlimm gewesen
(s.u. 2 beispielhafte links)
Welche Seite hat nun Recht, welche ist in der “Filterblase” unterwegs?
Eine Seite muss ja doch irgendwie falsch gewickelt sein, oder?

Zu A)
https://www.n-tv.de/wissen/600-Millionen-leiden-an-Folgen-article3062516.html
Hunderte Millionen leiden an den Folgen, Krebserkrankungen en masse, masssenhaft Leukömie, Totgeburten, Missbildungen, etc. etc.
Und es betrifft EU, Asien, wenn nicht die gesamte nördliche Hemisphäre

Zu B)
http://www.unscear.org/docs/reports/2008/11-80076_Report_2008_Annex_D.pdf
Dieser UN-Bericht klingt da doch ganz anders, um vieles “harmloser”.
Z.B. die Zusammenfassung S.64 ff.
134 betroffen Liquidatoren haben eine akute Strahlenerkrankungen erlitten.
28 davon sind (2006) gestorben.
Einige Tsd. Kinder die an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind.
Davon gestorben 15 (2005).
Zum Zeitpunkt der Studie (2008) gab es KEINEN Nachweis auf weitere gesundheitliche Folgen in der Gesamtbevölkerung durch die Strahlenbelastung auf Grund des Reaktorunglücks.
Also… schwere Schicksale ja sicher… aber doch sehr sehr überschaubare Zahlen, wie ich finde.
(Nota bene, nur mal zum Vergleich, um nicht als menschenverachtender Verhamloser zu gelten: Im selben Zeitraum von ca. 25 Jahren sind (NUR) auf deutschen Straßen nach meiner Überschlagsrechnung über 150.00 Menschen zu Tode gekommen, von Verletzten, lebenslang entstellten & gehandikappten noch gar nicht zu reden. Regt sich hier jemand auf?)

Und nun bin ich wirklich verwirrt, muss ich ganz offen zugeben.
Millionenfach schwerwiegende Folgen einerseits (A)!
Sehr sehr abzählbare Fallzahlen lt. UN-Bericht (! Verschwörungstheoretiker sehen an m.E. anders aus) andererseits (B)!

Was stimmt denn nun?
Wer hat die Faktenlage auf seiner Seite?
Beide können’ s ja, wenn’s mit rechten Dingen zugeht, nicht sein.

Walter Rüegg sagt:

Immerhin ist man sich in vielen Punkten einigermassen einig:

1. Gründe und Ablauf der Katastrophe.
2. Menge und örtliche Verteilung des Fallouts (in Bq), externe Dosisrate (in Sv/h), einfach zu messen.
3. Gesamte Dosisbelastung (in Sv) der verschiedenen Gruppen (Einsatzkräfte, Liquidatoren, örtliche Bevölkerung, europäische Bevölkerung, Rest der Welt), im Prinzip gut messbar.
4. Auswirkungen/Opferzahlen von hohen Dosen, > 1 Sv (akute Todesfälle, Schilddrüsentumore).

Völlig uneinig ist man sich bei den Langzeitwirkungen von kleinen und kleinsten Dosen, auf Millionen von Bewohnern verteilt. Die Gründe:

Bei solchen kleinen Dosen werden allfällige Effekte von den natürlichen gesundheitlichen Variationen völlig überdeckt. Man ist gezwungen, Annahmen über die Wirkung von Kleinstdosen zu treffen. Je nach Modell können damit fast beliebige Opferzahlen errechnet werden. Und so kommt es, dass man sich darüber streitet ob 50 oder einige Millionen Todesopfer zu beklagen sind. Es gibt gute Gründe (natürliche Strahlung, Radiummalerinnen und andere Humanstudien, viele Tierstudien) anzunehmen, dass eine Dosis von insgesamt 1 Sv, über Jahre verteilt, zu keinen negativen Effekten führt. Dann wäre 50 die «richtige» Opferzahl.

Alternativ kann man auch von den Erfahrungen aus Hiroshima/Nagasaki ausgehen: Ab einer Schockdosis (ca. eine Sekunde Dauer) von ca. 100 mSv kann eine Erhöhung der Krebsrate festgestellt werden (etwa 1%/100 mSv bei den Frauen, bei Männern liegt die Schwelle höher). Gemäss dem Vorsorgeprinzip kann man zusätzlich annehmen, dass auch unter 100 mSv negative Effekte auftreten. Dann wäre 4’000 die «richtige» Zahl für die vorzeitigen auftretenden Krebstodesfälle (WHO/UNSCEAR). Wird ein strengerer Risikofaktor angenommen und erweitert man die Rechnung auf die ganze Welt (winzige Dosen, d.h. auch winziges Risiko, aber Milliarden von Menschen) so erhält man gemäss dem grünen TORCH-Report (Herausgeber: The Greens/EFA in the European Parlament) eine Zahl von 60’000. Gemäss diesem Report wurden 7.4 Millionen Bewohner in der Umgebung von Tschernobyl mit einer mittlere Lebensdosis von 29 mSv bestrahlt, 2/3 davon von externen Strahlen, 1/3 von inkorporierten radioaktiven Substanzen. Verglichen mit der immer vorhandenen natürlichen internen und externen Bestrahlung sind dies kleine Werte, man erwartet deshalb keine sichtbaren Effekte. Selbst in Gebieten mit sehr hoher natürlicher Radioaktivität (im Iran, in Brasilien, in China und in Indien, kleinere Gebiete auch in Europa) konnte man keine negativen Effekte feststellen, trotz Lebensdosen, welche zum Teil die tödliche Schockdosis (4.5 Sv bzw. 4500 mSv) überschreiten.

Die Bestrahlung der 600 Millionen Europäer durch Tschernobyl liegt gemäss TORCH durchschnittlich bei etwa 0.8 mSv (Lebensdosis), andere Quellen sprechen von 0.4 mSv. Die natürliche Lebensdosis liegt aber, je nach Ort, zwischen 100 mSv und mehreren Sv. Interessant: Der grüne TORCH-Report lehnt Vergleiche mit Untergrundstrahlung als „nicht angebracht“ («non appropriate») ab, anerkennt aber die gleiche Schädlichkeit. Im Übrigen findet auch TORCH, dass keine erhöhte Missgeburtenrate nachweisbar ist, selbst bei den im Vergleich zu den anderen Europäern viel stärker bestrahlten Bewohner in der Umgebung der Unglücksreaktors und bei den Liquidatoren. Die von TORCH angegebenen 60’000 weltweiten Todesfälle kann man als oberste, sehr pessimistische Grenze ansehen.

Natürlich kann man auch behaupten (IPPNW), dass alle 600 Millionen Europäer unter dem Tschernobyl-Fallout «leiden». Denn wir alle wurden schon von Tschernobyl-Strahlenteilchen getroffen. Aber was bewirkt dann die mehrere 100-mal stärkere natürliche Strahlung? Ein Leiden, dass mehrere 100-mal höher ist? Ein Wunder dass wir noch leben. Und ausgerechnet bei den von der IPPNW oft erwähnten Leukämien zeigt sowohl die aussagekräftigste Humanstudie (Hiroshima/Nagasaki) als auch die mit Abstand beste Tierstudie (Megamouse) dass eine zusätzliche Bestrahlung, bis etwa 200 mSv, die Leukämierate reduziert (!). Da es aber mehrere 100’000 publizierte Arbeiten zu Tschernobyl gibt (von völlig unbrauchbar bis zu wissenschaftlich einwandfrei), kann dank den natürlichen Variationen praktisch jede beliebige Opferzahl «belegt» werden. Die WHO und die UNSCEAR haben zusammen mit anderen Institutionen versucht, sämtliche halbwegs seriöse Studien auszuwerten. Eine Erhöhung der Krebsrate in der lokalen Bevölkerung auf Grund der Strahlung konnte nicht nachgewiesen werden. Einzig bei der Gruppe der stark bestrahlten Liquidatoren gibt es Anzeichen einer Erhöhung der Leukämierate. Es gibt aber auch Anzeichen einer reduzierten Krebsrate.

Zitat IPPNW: «Am meisten an den Folgen einer besonders hohen Verstrahlung leiden demnach die Aufräumarbeiter: Bis 2005 seien von 830.000 der sogenannten Liquidatoren zwischen 112 000 und 125 000 gestorben». In grossen Teilen der ehemaligen Sowjetunion sank die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung in den 1990er-Jahren unter 60 Jahre (Folge des wirtschaftlichen Kollapses). Entsprechend hoch war die Mortalitätsrate (zwischen 1%/J und 1.5%/J, gemäss WHO2008). Also sind 112’000-125’000 Todesfälle innert 19 Jahren (1986 bis 2005) unter den 600’000-800’000 Liquidatoren völlig im natürlichen Rahmen. Diese Todesfälle der Strahlung in die Schuhe zu schieben ist völliger Unsinn, einer Ärztevereinigung (IPPNW) unwürdig. Das Durchschnittsalter der Liquidatoren betrug gemäss russischen Angaben 33 Jahre. Heute, 2019, sind sie also im Durchschnitt 66 Jahre alt. Die Mehrzahl dürfte inzwischen verstorben sein. Dass die meisten noch lebenden Ukrainer, Russen oder Weissrussen in dieser niedrigen sozioökonomischen Klasse «multimorbid» sind, ist bedauerlicherweise auch zu erwarten.

Die Radioaktivität wird seit etwa 60 Jahren bewusst dämonisiert, mit IPPNW an vorderster Front. Das war gut so, denn damit versuchte man einem nuklearen Weltkrieg mit einigen 100 Millionen Todesopfer zu verhindern. Die Gefahr ist heute weitgehend gebannt, der kalte Krieg ist vorbei, die Kernwaffenbestände wurden gewaltig abgebaut. Es wäre an der Zeit, die Radioaktivität wieder in einen vernünftigen Rahmen zu stellen. Doch die Gehirnwäsche wird weitergeführt, das Resultat ist eine extrem übersteigerte Angst vor der Radioaktivität, wie der nachfolgende Vergleich zeigt.

Der Tschernobyl-Fallout strahlt stärker als der Fallout von 100 modernen Wasserstoffbomben und zählt unbestrittenermassen zu den allerstärksten Strahlenquellen dieser Welt. Doch viele chemische Giftstoffe sind noch wesentlich toxischer, siehe nachfolgendes Bild. Dabei ist Methylisocyanat zwar ein starkes Gift, aber bei weitem nicht das stärkste.

Vergleich zwischen Tschernobyl und Bhopal

Viele Millionen Menschen sterben jährlich durch chemische Giftstoffe, in vielen Fällen vermeidbar. Allein die Giftstoffe in der Luft verursachen weltweit 7 Millionen Tote pro Jahr (WHO), in Europa geschätzte 500’000 (https://www.eea.europa.eu//publications/air-quality-in-europe-2018). Aber wir Westeuropäer hatten (und haben teilweise immer noch) viel mehr Angst vor den winzigen Dosen des Tschernobyl-Fallout. Diese haben, nach bestem Wissen und Gewissen, niemandem geschadet.

Fürchten wir uns vor dem richtigen?

Martin Mabuse (Künstlername) sagt:

Dass die Gefahr des Einsatzes von Kernwaffen weitgehend gebannt ist kann ich einfach nicht unkommentiert stehen lassen. Das Scheitern der “Anti-Atom-Bewegung” und insbesondere ihrer Teilmenge, die bei der Friedensbewegung aktiv war uns ist, ist ja gerade daran festzumachen, dass in Deutschland das letzte Kernkraftwerk 2022 abgeschaltet wird, jedoch Kernwaffen bleiben und sogar modernisiert werden. Sie sind weiter Teil der Strategie sowohl von NATO als auch Russland, die immer mehr wieder Antagonisten geworden sind.
Von “Schurkenstaaten” und Terrororganisationen ganz zu Schweigen.
Machen Sie nicht den Fehler, aufgrund des Arguments, dass friedliche und militärische Nutzung von Kernenergie sich nicht lupenrein trennen lassen, die Gefahr eines nuklearen Holocaust zu relativieren, um ein Argument gegen die zivile Nutzung scheinbar entkräften zu können.
Gerade das Argument, dass die Strahlung selbst von mehr als 100 “modernen Wasserstoffbomben” ja nur mit dem Tschernobyl-Unfall vergleichbar sei, macht Gedankenspiele in Richtung, dass man einen Atomkrieg in Schutzbunkern überstehen und nach wenigen Monaten oder Jahren fast normal weitermachen könnte, ja eher wieder wahrscheinlich als zu Zeiten, in dem die garantierte völlige Vernichtung der Menschheit die Folge des Ersteinsatzes von Kernwaffen war.

Ansonsten kann ich Ihren Ausführungen durchaus zustimmen.

Kölle sagt:

Hallo, was denken sie über den Kraftwerksdirektor Galen Winsor, dessen Vorträge auf YouTube zu finden sind. Er soll im eigenen Kühlwasser gebadet haben und vor Publikum Uranstücke gegessen haben, um zu zeigen, dass Strahlung im gewissen Rahmen unbedenklich ist.

Kölle

Walter Rüegg sagt:

Galen Winsor ist einer der «Altmeister», sehr gute Beiträge, wenn auch z.T. etwas verstaubt.
Uran ist ein Schwermetall, etwa so toxisch wie Blei, tödliche Dosis liegt in der Gegend von 10 g, je nach chemischer Form. Radiotoxisch recht unbedenklich (man stirbt an den chemischen Wirkungen). 1 g dürfte harmlos sein. Habe nicht gewusst dass Galen Winsor Uran gegessen hat. Hingegen sind seine Kühlwasservorlieben bekannt.
Das Kühlwasser eines Reaktors enthält im Normalbetrieb etwas H-3, aber auch Spuren von Korrosionsprodukten, vor allem Co-58, Co-60 (Legierungsbestandteil von Stahl) und andere neutronenaktivierte Verunreinigungen. Allerdings sind die Konzentrationen winzig, typisch einige kBq/lt bis einige Dutzend kBq/lt. Zum Vergleich: Ein «gutes» Mineralwasser enthält bis über 50 kBq/lt Radon, radiotoxisch vergleichbar mit Cs-137. Man badet heute noch darin (z.B. Bad Gastein), politisch nicht ganz korrekt. Aber verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen nach allen Regeln der Kunst (randomisierte Doppelblindstudien) zeigen eindeutig positive gesundheitliche Wirkungen (dito eine z.T. Jahrtausend alte Erfahrung). Frisches Regenwasser nach einer Trockenperiode kann bis zu mehrere Dutzend kBq/lt Radon enthalten. Und vor rund 100 Jahren verkaufte man Millionen von Liter «radioaktives» Mineralwasser und stritt sich wer das radioaktivste hat.

Ich hätte kein Problem, Kühlwasser zu trinken und darin zu baden. Inkorporiertes Uran wird in unlöslicher Form in 2-3 Tagen auf natürlichem Wege ausgeschieden, ich würde es aber trotzdem nicht geniessen.

Thorsten sagt:

Die ganze Fahrt nach Tschernobyl klingt fast wie eine Kaffeefahrt und ist meiner Meinung nach vollkommen verharmlosend dargestellt.
Für mich als Normalbürger klingt das nach Atomlobby.
Wie wäre die Strahlung rund um Tschernobyl, wenn da kein Betonsarkophag wäre, und keine neue Überhalle für zig Millionen Euro gebaut worden wäre ?
Die Halbwertzeiten von Plutonium , Uran & Co kann jeder im Netz nachlesen.

Rainer Klute sagt:

Ob das »vollkommen verharmlosend« dargestellt ist oder nicht, kann jeder leicht selbst überprüfen: Man schnappe sich ein Strahlungsmeßgerät und nehme selbst an einer Reise nach Tschernobyl teil.

In 2017 waren 50.000 Besucher dort, verrät https://www.tourism-review.com/nuclear-tourism-is-on-the-rise-news10569. Ich denke, es wird angesichts solcher Zahlen immer schwieriger, die Verschwörungstheorie von der »Todeszone Tschernobyl« weiterhin aufrechtzuerhalten.

Archophob sagt:

>> “Für mich als Normalbürger klingt das nach Atomlobby.” <<

Als ob die Kernenergie in Deutschland je eine Lobby gehabt hätte. Schon Franz Josef Strauss mußte die Energieversorger geradezu nötigen, wenigstens ein paar alte Kohlekraftwerke durch Kernkraftwerke zu ersetzen.

Ein KKW ist eine langfristige Investition. Die Kosten werden von den Kapitalkosten dominiert, die über eine Laufzeit von 60 oder mehr Jahren bei sehr kleinen Strompreisen wieder hereinkommen müssen Ein Windrad dagegen ist dank staatlich garantierter Einspeisevergütung schon nach 20 Jahren abgeschrieben, und ein Kohlekraftwerk ist in der Anschaffung billiger und macht mehr Umsatz, weil alle Kartellteilnehmer die gleichen Brennstoffkosten mit einpreisen.

Solange es auf dem Energiemarkt keinen echten Wettbewerb gibt, wird es auch keine kommerzielle Atomlobby geben. Sondern nur unbezahlte NGO-Vereine wie die Nuklearia.

Ach, und was Uran und Plutonium betrifft: lange Halbwertszeit bedeutet geringe Aktivität. Das, was in den ersten Tagen, Wochen und Jahren nach dem Unfall stark gestrahlt hat, waren Spaltprodukte. Und von denen ist nur noch eher wenig übrig.

Hannes sagt:

Sehr geehrter Herr Dr. Rüegg!

Ich habe kürzlich einen Bericht verfolgt, in dem darauf hingewiesen wird, dass mittlerweile das Thema Americium in Tschernobyl die viel größere Gefahr darstelle. Es wurde für Laien vereinfacht erklärt, dass Americium im Zuge des Verfalls gewisser Produkte (wie zB: Plutonium) ensteht und auf Grund von der Wasserlöslichkeit eine große Gefahr darstellt, da dies sich einfach im Grundwasser verbreiten kann bzw. über Pflanzen aufgenommen wird und so in Lebensmittelkreislauf gelangen kann. Americium gilt zwar als Alphastrahler, setzt sich jedoch in Knochen stark ab, sofern man so einen Partikel einatmet. Sie hatten mir schon mal meine Frage zum Thema Aufnahme von Staubpartikeln beantwortet, davon geht ja keine Gefahr mehr aus, da über die Jahre eine Auswaschung stattgefunden hat. In einem der Americium Berichte wird darauf hingewiesen, dass von Tschernobyl Besuchen dringend abzuraten sei, da bei Winden eine Aufnahme möglich sein kann. Ensteht derzeit aktuell Americium im Zuge des Abbaues und gibt es dadurch “neue” Staubpartikel die herumfliegen? Habe ich hier etwas falsch verstanden? Ich würde Sie hierzu um Aufklärung und Ihre fundierte Fachmeinung bitten, danke schon vorab für Ihre interessante Antwort! Viele Grüße, Hannes

Walter Rüegg sagt:

Am-241 wird vorwiegend durch den Zerfall von Pu-241 (Halbwertszeit 13 Jahre) gebildet. Daher wird sich Am-241 mit den Jahren anreichern. Heute (nach etwa 2.5 Halbwertszeiten) hat sich ein grosser Teil des Am-241 bereits gebildet, die Konzentration wird kaum noch ansteigen. Dies umsomehr als Am gut wasserlöslich ist und leicht weggeschwemmt wird oder versickert.

Die Gefahren durch Am-241 werden masslos übertrieben. Die wohl aussagekräftigste Arbeit über die Aufnahme und Dosis von verschienenen Fallout-Bestandteilen, u.a. auch Am-241, ist die vor einem Jahr erschienene Arbeit von N.A.Beresford et al, Jurnal of environmental Radioactivity (28. Febr. 2018 online), https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0265931X17309384. In dieser Arbeit werden Boden, Pflanzen und Tiere in einem Gebiet mit sehr hoher Falloutdosis (Teil des roten Waldes) sehr gründlich untersucht. Die Boden-Cs-137-Konzentration lag bei etwa 10 MBq/m2, entsprechend fand man in der Erde pro kg 150 kBq Cs-137, 50 kBq Sr-90, 3 kBq Am241 und etwa 300 Bq Pu-isotope. Feldmäuse zeigten eine Konzentration pro kg Körpergewicht von 14 kBq Cs-137, 6.4 kBq Sr-90, aber nur einige wenige Bq Pu-Isotope und Am-241. Mit Am können Pflanzen und Tiere gar nichts anfangen, wird praktisch nicht aufgenommen. Die Tiere befinden sich lebenslänglich, 24 Std pro Tag, in dieser Umgebung, atmen sicher auch heisse Partikel ein. Diese kommen in den Magen, werden umgehend ausgeschieden (nur Feinstaub kommt in die Lunge). Selbst bei 100%iger Ernährung aus stark belasteten Pflanzen und Kleinlebewesen, macht die interne Bestrahlung typisch nur etwa die Hälfte der totalen Bestrahlung (ca. 1 Sv pro Jahr!) aus. Der Am-241-Anteil ist vernächlässigbar, um 1%. Sr-90 und Cs-137 dominieren vollständig.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Am-241 radiotoxisch vernachlässigbar ist und auch so bleiben wird. Ich hätte kein Problem, mir aus den Kräutern und Pilze des ehem. roten Waldes einen guten Salat zu mixen und diesen genüsslich zu essen. Die zusätzliche Strahlenbelastung dürfte kaum zu messen sein.
Walter Rüegg

Sarja sagt:

Guten Appetit Herr Rüegg beim Verspeisen der Pilze, auch wenn die Masse an Am241 zügig durch den Körper geht, verbleibt ein Rest in den Organen (Leber, Niere, Schildrüse) für viele Jahre und über Jahrzehnte in den Knochen, um dort als Alphastrahler die benachbarten Zellen zu zerstören und Krebs auszulösen. Mehr dazu ist hier zu finden:
https://www.atsdr.cdc.gov/toxprofiles/tp156.pdf

Walter Rüegg sagt:

Wenn man Ängste vor Knochenkrebs heraufbeschwören will, würde ich Sr-90 benutzen. Strontium steht im Periodensystem direkt unter Calcium. Es wandert deswegen gerne in die Knochen, für Jahrzehnte. Es kommt deshalb in den Tieren von Tschernobyl etwa 1000-mal häufiger vor als Am-241. Dieses wirkt radiotoxisch bei Ingestion zwar rund 7-mal stärker (Alphastrahler, aber weniger Ablagerungen im Körper), aber eben, die Mengen sind winzig. Sehr viel schlimmer wirkt Po-210, ein böser Alphastrahler (gut geeignet, um russische Dissidenten umzubringen). Interessant dabei ist, dass (natürliches) Po-210 in Fischen und vor allem in Meeresfrüchten meistens in viel höheren Konzentrationen vorkommt als Am-241 in Tschernobyl-Tieren. Bevölkerungen mit hohem Konsum von Meeresgetier haben eine auffallend grosse Lebenserwartung. Passend dazu: Mehrere Tausend Radiummalerinnen inkorporierten in den 20er-Jahren des letzten Jahrhundert Horrordosen von Radium (auch ein Alphastrahler). Aber erst ab etwa 3 Millionen Bq (!) zeigte sich ein Anstieg von Knochenkrebs (Radium wandert in die Knochen, da chemisch mit Calcium verwandt). Noch bemerkenswerter: Unter 3 Millionen Bq sank die Krebsrate unter die natürliche, hervorragend bestätigt durch entsprechende Tierversuche (http://www.rerowland.com/Dial_Painters.pdf und O. Raabe, Health Physics 98: 515-536, 2010).
Gerne würde ich täglich ein «Tschernobyl»-Pilzgericht essen, als Ersatz geniesse ich bei jeder Gelegenheit Meeresfrüchte.
Walter Rüegg

Karin sagt:

Da ich mich auch für einen Tagesausflug nach Pripyat und Tschernobyl interessiere, aber dabei Bedenken bzgl. Gesundheit habe, hätte ich ein paar Fragen: es wird bzgl. Strahlenbelastung immer wieder der Vergleich mit Röntgenaufnahme oder Langstreckenflug gezogen… ist dieser Vergleich denn zulässig? also das würde dann ja heißen: es kommt nicht auf den Stoff drauf an, sondern nur auf die Stärke (oder Menge??) der Strahlung?? meines Wissens nach, wird bei einer Röntgenaufnahme nicht mit z.B
Cäsium 137 gearbeitet (oder bin ich falsch informiert)? und das Tragen einer Staubmaske ist auch nicht notwendig??

Archophob sagt:

Bei einer Röntgenaufnahme wird kein Cs-137 verwendet, und bei einem Besuch an den wenigen immer noch überdurchschnittlich strahlenden “Hotspots” sollte man nichts essen, was kontaminiert sein könnte.

Die einzigen Krebsfälle, bei denen es nachweislich einen Zusammenhang zur Strahlung gab, waren Schilddrüsenkrebs bei Leuten, die Milch mit radioaktivem Jod getrunken hatten.

Also: Strahlung von außen ist mit Höhenstrahlung im Flugzeug vergleichbar, Strahlung von innen durch kontaminierte Nahrungsmittel sollte man besser vermeiden. Die werden einem dort aber auch nicht angeboten, das gefährlichste ist der Wodka.

Walter Rüegg sagt:

Bin mit der Antwort von Archophob einverstanden.
Konkret bewirken Röntgenstrahlen, kosm. Strahlen (im Flugzeug) und die Strahlen von Cs-137 (ob im Körper oder von ausserhalb) das Gleiche: Sie produzieren in den Zellen Giftstoffe und schädigen Biomoleküle. Der “Schaden” hängt von der Länge der Exposition und der Stärke (Intensität) der Strahlen ab, d,h. von der gesamten erhaltenen Dosis. Die bei einem Besuch in Tschernobyl erhaltene Dosis ist, selbst wenn man längere Zeit bei “Hot Spots” verweilt, viel kleiner als die natürliche Jahres-Dosis aus dem Boden. Und diese schwankt von Ort zu Ort weit mehr als die Dosis, welche man bei einem Tagesbesuch in Tschernobyl bekommt. Abgesehen davon ist eine Tschernobyl-Tagesdosis viele Tausend mal von der Dosis entfernt, bei der erste Schäden erkennbar werden. Im Schwarzwald oder im Erzgebirge strahlt es mehr als in Tschernobyl.
Eine Staubmaske ist überflüssig, selbst im Inneren des zerstörten Reaktorgebäude (wurden gezwungen, eine zu tragen, aber unsere Messungen zeigten, dass dies nicht notwendig ist).

Hallo, RBMK 1.000: Warum wolllen alle Leute den zerstörten RBMK anschauen, es laufen doch noch einige RBMK in RF oder UA, diese wären viel interessanter ?

Rainer Klute sagt:

Es laufen noch 10 RBMK in Russland.

Helmut Lambert sagt:

Sehr ruhiger, sachlicher, detaillierter Bericht mit konkreten Messergebnissen und ihrer Einordnung. Danke!
Da mögen Details der Technik und des genauen Hergangs noch strittig sein (s. einige Kommentare), das Ergebnis ist doch klar: Katastrophe mit zahlreichen Opfern, vertrahlte Gebiete, aber heute weit weniger schlimm als ich es erwartet hätte.

“Als der eigentliche Test eingeleitet wurde (Abschaltung der Turbine) stieg die Leistung aus physikalischen Gründen (Dampfblasen entstanden) plötzlich an, die Notabschaltung wurde manuell eingeleitet. Aber es war schon zu spät.”

Diese Aussage ist falsch. Bis eine Sekunde nach der Notabschaltung (manuell), die nicht wegen einer Gefahrensituation getätigt wurde sondern um gezielt den Reaktor abzuschalten, da der Test erfolgreich beendet wurde, gab es keinen Leistungsanstieg.

Auch die Aussage “Praktisch alle Steuerstäbe wurden bis zum Anschlag ausgefahren.” ist falsch. Es gab eine ORM mit 15 Steuerstävben. nachgerechnet wurden 6 bis 8 Steuerstäbe, was aber als falsch vermutet wird und der Wert tatsächlich höher lag.

“[…] durch eine Fehlmanipulation oder durch einen Elektronikdefekt sackte sie jedoch auf 1 Prozent ab.” Auch diese Ursache ist bekannt, denn es handelt sich um einen Fehler bei der Umschaltung auf die globale Leistungsregelung, durch die Vorgabe eines falschen Wertes.

“[…] bestanden die Spitzen der Steuerstäbe aus Graphit […]” – da sind keine Spitzen, sondern Verdränger, die übrigens länger waren als die Absorber selber, über 7 Meter lang.

“Der untere Teil des Reaktorkerns erhitzte sich auf über 3.000 °C, das Kühlwasser verdampfte explosionsartig. Der entstehende Dampfdruck war so gewaltig, dass er den gesamten Reaktorkern (mit Abschirmungsdeckel um die 3000 Tonnen) wie eine Rakete etwa 40 m hoch in die Luft steigen liess.” – die erste Explosion fehlt völlig, den eine erste Wasserstoffexplosion hat einen Loch in den unteren Teil gerissen. Dass die zweite Explosion eine Dampfexplosion war, ist bis heute nicht nachgewiesen, weshalb man von Wasserstoff ausgeht, auch aufgrund der Tatsache, dass der Brennstoff mit 5 Meter pro Sekunde Flussgeschwindigkeit aus dem Reaktor floss.

“Der obere Reaktorteil mit dem schweren Betondeckel fiel in den Reaktorschacht zurück (siehe Abbildung 6). Man sieht in dieser Abbildung die vielen Druckröhren aus dem Reaktordeckel herausragen. Der Brennstoff in diesem oberen Reaktorteil dürfte sich noch teilweise in diesen Rohren befinden.” – Der Reaktor flog nicht in den Schacht zurück, sondern landete daneben. Im Mai 1986 rutschte E noch mal in Richtung Schacht, stabilisierte sich dort dann aber. Des weiteren ist auf dem Bild die Oberseite des Reaktors abgebildet, in denen sicherlich kein brennstoff mehr steckt, der ist nämlich auf der anderen Seite. Diese Seite ist völlig deformiert und fast nicht mehr vorhanden. Alle Druckröhren sind in Hauptwindrichtung gebogen.

Die “Wer ist Schuld?”-Frage ist aber der Höhepunkt, denn hier wird von einer ukrainischen mannschaft gesprochen. Weder Djatlow, noch Akimow, noch Tuptonow, noch Tregub kamen aus der Ukraine. Die Hintergründe dazu, wer woran schuld hat, sind schwer festzustellen, allerdings kann man sie durchaus auf einige Handlungen einzelner Personen zurückführen.

“Rätselhafterweise sind die spezifischen Betriebsvorschriften für diesen Reaktor »verschwunden«.” – Das ist nicht richtig, das Reglement für den RBMK-1000 im Kernkraftwerk Tschernobyl mit den originalen Unterschriften, die auch Djatlow, Fomin und Bruchanow unterzeichneten, gibt es nach wie vor.

“Ohne Zweifel wurden die allgemeinen Vorschriften für diesen Reaktortyp massiv verletzt (z.B. minimale Anzahl Steuerstäbe im Reaktor), unklar ist aber der Instruktionsgrad der Mannschaft.” – so nicht richtig, denn zu diesem Zeitpunkt gab es außer die in den Kernkraftwerken festgelegten Anweisungen keine direkte Grenze hierfür. Im Normalbetrieb wurden diese Grenzen regelmäßig unterschritten und sind auch nach den Reglementierungen der sowjetischen Aufsicht entsprechend freigegeben gewesen.

“Eines ist klar: Der Reaktor hatte keine »Konstruktionsfehler«.” – kann man so nicht sagen, denn durchaus hat er konstruktive Fehler gehabt, die bereits damals selbst in den Satellitenstaaten der UdSSR nicht zulässig gewesen waren. Hier die Betriebsmannschaft als einzigen Schuldigen zu bagatellisieren ist meines Erachtens grob fahrlässig.

Da dieser Teil einen ganzen Abschnitt behandelt, rollen sich bei Mir die Zehennägel auf wenn ich so viel quatsch lese oder man eben mangels Feingefühl für die Thematik diese Detailgetreuigkeit für dieses doch heikle Thema auslässt. Freilich muss alles nicht ins Detail rein, es sollte aber richtig sein! Das ist das was mich gerade etwas wütend macht. :/

Anna Veronika Wendland sagt:

Kurzdarstellung der Ursachen des Tschernobyl-Unfalls (Die Langversion füllt einige Regalmeter russischsprachiger Fachliteratur):

Präambel: Die häufig anzutreffende Erklärung des Tschernobyl-Unfalls, demzufolge es sich um einen fahrlässig (oder „aus Mentalitätsgründen“ oder „aufgrund schlechter Ausbildung des Personals“) ausgelösten Unfall handelte, ist unzutreffend. Die wirklichen Unfallursachen liegen weit tiefer:

1) Auslegungsmangel I / Reaktorkonzept RBMK (grafitmoderierter, leichtwassergekühlter Druckröhren-Siedewasserreaktor) mit positivem Void-Reaktivitätskoeffizienten (mehr Dampfblasen —> mehr Reaktorleistung), der besonders bei niedriger Reaktorleistung und hohem Abbrand „durchschlägt“, beides Randbedingungen des Anlagenzustandes in der Unfallnacht.

2) Auslegungsmangel II / dysfunktionales hybrides Abschaltsystem aus einem Brennstoff- und einem Grafit-Absorber-Teil, das bei bestimmten Zuständen (Einwurf aller oder der meisten Steuerstäbe aus Oberer Endstellung) in der ersten Einwurfphase starken positiven Reaktivitätseintrag in der unteren Reaktorhälfte brachte, wegen einer Verdrängung des im SE-Kanals stehenden (in diesem Reaktor eher als Absorber wirksam werdenden) Wassers und seiner Ersetzung durch den Moderator Grafit. Die geringe Geschwindigkeit des Abschaltsystems war nicht unfallentscheidend und galt wegen der in Vergleich zu anderen Reaktorkonzepten niedrigeren Leistungsdichte nicht als problematisch.

3) Mängel im Reaktorschutz: kein RS-Signal / Eingriff des Reaktorschutzes bei Unterschreitung eines minimalen Stabreserve-Äquivalents im Kern, der das Ziehen von Stäben über eine sichere betriebliche Reserve hinaus hätte verhindern können. Das widersprach übrigens auch dem sowjetischen kerntechnischen Regelwerk, das 1986 gültig war.

4) spezifische Transiente dieser Situation (Minimale Leistung, hoher Abbrand, hohe Xe-Vergiftung nach ungeplantem, durch Operatorfehler entstandenen Leistungseinbruch), welche den Reaktor sehr instabil und empfindlich für Leistungsänderungen machte. Und den Operateur bewog, zwecks Erreichung einer für den Test gewünschten Leistung Stäbe zu ziehen und die meisten in Obere Endstellung zu bringen. In dieser Situation spielte einigen Zeugen zufolge auch sozialer Druck von Vorgesetzten auf die Schichtmannschaft eine Rolle.

Das war eine Aktion in einer Grauzone des BHB (dh nichts ausdrücklich Verbotenes oder zumindest im Unklaren gelasse). Der „positive Abschalteffekt“ wurde in der sowjetischen hohen Atomhierarchie diskutiert, aber diese Erkenntnis nie im System nach unten weitergegeben und in Anweisungen für die Anlagen umgesetzt; der Umbau des Steuerstab-Systems war sogar schon geplant – aber nicht umgesetzt; der Reaktorschutz lag in diesem Fall also auf den Schultern des Personals, das sich dessen aber nicht bewusst war, und in bestimmten Transienten viel zu lange brauchte, um die Reaktivitätsreserve der im Kern verbliebenen Stäbe zu ermitteln (zu geringe Rechnerleistung, sehr großer und unübersichtlicher Kern mit 211 SE und über 1600 BE). Daher ist bis heute auch umstritten, wieviel Stäbe (Angaben schwanken zwischen 6 und 15) noch im Kern waren.

Bei dieser spezifischen, vorher nie dagewesenen Situation war die am Test-Ende zwecks regulärer Abschaltung der Anlage ausgelöste RESA v.H. tödlich. Was man aber nicht wusste. Im Resultat kam es zu einer prompt überkritischen Leistungsexkursion mit sofortiger Kernzerlegung und zwei nachfolgenden vermutlich Wasserstoff-Explosionen,welche den Reaktor und den Apparatesaal zerstörten.

Der Unfall war also vor allem konstruktionsbedingt, Fehlhandlungen des Personals machen nur einen kleinen Teil aus, schufen einige Voraussetzungen, waren unterm Strich aber nicht unfallentscheidend. Als „Contributor“ ist auch der sowjetische Ansatz anzusehen, Reaktorschutzfunktionen in die Hand der Menschen zu geben, statt sie zu automatisieren.

Siehe IAEA, INSAG-7 (1991). Mutwillige, durch Korruption, Absicht o.a. bedingte Fehlhandlungen gab es keine.

Es gibt veraltete Versionen von 1986, die zwecks Schutz des Systems zurechtgebogen wurden in „menschliches Versagen“. Die geistern immer noch in der Diskussion herum, sind aber falsch. Auch falsch sind die immer wieder auch in Fachkreisen auftauchenden Behauptungen, der RBMK sei ein Zweizweck-Reaktor zur Produktion von Bombenplutonium gewesen (Beweisführung hier OT und daher nicht vertieft, aber aus russischen Quellen und Fachliteratur über Plutoniumvektoren von Leistungsreaktor-Brennstoff eindeutig zu führen).

Es gibt eine sehr gute deutschsprachige Zusammenfassung in einem Sonderheft der atw (Atomwirtschaft-Atomtechnik) von 2016, Kerner/Stück/Weiss: „Der Unfall von Tschernobyl“.

Walter Rüegg sagt:

Gute Beschreibung, einzig darüber, ob die AZ-5-Betätigung um 01:23:40 «regulär» war oder nicht kann man sich streiten (Augenzeugen widersprechen sich).
Eine Frage hätte ich noch:
Wenn eine Schnellabschaltung (in ca. 2 Sekunden) existiert hätte, ist dann nicht zu vermuten, dass die Leistungsexkursion nach Drücken des AZ-5-Knopfes (innert 4-6 Sekunden von etwa 0.3 GWt auf 300 GWt) hätte verhindert werden können? Einerseits wäre die «Wirkungsdauer» des positiven Reaktivitätseffektes der Graphitverdränger der Kontrollstäbe viel kürzer ausgefallen, der entsprechend sehr viel kleinere Leistungsanstieg (da exponentiell) im unteren Teil des Reaktors hätte das weitere Einfahren der Stäbe nicht verhindert. Anschliessend (nach max. 2 sec.) hätten die über 200 Bor-Stäbe im Reaktorkern die Reaktivität sofort in den (negativen) Keller geschickt.

Gunnar KAESTLE sagt:

“Im Resultat kam es zu einer prompt überkritischen Leistungsexkursion mit sofortiger Kernzerlegung und zwei nachfolgenden vermutlich Wasserstoff-Explosionen,welche den Reaktor und den Apparatesaal zerstörten.” Das passt nicht so richtig. Warum Wasserstoff-Explosion? Überlicherweise gibt es doch eine Knallgasexplosion erst nachdem man über einen gewissen Zeitraum Wasserstoff angesammelt hat und dieser Vorrat dann auf einmal zündet. Im INSAG-7 Report vom Nov 1992 steht, dass der Verlust des Kühlwassers zu einem Reaktivitätsanstieg von 4-5 beta führt. Also ist die prompt überkritische Explosion (= Reaktivitätsunfall) der zweite Knall, und der erste ein paar Sekunden vorher war die Leistungsexkursion in der unteren Reaktorhälfte durch den Designfehler bei den Steuerstäben. Die führte zu einer Überhitzung und Druckerhöhung in den Druckröhren. Wenn mehrere gleichzeitig bersten hat man sowas wie einen multiplen Kesselzerklnall. Ausgehend von 270 °C und 7.0 MPa zischt dann das Wasserdampfgemisch raus in den Reaktortopf und die Kondensationsbecken und im Reaktor fängt es wegen des Druckabfalls schlagartig an überall zu sieden. E voilá, man hat dann 1,2,3 beta Reaktivität extra, womit sich der prompt überkritische Zustand einstellt, bis sich die Brennelemente thermisch zerlegen und einen Nuclear-Jet aus BE-Dämpfen produzieren (was die Reaktivität wieder runterbringt).

Mit diesem Bild ist mir bei den restlichen 10 RBMK in Betrieb nicht ganz geheuer, weil die Stufe 2 des Szenarios nach wie vor möglich ist. Die Stufe 1 wurde zwar entschärft, aber man muss nur irgenwie ein multiples Röhrenversagen provozieren und Tschernobyl kann sich wiederholen. Je älter die Röhren werden, desto eher verspröden sie. Ich habe momentan noch keine Idee, wie mit einem Wasserhammer oder ähnlichem ein Impulsbelastung im Druckrohrsystem entstehen kann, aber die eingebaute Chance auf einen Kritikalitätsunfall finde ich nicht besonders attraktiv. Murphy lässt grüßen.

Walter Rüegg sagt:

Vielen Dank für die verschiedenen Anmerkungen.
Ich behalte mir natürlich das Recht vor zu irren, ungenau zu formulieren oder eine abweichende Meinung zu haben. Einige Anmerkungen sind korrekt (die Schlüsselpersonen im Kontrollraum waren keine gebürtigen Ukrainer). Und die Graphitspitzen der Kontrollstäbe können auch „Wasserverdränger“ genannt werden. N.B.: Die Spitzen, pardon, die „Verdränger“, sind „nur“ 4.5 m lang sind und nicht 7 m, siehe auch Abbildung 4, ist etwa maßstäblich. Auch es lohnt sich wohl kaum darüber zu streiten, ob bei 6 oder 8 oder sogar 15 verbleibenden Kontrollstäben von insgesamt 211 „praktisch alle“ eine korrekte Beschreibung ist oder nicht. Ob man den sekundenschnellen Druckaufbau, welcher den Reaktorkern herauskatapultierte, „Explosion“ nennen will, ist Geschmackssache. Und welche Seite der oberen Reaktorabschirmung bei Abbildung 6 sichtbar ist, habe ich nicht spezifiziert, ist auch nicht so wichtig (der Bericht ist keine wissenschaftliche Abhandlung). Auch die Diskussion was ein Konstruktionsfehler ist und was eine konzeptionelle Schwäche ist bringt nicht viel.

Meine Ausführungen über den Ablauf der Katastrophe basieren, neben eigenen Literaturstudien, im Wesentlichen auf den Vorträgen und Diskussionen mit den Fachexperten vor Ort (viele Stunden damit verbracht). Besonders die Leistungsexkursion und dessen unmittelbare Folgen führten zu längeren Fachdiskussionen, das nachfolgendes Bild (Detail des Reaktors im Moment des “Abhebens” und die Abbildung 4 und 5 in meinem Bericht illustrieren dies.

Es gibt verschiedene Versionen des genauen Ablaufs, auch über den Grund der Notabschaltung (AZ-5) um 01:23:40. Die Variante, welche auch Djatlov vertritt – ein ganz „normales“ Abschalten am Ende des Versuches – ist nicht ohne Widersprüche (u.a. Aussagen von Augenzeugen), siehe z.B. http://www.rri.kyoto-u.ac.jp/PUB/report/04_kr/img/ekr010.pdf, ab Seite 11 und 27 (in diesem Bericht gibt es auch verschiedene Versionen, sowie einige eher „abenteuerliche“ Erklärungen, aber auch interessante Details). Wie dem auch sei, die Zeugenaussagen, die Auszeichnungen der Instrumente (leider ohne genügend gute Zeitauflösung der Reaktorleistung und einigen anderen Parametern) und die verschiedenen Simulationen sind nicht unter einen Hut zu bringen. Im Übrigen haben grosse Katastrophen nie eine einzige Ursache, sie sind immer die Folge einer ganzen Reihe von unglücklichen Bedingungen und Ereignisse. Klar ist, dass die Tschernobyl-Katastrophe sowohl durch konzeptionelle Schwächen als auch durch menschliches Fehlverhalten (nicht zuletzt auch die fehlende Sicherheitskultur) ausgelöst wurde und der Zufall spielte auch eine Rolle.

Aber eigentlich ist der genauen Katastrophenablauf, und wer oder was in welchem Umfang dafür verantwortlich ist, für meinen Bericht nebensächlich. Mein Artikel soll vor allem die heutige Strahlensituation, dessen mögliche Auswirkungen und die vielen masslosen Übertreibungen offenlegen. Darüber streite ich mich viel lieber (ist auch mein eigentliches Fachgebiet).

Gunnar KAESTLE sagt:

https://www.rri.kyoto-u.ac.jp/PUB/report/04_kr/img/ekr010.pdf – Was ist in diesem Sammelband mit den Beiträgen von Mikhail V. MALKO: The Chernobyl Reactor: Design Features and Reasons for Accident, S. 11ff und Boris I. GORBACHEV: Causes and Scenario of the Chernobyl Accident, and Radioactive Release on the CHNPP Unit-4 Site, S. 28ff abenteuerlich?

Erich sagt:

Selbst ich als Jurist und Laie dieser Wissenschaft fand diese Abhandlung unglaublich interessant und einleuchtend. Es ist sehr schade, dass dieses Thema in Deutschland so emotional diskutiert wird.

Hannes sagt:

Sehr geehrter Herr Dr. Rüegg,

der Bericht von Ihnen ist meiner Meinung nach der einzige Bericht, der auf fundierten Daten und Fakten beruht, danke dafür!

Ich selber bin interessiert an einer Reise nach Tschernobyl, habe aber trotz Ihres Bereichts so meine Zweifel. Meine Zweifel gehen eher dahin, dass ich mich, wenn ich vor Ort bin, aus gewissen Situationen nicht entfernen kann, selbst wenn ich will. ZB: Es werden Hotspots ohne mein Wissen mit dem PKW befahren. Wie vorsichtig oder unvorsichtig sind die Guides? Ich habe gelesen, dass bei Regen oder Wind Partikel aufgewirbelt werden können (oder ausgeschwemmt), die man besser nicht einatmet oder berührt.
Mir ist schon klar, dass so eine Reise auf Eigenrisiko passiert. Ich habe schon mehrere außergewöhnliche Reisen gemacht, ich gehe nicht blauäugig vor.

Wie schätzen Sie die Gefahr des “ausgeliefert” seins ein. Hat man vor Ort immer selber die Möglichkeit zu entscheiden wie weit man geht?

Ich freue mich über Ihre Antwort, vorab schon danke!

Liebe Grüße
Hannes

Walter Rüegg sagt:

Es ist immer zu empfehlen, sich über die Risiken einer Reise im Voraus zu informieren. Tschernobyl dürfte aber betreffend Strahlung ein “low risk” sein, die anderen Risiken (einige habe ich in meinem Bericht erwähnt) sind höher. Konkret:
Die Guides haben ein Strahlenmessgerät, sonst sind sie nicht seriös. Sie und die Veranstalter (man findet viele in Kiew) sind auch um ihren Ruf bedacht und gehen keine Risiken ein. Die Bestrahlungsrisiken sind aber auch sonst zu relativieren: Selbst an einem “Hot Spot”, der mit einem Guide wohl kaum betreten wird, beträgt die Dosisleistung selten über 0.1 mSv/h. Bei einem Aufenthalt von 1 Stunde erhält man also eine Dosis von 0.1 mSv, völlig vernachlässigbar gegenüber der durchschnittlichen Jahresdosis von ca. 4 mSv aus der normalen (natürlichen) Umweltstrahlung (inklusive interne Dosen), und diese variiert in Westeuropa zwischen 2 mSv und über 10 mSv pro Jahr.
“Lose” Partikel gibt es schon lange nicht mehr, Wind und Regen haben in den vergangenen 30 Jahren dafür gesorgt. Wir konnten nahe am Kraftwerk mit unseren Messgeräten ein solches “heisses” Partikel finden, allerdings ca. 10 cm tief im Boden. Im Körper eingelagert (z.B. in der Lunge) könnte ein solches Partikel tatsächlich mit der Zeit umliegende Zellen in den Zelltod schicken. Ich gebe aber zu bedenken, dass eine einzige Zigarette viel mehr Zellen in den Zellhimmel schickt, und mit einem einzigen Atemzug inhalieren wir über eine Milliarde Arsenatome. Vom Feinstaub (künstlichen oder natürlichen Ursprungs) wollen wir gar nicht reden. Und so kommt es, dass die Zellen in unserer Lunge (in den Lungenbläschen) etwa alle 8 Tage so oder so sterben (programmiert) und erneuert werden, ein Leben lang. In vielen Tierversuchen (Nager und Hunde) wurde übrigens die Gefahr von Partikel (insbesondere Plutonium in der Lunge) untersucht, es kann Entwarnung gegeben werden (ausser bei Milliarden solcher Dinger gleichzeitig).
Also unbesorgt nach Tschernobyl reisen.

Ludwig Schmidt sagt:

Vielen Dank für den informativen Beitrag.
Ich hätte nur eine abschließende Frage, die mich schon seit dem Unfall beschäftigt.
Plutonium und später Americium wurden freigesetzt und können inhaliert werden. Als Alphastrahler zerstören sie laut Literatur zu hundert Prozent die Zellumgebung, bzw. lösen Krebs aus. Beide Stoffe gelangen in die Lunge vor Ort, je näher man sich dem Unfallort nähert.
Kann unser Körper Plutonium denn wieder loswerden.?
Ich hatte deshalb all die Jahre sogar Angst, nach Kiew zu fliegen, wegen Plutonium in der Luft, das man einatmen könnte.
Oder ist das alles wirklich vernachlässigbar?

Tim Scheuermann sagt:

Da mich deine Frage anfangs auch am meisten beunruhigt hatte, hier mein Versuch dir eine Erklärung zu liefern. Vorab, ich bin Energietechniker und kein Kernphysiker oder Mediziner/ Biologe.

Allgemein geht von Plutonium eine tatsächliche Gefahr aus. Als Alphastrahler wird es, eingenommen in den menschlichen Körper, dort eingelagert und strahlt auch noch über deinen Tod hinaus. Allerdings werden dir erst einmal mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kein Plutonium Partikel entgegenkommen. Das Isotop ist verhältnismäßig schwer, deshalb ist es auch nicht wie etwa das Cäsium, zum größten Teil um den Reaktor geblieben. In Folge seiner langen Halbwertszeit ist die Strahlenbelastung allerdings geringer, verglichen zu anderen Isotopen, wie beispielsweise Iod 131. Zum einen bei Tierversuchen, aber auch bei Unfällen der Geschichte, konnte bereits relativ gut erforscht werden wie hoch das tatsächliche Gefährdungspotential ist. Auch wurde hierbei erwiesen, dass das Plutonium zu einem gewissen Grad ausgeschieden wird (jedoch nicht vollständig). Ich denke aber das beste Beispiel ist die A Bombe von Nagasaki. Hier sind die Langzeitfolgen fantastisch und glaubwürdig erfasst. Es kam zwar zu einer Erhöhung von Karzinomen, allerdings entscheidend davon abhängig wie Jung die Person bei der Explosion war und wie stark ihre Schockdosis dabei. Die Theorie ist wohl, dass die menschlichen Zellen um den Plutonium- Partikel in deinem Körper absterben, und daher lokal weniger mögliche Mutationen entstehen können. Die abgestorbenen Zellen bilden so eine Abschirmung weshalb das Gefahrenpotential reduziert wird. Daher ist eine homogene Bestrahlung auch gefährlicher. Hier gibt es statistisch mehr Zellen, welche entarten können. Eine Restgefahr besteht aber natürlich immer, wir dürfen aber bei solchen Ängsten die Wahrscheinlichkeiten nicht vergessen. Würde jetzt also von einem Besuch in Kiew eine solche messbare Gefahr ausgehen (oder auch von einer Tagestour nach Tschernobyl), dann könnten dort wohl keine Menschen leben. Wahrscheinlicher ist es, dass du mit dem Auto auf deinem Trip ums Leben kommen wirst, so wir da zum Teil gefahren wird…
Außerdem gibt es eine Anzahl weiterer Substanzen, wie etwa Radium (in Paranüssen enthalten), welche wir ohne einen Gedanken konsumieren und auch diese im Körper für immer eingelagert werden.
Nicht außer Acht zu lassen ist, dass es Plutonium nicht nur um Tschernobyl, sondern dank der Atombombentests quasi auf dem gesamten Planeten, mit örtlichen Konzentrationsunterschieden, gibt. Wahrscheinlich hast du also sogar bereits etwas Plutonium in dir.
Letztendlich ist die Gesamtdosis entscheidend, solange du dich also nicht mehr als 100 (/200) mSv aussetzt, ist dein Risiko an Krebs zu erkranken, wahrscheinlich sogar geringer als ganz ohne zusätzlich ausgesetzte Strahlung. Warum das so ist habe ich zwar auch noch nicht ganz durchblicken können, jedenfalls war meine Angst zu dem Thema übertrieben. Desto länger ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe, desto stärker wurde mir klar wie Schlecht die allgemeine Berichterstattung hierzu leider ist.
Um deine Angst vor Radioaktivität etwas zu nehmen, kann ich dir den Vortrag von Geraldine Thomas empfehlen (Radiation Health Risks from Nuclear Accidents – Facts and Fantasy – YouTube). Oder auch von Dr. Rüegg (Die Wahrheit über Radioaktivität – Fluch oder Segen? Dr. sc. nat. Walter Rüegg 27.03.2015 – YouTube). Wenn es schnell gehen soll hier ein Interview von Robert Gale (Chernobyl Nuclear Disaster Jones & Co June 19, 2019 – YouTube). Er hatte Opfer des GAUs von Beginn an medizinisch begleitet.

Ich hoffe, ich konnte dich bereits etwas überzeugen. Bei Interesse lese dich intensiv in das Thema ein. Ich bin seitdem absoluter Unterstützer der Kernenergie geworden.
Beste Grüße
Tim

Hanna sagt:

Ich war letztes Jahr auf einer Tour mit Urbexplorer.com und wir waren sogar 4 Tage in der Sperrzone. Wir waren eine kleine Gruppe, so das man auch auf individuelle Wünsche je nach Möglichkeit eingehen könnte. Wir hatten einen sehr netten Guide der schon viele Jahre für das Unternehmen arbeitet.
Wir besuchten neben den typischen Touriplätzen in der Sperrzone, wie dem Rummelplatz und das Krankenhaus auch weit abseits gelegene unberührte Orte, wo sonst kaum ein Tourist hin kommt.
Zu der Reise gehörte auch ein Besuch des Kraftwerks und wir konnten es von innen besichtigen. Ebenfalls besuchten wir die Menschen die noch heute in der Sperrzone leben, das war eine tolle Erfahrung.
Wer diese Erfahrung einmal selbst machen möchte dem empfehle ich https://urbexplorer.com
#Kerngesund

Wolfram Adlassnig sagt:

Danke für diesen schönen Bericht! Auch ich habe jüngstens, ebenfalls mit Meßgeräten bewaffnet, die Zone besucht und kann die Werte grundsätzlich bestätigen. Da ich mich jedoch besonders für die Moose interessierte und dort viel gemessen habe, darf ich aber ergänzen, daß die Strahlung nicht zuletzt von der Art des Mooses abhängt und viel stärker variiert, als im Bericht genannt. Den höchsten Wert fand ich mit 75μSi/h über einem Bäumchenmoos (Climacium dendroides), das in Pripjat allerdings selten ist.

Basti sagt:

Was ist mit der Gefahr durch kontaminierten Staub in Gebäuden und verseuchten Wasserstellen? Man liest immer wieder, dass hiervon die größten Gefahren in Chernobyl ausgehen sollen.

Außerdem sollen in einem Umkreis von 30 km um den Reaktor herum die Strahlenwerte teils stark variieren? Wie lässt sich das erklären?

Und warum soll Reaktor 4 eine neue Schutzhülle bekommen, wo doch laut ihrer Aussage keine Gefahr von ihm ausgeht, solange man ihn nicht betritt? Da gäbe es doch kostengünstigere Alternativen als zum Preis von 1,5 Mrd. €?

Walter Rüegg sagt:

Wir haben keine besondere Aktivität im Staub von Gebäuden gefunden. Nach 30 Jahren har sich alles verflüchtigt. Manchmal hat man Angst vor “heissen” Partikel. Sorgfältige Untersuchungen (Tiere) und theoretische Überlegungen zeigten, dass die gleiche Aktivität, verteilt auf den Körper, gefährlicher wirkt.
Die Strahlung in der Umgebung variiert tatsachlich recht stark, ein Faktor 10 ist nicht unüblich. Die Gründe: Der Niederschlag ist von der Windrichtung abhängig (Pripyat war in der Hauptwindrichtung, Tschernobyl-Stadt nicht), aber besonders schlimm wirkt ein Regen, wäscht die Atmosphäre richtig aus.
Zum Sarkophag: Die Experten sind sich einig, dass das weitaus grösste Risiko nicht in der direkten externen Strahlung des Materials im Reaktor, bzw. im Sarkophag besteht, sondern in der Einnahme radioaktiver Substanzen über Atemluft oder Nahrung. Die diesbezügliche Giftigkeit von abgebranntem Kernbrennstoff ist durch viele unabhängige Untersuchungen gut bekannt. Wenn 100 % des Brennstoffes (190 t) noch im Sarkophag wären, würde dies etwa 6 Milliarden tödlichen Dosen bestehen (bei Einnahme). Praktisch alle leicht flüchtigen Substanzen sind während der Explosion (3000°C) und während des 10-tägigen Brandes an die Umwelt abgegeben worden. Die Hauptgefahr stellt heute das Plutonium dar (da als Oxyd extrem hochschmelzend, ist fast alles noch im Reaktor). Allerdings in einer wasserunlöslich Form, kann kaum in die Umwelt gelangen. Doch auch sechs Milliarden tödliche Dosen sind zu relativieren. Ein grosses Kohlekraftwerk mit tausend Megawatt Leistung verbraucht pro Jahr mehrere Millionen Tonnen Kohle und produziert in wenigen Jahren mindestens die gleiche Giftmenge. Das liegt daran, dass bei der Verbrennung von Kohle tonnenweise toxische Schwermetalle freigesetzt und gewaltige Mengen an giftigen Verbindungen erzeugt werden. Der grösste Teil davon sammelt sich in der Schlacke und in den Filterrückständen. Ein Teil dieser Giftstoffe gelangt in die Atmosphäre. Und ist mitverantwortlich für einige 10’000 Todesfälle (Luftverschmutzung) in Europa.
Meine bescheidene Meinung zur neuen Schutzhülle: Der Bevölkerung der Ukraine wäre mehr geholfen, wenn die Milliarden, die dafür investiert wurden, in die Bildung, das Gesundheitswesen oder die Infrastruktur flössen.
Walter Rüegg
PS: Die Schutzhüllen um die Fukushima-Reaktoren haben nur einen kleinen Bruchteil gekostet, Taifun- und Tsunamisicher.

Rene sagt:

Sehr geehrter Herr Rüeeg,

mit Begeisterung habe ich ihren Bericht gelesen.
Wie ist ihre Meinung zu dem noch im Reaktor befindlichen Restmaterial?
Auf offizieller Seite heisst es, dass mit dem Unglück nur 4% des radioaktiven Materials entweichen konnten und sich noch heute 96% im inneren befinden.

Der russische Wissenschaftler Tschetscheterow, der immer wieder im inneren des Reaktors war – widerspricht dem. Auch der deutsche Physiker Pflugbeil widerspricht dem.

Nach dem ich viele Berichte gelesen / gesehen habe, klingen die Aussagen der beiden Wissenschaftler sehr plausibel. Ferner dürfte es Herrn Tschetscheterow heute gar nicht mehr geben, nachdem er mehrfach im inneren des verunglückten Reaktors war.

Viele Grüße
René

Walter Rüegg sagt:

Eigentlich ist es nicht so wichtig, wieviel noch im Reaktor ist. Die gesamte Brennstoffmenge (190 t) hätte heute (nach 30 Jahren) bei Einnahme eine Dosis von ca. 190 x 300’000’000 Sv/tHM, also 60 Milliarden Sv zur Folge. Damit könnte man etwa 6 Milliarden Menschen umbringen (je 5 Sv für 50% Letalität). Doch die sechs Milliarden tödliche Dosen sind zu relativieren. Ein grosses Kohlekraftwerk mit tausend Megawatt Leistung verbraucht pro Jahr mehrere Millionen Tonnen Kohle und produziert in wenigen Jahren mindestens die gleiche Giftmenge. Das liegt daran, dass bei der Verbrennung von Kohle tonnenweise toxische Schwermetalle (z.B. Arsen, pro t etwa 5 Millionen tödliche Dosen) freigesetzt und gewaltige Mengen an giftigen Verbindungen erzeugt werden. Der grösste Teil davon sammelt sich in der Schlacke und in den Filterrückständen. Ein Teil dieser Giftstoffe gelangt in die Atmosphäre. Und ist mitverantwortlich für einige 10’000 Todesfälle (Luftverschmutzung) in Europa.
Die Strahlung in der Umgebung ist so gross (oder so klein) wie sie ist, egal was für einen Anteil an abgegebener Radioaktivität man annimmt.
Da der ganze untere Reaktorteil abgesprengt wurde (wir konnten in ca. 500 m Entfernung einen Splitter ausgraben) und da der Brennstoff bei der Leistungsexkursion auf etwa 3000°C aufgeheizt wurde, habe ich Mühe zu verstehen, dass mehr als 70-80% der Aktivität noch im Reaktor liegt. Aber ob 4 oder 6 Milliarden tödliche Dosen im Reaktor (in praktisch wasserunlöslicher Form): In jeden grösseren Tailing-Becken (Bergwerkabfälle) lagern mehr tödliche Dosen. Ich habe die Rechnung mit Cu-Tailing gemacht, alleine mit As schlägt man den Tschernobyl-Reaktor problemlos. Ist aber in den Anden oder auf Papua-Neuguinea und wird verdrängt! Und die Radioaktivität kommt direkt vom Teufel und ist in der Vorstellung der Leute unendlich viel gefährlicher.
Walter Rüegg

Andreas Bartholomäus sagt:

Sehr geehrter Herr Dr. Walter Rüegg,

also Ich bin von der “Offiziellen Darstellung” des Unfallhergang bis heute nicht wirklich überzeugt. Folgendes habe bzgl. des RMBK Reaktortyp u.a. bei Nucleopedia recherchiert:

„Beim RBMK-1000 Reaktortyp handelt es sich ja um einen “graphitmoderierten” Siedewasser-Druckröhrenreaktor. Anstelle eines Druckbehälters besitzt er eine große Anzahl von Druckröhren, in denen sich der Kernbrennstoff befindet. Die durch die Kernspaltung entstehende Wärme wird durch Wasser und dessen Verdampfung aufgenommen. Der so entstandene Sattdampf wird durch Dampfabscheider geleitet, um flüssiges Wasser zur verdampfung in den Reaktor zurückzuführen und dann in Dampfturbinen genutzt, um die Generatoren anzutreiben und so elektrischen Strom bereitstellen. Nachdem der Wasserdampf in den Kondensatoren kondensiert wurde, wird es wieder dem Kreislauf über den Dampfabscheider zugeführt. RMBK Reaktoren der ersten Generation besitzen keine Kondensationskammern. Dort wird möglicher Dampf direkt in die Athmosphäre abgeblasen und eine ausreichende Wassereinspeisung nur aus Kondensattanks gewährleistet. Ebenso bestand kein Kreislauf im Kernnotkühlsystem, wie bei RMBK Reaktoren der zweiten und Dritten Generation.

Die Kettenreaktion im RMBK Reaktor wird durch Steuerstäbe kontrolliert, bei RMBK-1000 Gen.I (Sicherheitsstandard 1972/OBP-72; KKW Leningrad Block 1-2, KKW Tschernobyl Block 1-2) Reaktoren wurde die Leistungsenergie mit 179 Steuerstäben aus Borcarbid geregelt, RMBK-1000 Gen.II (Sicherheitsstandard ab 1982/OBP-82; u.a. KKW Tschernobyl Block 3-4) und RMBK-1500 Gen.III (Sicherheitsstandard ab 1988/OBP-88; KKW Ignalina Block 1-4, KKW Kostroma Block 1-2) Reaktoren wurden mit 211 Steuerstäben aus Borcarbid ausgestattet. Ein bekanntes Problem im niedrigen Leistungsbereichen von unter 20% ist der positive Voidkoeffizient der dazu führen kann, dass beim Einfahren der Steuerelemente die Leistung sprunghaft ansteigen kann. Im normalen Volllastbetrieb dominiert allerdings der negative Brennstoffkoeffizient, der sich auf die hohe Temperatur durch die hohe Spaltungsaktivität bezieht, sowie der daraus resultierende negative Leistungskoeffizient. Dadurch hat der positive Voidkoeffizient während des vollem Betriebs keinen Einfluss auf die Leistung des Reaktors. Anfangs war der Effekt des positiven Voidkoeffizient nicht bekannt, dieser hatte sich erst durch die Betriebserfahrungen mit den RMBK-1000 Gen.I Reaktorblöcken in Leningrad und Tschernobyl offenbart und wurde unter den Operatoren als „Stabendeeffekt“ bezeichnet.

Diesbezüglich wurden die RMBK-1000 Reaktoren ab der zweiten Generation mit fünf Steuerstabgruppen ausgestattet, die sich in 4 automatische und 1 manuelle Steuerstabregelungen aufteilten, wobei jeder Steuerstab einzeln beeinflussbar ist. Von insgesamt 211 Steuerstäben konnten 163 Steuerstäbe manuell gesteuert werden, wobei sich diese in die zwei Gruppen “RR” (139 Steuerstäbe zur radialen Leistungsverteilung) und “AZ” (24 Steuerstäbe zur manuellen Notabschaltung) aufteilen. 48 Steuerstäbe entfallen auf automatisch gesteuerte Steuerstabgruppen, wobei sich 12 Steuerstäbe der “AR” genannten Gruppe zur automatischen Leistungssteuerung, in noch einmal drei internen Gruppen (AR-1, AR-2 und AR-3 bestehend aus jeweils vier Steuerstäben) und weitere 12 Steuerstäbe der “LAR” genannten Gruppe, zur automatischen Leistungsregelung aufteilen. Weitere 24 Steuerstäbe entfallen auf eine automatisch gesteuerte Steuerstabgruppe zur “globalen Leistungsregelung”, wobei diese Steuerstäbe gekürzt sind und der “axialen Leistungsverteilung” dienen. Vor den eigentlichen Steuerstäben befinden sich Graphitverdränger, die dazu gedacht sind das Wasser im separaten Kühlsystem des graphitmoderierten Reaktorkern beim Einfahren zu verdrängen, um so die Absorbation der Neutronen zu verringern, die bei Graphit geringer ist als beim Kühlmittel Wasser. Zeitgleich wird eine weitere Bildung von neutronenabsorbierenden Stoffen (Xenonvergiftung) im Reaktorkern verhindert.

Einige Betriebsschritte erfordern den Eingriff des Operators, unter anderem vom unterkritischen Zustand an bis zu einer Leistung von 0,5%. Die weitere Leistungssteigerung auf 10% wird ebenso manuell vorgenommen, allerdings unterstützt von einer (meistens mit AR-3) der vier “automatischen Steuerstabgruppen”. Anschließend wird mithilfe der automatischen Steuerstabgruppen AR-1 und AR-2 geregelt, durch das Entfernen der manuellen Steuerstabgruppen “RR” der Reaktor auf volle Leistung gebracht. Im Volllastbetrieb wird die Reaktorleistung normalerweise mit der globalen Leistungsregelung, hauptsächlich aber über die automatischen Steuerstabgruppen “LAR” stabil gehalten. Bei Volllastbetrieb muss der Operator lediglich den Fluss des Speisewassers zu den Kanälen kontrollieren und die axiale Leistungsinstabilität mit zwei “RR” Steuerstabgruppen “feinsteuern”, sowie mit Trimmstäben für eine gleichmäßige Leistungsabgabe im Reaktorkerns sorgen. Dabei muss der Operator besonders beachten, dass die Reaktivitätsmarke keine “operativen Limits” verletzt, um eine automatische Not- bzw. Schnellabschaltung des Reaktors zu vermeiden. Diese erfolgt nur bei wenigen Störungen, genauer bei Unterbrechung der externen oder internen Stromversorgung, bei Abschaltung beider Turbinen, bei Ausfall von drei (der insgesamt Acht) Hauptumwälzpumpen, bei Verlust von 50% Speisewassers oder zu niedrigen Wasserstand in den Dampfabscheidern, bei zu hohen Neutronenfluss und bei einem Auslegungsunfall. Bei allen anderen Zwischenfällen wird die Reaktorleistung automatisch zurück geregelt, beispielsweise beim “Ausfall einer Speisewasserpumpe” auf 80% oder dem “Ausfall einer Turbinen” auf 50% der Nennleistung. Da der Reaktor bei anderen Störungen keine eigenen Notprogramme initiiert, muss im Normalbetrieb letztlich der Operator auf Basis der erkannten Situation entscheiden, welches Notprogramm er starten soll und ob der Reaktor weiter in Betrieb bleiben muss. Bei einer automatischen Not- bzw. Schnellabschaltung ist es dem Operator allerdings möglich und erlaubt, nach schneller Behebung der Störurngsursache bzw. -fehlern das automatische Einfahren der Steuerstäbe zu stoppen und den Reaktor wieder in den normalen Volllastbetrieb hoch zu fahren. Der Grund dafür ist, dass nach Not- bzw. Schnellabschaltungen aus dem Volllastbetrieb der Stillstand mindestens 24 Stunden betragen muss, bis ein erneutes Anfahren des Reaktors wieder erlaubt ist.”

Die “Offizielle Darstellung” des “manuell gesteuerten” Unfallhergang, welcher die als “Super-GAU” bezeichnete “Reaktorexplosion” des RMBK-1000 Gen.II Reaktortyp (mit OBP-82 Sicherheitsstandards zur Vermeidung von Auslegungsunfällen) zur Folge hatte, ergibt in der Sache rational vernünftig Betrachtet einfach keinen wirklichen Sinn. Alleine schon deswegen nicht, weil die bis Dato größten Eingetretenen “Reaktorkernunfälle aufgrund des “Stabendeneffekt” beim RMBK-1000 Gen.I Reaktortyp, trotz Kernschmelzen (1982 wurde im Tschernobyl Block1 ein zentrales Brennelement durch Überhitzung infolge eines Bedienungsfehlers zerstört) oder erheblichen Beschädigungen am Reaktorgehäuse, jeweils keine “Schweren bzw. Katastrophalen Reaktorunfälle” zur Folge hatte. Selbst als beim Reaktorkernunfall des ebenfalls “graphitmoderierten Druckröhrenreaktor” ABM Reaktortyp (Vorgänger des RMBK Reaktor), im KKW Belojarsk 1977 (Block2) die Hälfte aller aktiven Brennelemente des Reaktorkerns zerstört wurden, kam es zu keinem “Schweren Reaktorunfall”.

Eigentlich beschränkt sich die Bezeichnung “GAU” auf den vollständigen Abrisses einer Hauptkühlmittel-Leitung während die Notkühlung teilweise funktionsfähig bleibt, also etwa den Verlust des negativen Kühlmittelkoeffizientwert worauf hin eine Kernschmelze des Reaktorkern möglich wird, wie z.b. die Restwärmeschmelze in Fukushima. Das grundsätzliche Defizit des “gaphitmoderierten” RMBK-Reaktordesigns, wobei Nukleargraphit aufgrund der guten Moderationseigenschaften und hohen Temperaturstabilität ebenfalls als Hauptmittel zur Reaktorkühlung genutzt wird, ist der grundsätzlich positive Kühlmittelverlustkoeffizientwert, weshalb eine Störung im Graphitkreislaufsystem unabhängig vom aktuellen Leistungszustand des Reaktors, immer zu einer “unkontrollierten Anstieg der Wärmeleistung” des Reaktorkerns führt. Nach meiner Auffassung besteht darin die Sicherste und einzigste Möglichkeit, einen RMBK-Reaktortyp Gen.I-III wirklich zur “Explosion” zu bringen.

Eine diesbezügliche “Schuldfrage” anzustellen ist ohnehin absurd, weil die schuldige Gesamtverantwortung dafür selbstverständlich die Regierungspolitik trägt und nicht beim eingesetzten Betriebspersonal liegt, welchem seitens der Politik mittels klassischer Schuldumkehrmethode einer “Schuldfragenstellung” überhaupt erst eine Schuldhabe an der “Nuklearkatastrophe von Tschernobyl” angelastet wurde, nachdem der Westen davon Wind bekommen hatte. Bezüglich des Einsatzzwecks der Tschernobyl Anlage, sollte man sich vielleicht mal darüber Gedanken machen, warum sich in Tschernobyl noch heute “2 von somit insgesamt 5 aufgebauten “Duga OTH-B Empfangsantennenarrays” stehen, obwohl sich in unmittelbarer Nähe zum KKW Tschernobyl “offiziell” nur eine Duga-3 Anlage befindet. Die ersten Anlagen Duga-1 und Duga-2 befanden sich in der südlichen Ukraine nahe Mykolajiw und sind heute teilweise demontiert. Die Anlage Duga-2 wurde bei Komsomolsk am Amur in der Nähe des Pazifik errichtet und ebenfalls 1989 teilweise demontiert. An sich war das bis zu 15.000km weitreichende (10MW Sendeleistung) aber äußerst schwer steurerbare OTH-Backscatter Radar (für Betrieb und Auswertung der Daten waren hunderte Fachleute erforderlich) höchst unzuverlässig, bereits mit “unklaren Wetterverhältnissen” war eine klare Zielortung kaum mehr möglich und das aufkommen von “Nordpolarlichtern” führte zur regelmäßigen Systemblindheit. Die Duga-3 Anlage in Tschernobyl mit “vergrößerten Empfangsarray” hatte angeblich aufgrund von schwerwiegenden Interferenzen, noch nicht einmal richtig Funktioniert.

Diesbezüglich empfehle ich die Doku “Der Russische Specht” des Ukrainers Fjodor Alexandrowitsch, der selber ein Opfer (radioaktive Strontiumablagerung in den Knochen) des Super-GAUs von Tschernobyl ist.
https://youtu.be/HUXXH84JUjg

mfg

Walter Rüegg sagt:

Sehr interessante und lehrreiche Details!

Sören Hader sagt:

Ein bemerkenswerter Augenzeugenberichts des heutigen Zustandes. An der Stelle möchte ich als Leser die Wahrhaftigkeit des Berichtes samt Zahlenwerte gar nicht anzweifeln. Ich möchte aber davor warnen, Schlussfolgerungen ala ‘war doch gar nicht schlimm, was dort 1986 geschehen ist’ zu ziehen. Das kann man aus dem jetzigen Berichten der betroffenen Gegenden nicht herleiten. Denn eines darf man nicht übersehen, der Autor fand vorwiegend entvölkerte urbane Strukturen vor, die so nicht mehr benutzbar sind.

Auch wenn die physikalische Belastung heute wieder gering ist, war sie es zur Unfallzeit nicht. In einem Staat wie der Sowjetunion war es natürlich für die Menschen nicht möglich, frei zu entscheiden, ob sie dort bleiben dürfen oder nicht, aber die großräumige Evakuierung war wohl zwangsläufig selbst in einem westlichen Staat (siehe Japan). Selbst wenn man mal die Todeszahlen außen vorlässt, ist das mit einer ökonomischen Katastrophe verbunden. Eine komplette Infrastruktur in der Region war nicht mehr benutzbar. Und selbst wenn man es den Menschen freigestellt hätte, zu bleiben oder zu gehen, wäre es zu einem massiven Bevölkerungsrückgang gekommen. Die tatsächlichen Kosten sind eher grob abschätzbar, aber man geht von einem zweistelligen Milliardenbetrag (in US-Dollar) aus und nahm später einen festen Anteil im Staatshaushalt der Ukraine ein. Gerade wenn man den Kostenaspekt bei der Kernenergie nach außen hin lobend erwähnen will, kann man das hier nicht ignorieren.

Michael sagt:

Hier in der Ukraine sind fast täglich irgendwo kleiner oder größere Stromausfälle. Ein paar funktionierende KKW-Blöcke mehr würden da nicht nur Einnahmen durch die Stromgewinnung sichern, sondern auch das Vertrauen in die hiesige Infrastruktur stärken und die Standortqualität für Investitionen erhöhen.

Ernst-W. Möbius sagt:

Sehr friedlich das Ganze, sogar der Unfall fast eine ruhige Kugel mit weniger Toten als bei einem durchschnittlichen Flugzeugabsturz. Das widerspricht aber diametral den Schilderungen der Augenzeugen. Demnach ging es dort und in den umliegenden Krankenhäusern zu wie nach einer Großschlacht des Weltkrieges unter dem Zusammenwirken von Sprengkörpern, Feuer und Giftgas. Der Kreis der beanspruchten Krankenhäuser musste ständig weiter gezogen werden, weil nicht nur Betten sondern auch Gänge und Böden überfüllt waren.

Karl Reichart sagt:

Dr. Rüegg war immerhin persönlich vor Ort. Wer sind Ihre Augenzeugen? Namen? Es gibt auch einen UNO-Bericht, der nach Ihrer Lesart wohl auch verharmlosend klingt. Den konnte ich bis jetzt in Deutsch noch nirgendwo lesen. Sollten wieder einmal die Alarmisten als einzige Recht haben? Und dann der Vergleich mit der Großschlacht des Weltkriegs. Ich kenne Wissenschaftler, die schon vor vielen Jahren in Tschernobyl waren. Auch ihre Berichte, persönlich im Gespräch, klingen nach Dr. Rüegg. Also Roß und Reiter nennen und nicht palavern!

Walter Rüegg sagt:

Das einzige Spital weit und breit war in Pripyat. Nicht eingerichtet für die vielen schwer strahlenkranken Einsatzkräfte (150-200?), die vielen mit Rauchgasvergiftungen (10 Tage lang ein Grossbrand), viele Verbrennungen und mechanische Verletzungen, Erschöpfungszustände usw. Es war unzweifelhaft eine Grosskatastrophe. Aber der Vergleich mit einer Grossschlacht des Weltkrieges mit einigen 100’000 Soldaten und einige 10’000 Opfern ist lächerlich. Ich empfehle mit Zeitzeugen zu reden.

Karl Reichart sagt:

Noch am 1.5.2018 um 23:41 Uhr leitete ich den Link auf die Seite an den Chefredakteur des Hohenloher Tagblatts und die Südwestpresse mit diesem Text weiter: .”man könnte sich seriös über viele Themen informieren, oder man kann die “Horrormeldungen” nachplappern und Atomangst, Strahlenangst, Klimaangst und andere wohlfeilen Ängste verbreiten. ”
Die Südwestpresse/Hohenloher Tagblatt fallen mir seit Jahren durch Weglassen und Zensieren auf. Dieser nächtliche Hinweis hat also eine lange Vorgeschichte mit viel Schriftwechsel mit den Redaktionen.