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Grafenrheinfeld: Wiedersehen mit dem KKG

Die Historikerin Dr. Anna Veronika Wendland arbeitet im Rahmen eines Forschungsprojekts in verschiedenen Kernkraftwerken, zuletzt im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld. Dr. Wendland berichtet darüber auf ihrer Facebook-Seite. Wir veröffentlichen hier einen Auszug.

Von Dr. Anna Veronika Wendland

Nachdem ich in den Atomstädten Osteuropas auf großem Fuß gelebt habe – 20.000 bis 40.000 Einwohner, Wohnungen im 5. und 9. Stockwerk, von der Größe der KKW ganz zu schweigen – muss ich jetzt etwas tiefer stapeln. Hier gibt es, wie Gogol sagen würde, Häuser »mit einer, mit zwei, und sogar mit anderthalb Etagen.« Die Atomstadt Grafenrheinfeld ist ein Atomstädtchen, genaugenommen ein Atomdorf. So eine Art Anhängsel des Schweinfurter ZF-Industrieviertels. Es hat 4000 Einwohner, eine sehr schöne Brücke über den Main (auf der man tanzen kann, aber nicht muss), eine doppeltürmige Barockkirche und einen barocken Ortskern, eine Schule, eine Bibliothek, einen Supermarkt und eben ein Kernkraftwerk, das KKG. Rechnet man Megawatt pro Einwohner, hätte Grafenrheinfeld eh die Nase vorn vor den Ossis – wäre das KKG nicht im Mai der Energiewende, möge sie in der Hölle schmoren, zum Opfer gefallen. Aber für mein Projekt ist es auch im Nachbetrieb eine vollgültige Anlaufstelle und daher bin ich jetzt hier in Unterfranken. Schön, mal zu Hause zu forschen! Das, meine Lieben, ist Grafenrheinfeld-City.

Nachdem mein mir schon ans Herz gewachsene Atom-Mini-Städtchen um acht Uhr morgens die Bürgersteige wieder runtergeklappt hat, kann ich mich zu meinem heutigen Arbeitseinsatz aufmachen. Zu Fuß. Ein Anmarsch zu Fuß scheint hier im Konzept nicht vorgesehen zu sein – auch so ein Unterschied zur osteuropäischen Szene, wo neben der Kraftwerksstraße Fuß- und Fahrradweg dazu einladen, vor Schicht mal was für seine Gesundheit zu tun. Dafür gibt es im KKG Rauchabzugsautomaten für Zigarettenraucher. Dieses famose Aggregat, das nach wie vor im Vollastbetrieb auf einem Flur des Werkstattgebäudes arbeitet, fasst einen bis zwei Raucher, die dann bequem ihre Kippe genießen und trotzdem nicht auf NR-Gesellschaft verzichten müssen, die dank dem Abzug vorm Passivrauchen bewahrt wird.

Da komme ich her: Im KKW Rivne in der Westukraine sind vier Druckwasserreaktoren sowjetischer VVER-Bauart in Betrieb. Auf dem Foto ist nur ein kleiner Teil des Betriebsgeländes zu sehen. Das KKW gehört zum Staatskonzern NAEK Energoatom und hat, Revisionspersonal und Anbetriebe eingerechnet, rund 8000 Mitarbeiter, die nahebei in der Werksstadt Kuznecovsk wohnen. Im Block drei (Erstkritikalität 1986), der Anlage hinter mir, habe ich von Mai bis Juli 2015 als »Teilnehmende Beobachterin« gearbeitet und die Revision von A-Z mitgemacht. Außerdem war ich zwischen 2012 und 2014 jeweils mehrere Wochen in Block 1 und 2. Hier sieht man, wie der KB-Chic in Osteuropa aussieht. Immer mit dabei: das Laborbuch, denn fremde elektronische Geräte sind nicht erlaubt. Und sonst? Sonst ist ziemlich viel genau so wie im KKG, nur alles ein paar Nummern größer.

An der Einfahrt zum KKG gibt es ein Schild, das einen auffordert, sich zu entscheiden, ob man Personal, Fremdpersonal oder Besucher sei. Das ist in meinem Falle gar nicht so einfach zu entscheiden. Ich mache zwar nichts im KKG, was ein Fremdpersonaler so macht, aber ich tue auch nicht nichts. Im Gegenteil, ich binde mehr Arbeitszeit der Kraftwerksleitung als 50 Fremdpersonaler, die allein wissen, was sie tun müssen. Für meine Erhebung über Arbeitsroutinen, Arbeitsorganisation, Betriebshandbücher, Wissenstransfer in historischer Perspektive stehen sie mir den ganzen Tag lang Rede und Antwort. Vorher habe ich ein schönes repräsentatives Foto vom KKG im Herbstkleid gemacht. Siehe unten. Melancholie nucléaire in ihrer reinsten Form.

Neben der Arbeit finde ich genug Zeit, um herauszufinden, wie es denn dem KKG so geht im Moment. In den Unterströmungen und Abzweigungen unserer Gespräche erfahre ich – oder errate ich – sogar sehr viel. Prinzipiell geht es gar nicht so melancholisch zu, wie ich das erwartet hätte: Hier wird nicht wie bei Schlecker der Schlüssel rumgedreht und das Haus besenrein hinterlassen. Auch der Nachbetrieb und der Rückbau sind langwierige, auf Jahre hinaus durchzuplanende Arbeit, für die man hochqualifiziertes Personal braucht, und beide Phasen gehören zum natürlichen Lebenszyklus eines Kernkraftwerks. Nur dass diese Phase wegen des Atomausstiegs viel früher als erwartet eingetreten ist.

Inzwischen ist viel erledigt worden, ein neues Logo für die Auslaufzeit geschaffen, Organisationsstrukturen sind umgestellt worden. Viele müssen sich nun an neue Aufgaben in anderen Bereichen gewöhnen, die Schichten sind dünner besetzt, und »das haben wir immer so gemacht« gibt’s nicht mehr. Der Kraftwerksleiter deutet mir an, dass Kommunikation und Ermutigung nie zuvor so wichtig waren. »Vorher war die Aufgabe, zügig durch die Revision zu kommen, die Anlage ohne Abweichungen und Zwischenfälle zu fahren«, sagt Reinhold Scheuring, »Das waren technische Herausforderungen.« Jetzt habe er es viel mehr mit menschlichen und kommunikativen Herausforderungen zu tun, er müsse die Leute mitnehmen und jedem klarmachen, dass er für die neue Aufgabe wichtig ist.

Zeitlos schön. Mein Arbeitsplatz KKG am 28. Oktober 2015.

Und noch was hat sich geändert: »Nachdem hier früher der Zähler sozusagen rückwärts lief, müssen wir heute für unseren Eigenbedarf zahlen.« Das sind zirka drei Megawatt. Momentan laufen etliche Umrüstungen, um die Energiekosten zu senken. Die Trafos brauchen keine Wasserkühlung mehr und sind auf Luftkühlung umgestellt, und nach und nach werden alle Systeme außer Betrieb genommen, die man für die verbliebenen Aufgaben nicht mehr benötigt. Nicht alle MitarbeiterInnen gingen diesen Weg mit oder konnten ihn gehen: etliche Arbeitsplätze sind bereits unwiderruflich verloren gegangen, einige haben sich woanders eine neue Arbeit gesucht, und wieder andere sind über Sozialpläne und Vorruhestandsregeulungen verabschiedet worden. Aber diese Fluktuation war viel geringer als erwartet – alles in allem sind die Mitarbeiter standorttreu geblieben.

Selbst Azubis sind in diesem Jahr noch einmal aufgenommen worden – der letzte Jahrgang. Vieles ist »das letzte Mal«. Es gibt auch einen Fotoband des Designstudenten Johannes Kiefer, »Die letzte Revision«, mit meditativen, stillen Fotos einer abtretenden Generation von Industriearchitektur. Mich fasziniert an diesen Fotos – aber auch an ihren Motiven, als ich heute auf genau denselben Wegen laufe wie der Fotograf – die Solidität, Reinlichkeit und irgendwie zeitlose Aufgeräumtheit dieser Anlage, als ob es keine drei Jahrzehnte harten Leistungsbetrieb gegeben hätte. Vielleicht sagen daher die Spezialisten, diese deutschen Vorkonvois und Konvois seien mit das Beste, was die Kerntechnik international zu bieten habe.

Aber es sind keine Menschen auf Kiefers Fotos zu sehen. Jeder, der mal eine Revision mitgemacht hat, weiß, dass das, im Gegenteil, jene Wochen im Leben eines Kernkraftwerks sind, wo es eigentlich überall zu viele Menschen gibt, und wo sich in den visuellen Ordnungen im Inneren der Gebäude jeden Tag etwas ändert, weil die Komponenten auseinandergenommen werden, Einzel- und Ersatzteile abgelegt werden müssen, die sonst unsichtbar im Inneren irgendeines Systems ihren Dienst verrichten, und der Rundlaufkran im Apparatesaal im Dauereinsatz ist. Für bis zu 1600 Leute, die dann zusätzlich in die Anlage kommen, werden extra Container und Zelte aufgestellt, um sie alle verpflegen zu können, sogar nachts kann man dann in der Kantine ein Essen kriegen, die Slots für das Fremdpersonal sind bis auf die Minute durchgetaktet, es geht zu wie in einem Taubenschlag. Das wird nie mehr so sein. Vielleicht wollte Kiefer diese Stille schon vorwegnehmen.

Sie hätten also schon Grund zur Frustration gehabt. Im Mai/Juni, als der Abschalttermin kurzfristige Aufmerksamkeit brachte, da fühlten sich viele verraten und verkauft. Und verspottet. Das geschmacklose Festival der Schadenfreude unter dem Motto »Abschaltfest« ist allen in mieser Erinnerung. »Was soll ich sagen, wenn wir hier die letzten Schritte gehen und draußen stehen die da und brennen Feuerwerk ab und zählen uns runter, als ob gleich Neujahr wär.« Das war bitter, ist vielen als Spießrutenlauf in Erinnerung.

Kaltfahren. Dieses Foto hat mir Rainer Reelfs geschickt und dazu geschrieben: »Das waren die letzten Schwaden am Tag der Abschaltung. 6 Uhr morgens auf dem Weg nach Hause von der letzten Abfahrnachtschicht.«

Aber das KKG hat einen symbolischen Sieg davongetragen und dem Abschaltfest eine lange Nase gedreht – weil es an dem Wochenende, als das Fest stieg, noch gar nicht abgeschaltet wurde. Der letzte Reaktorkern im KKG wurde in einer Mini-Revision einige Monate vorher nochmal so geschickt umgebaut, dass man mit einem schönen flachen Gradienten abfahren konnte, der sogar noch Luft gelassen hätte für eine längere Betriebszeit – aber Ende Juni war endgültig Schluss, das Datum lange im Voraus berechnet und festgelegt worden. Damals gab es eine Beamer-Aktion: »Danke für 300 Mrd. kWh CO2-armen Strom!« stand eines schönen Abends auf einem der Kühltürme. Wer war das? Und wer hat oben davon gewusst? Man zwinkert mir zu und wir halten schweigendes Einverständnis darüber, dass es Dinge geben muss, die man nicht so genau wissen wollen muss. »Wir haben das Bild überall rundgeschickt, aber nur wenige haben das gedruckt. Die drucken lieber die gefakedten Greenpeace-Bilder von solchen Aktionen. Es passt nicht in den Mainstream. Aber für unsere Leute war das wichtig.«

Was den Leuten auch wichtig war: Keine journalistische Leichenfledderei am letzten Tag. »Worauf wir echt keine Lust hatten, das wäre gewesen, wenn wir für die Kamera noch mehrmals auf den RESA-Knopf hätten drücken müssen, weil’s doch so schön war, und wenn diese Leute uns auf die Pelle rücken in einem Moment, in dem wir lieber diesen Abschied mit uns alleine ausmachen wollten.« Deswegen sind sie am letzten Tag unter sich geblieben. »Da hat schon jeder für sich ein Erinnerungsfoto gemacht von der einen oder anderen Anzeige.« Die einen haben dabei die Faust in der Tasche geballt, die anderen sich still in sich zurückgezogen. Aber sie haben sich den Gesetzen des Abschalt-Medienrummels verweigert, und sind stolz erhobenen Hauptes gegangen – wenn man von »gehen« sprechen kann, wenn noch so viel Arbeit bevorsteht.


7 Antworten

  1. Dr. Anna Veronika Wendland hat hier ein Nachruf geschrieben, der in Wahrheit keinen Nachruf sondern einen Erlebnis- Beschreibung ist. Sie hat damit einen goldenen Mittelweg gefunden, angenehm zu Lesen und ohne Rancunes. Bravo.
    Davon können KKW Gegner sich gleich mehrere Schreiben abschneiden.

  2. Danke für Ihren interessanten Artikel. Traurig, wieviel an Volksvermögen kaputtgemacht wird. Und nicht nur durch unseriöse Energiepolitik. Siehe auch Griechenland, Zinspolitik, Flüchtlingspolitik, Industriepolitik (AG-s, die Geld verdienen wollen, sind hier verhasst), Vernichtung des Industrie-standortes, Enteignung (wer entschägigt hier eigentlich die Besitzer der KKW-s? ), Förderung der Forschung (Gentechnik). Merkt die Regierung nicht, dass über KE jeder Dipl.Ing. und jeder Dipl.Volksschüler reden darf, nur nicht Fachleute (sind in Instituten angestellt und brauchen erst Erlaubnis von oben). Keine Angst, In 10 Jahren gibt es wieder Reaktoren in Grafenrheinfeld (dann allerdings erbaut v. CH, Rußld, Südkorea, J. etc)

    1. Ich hoffe ich erlebe es noch, daß aus Atom-Müll (97 % Wertstoff höchster Güte) Energie wird. In Australien, Rußland China, irgenwo. Ich wünsche mir nur einfach den Sieg der Vernunft über Ideologie. Daß wir Deutschen (dumen Deutschen) daran wertschöpfenden Anteil haben werden, daran zweifle nach jeder Heute-Sendung mehr.

  3. Eine bewegende Geschichte und die grünen, roten Schlümpfe feiern, während um uns herum neue Kraftwerke entstehen. Es ist ein Witz, wenn es nicht so traurig wäre.

  4. Ein sehr nett und einfühlsam geschriebener Kommentar zu einem traurigen Vorgang. Hier wurden gigantische Energiemengen zuverlässig und sicher für den Industriestandort Deutschland erzeugt. Den haben nicht böse Atome geschaffen sondern viele Menschen mit ihrem Arbeitseinsatz, meist im Schichtdienst.
    Nur die ganz Dummen feiern die Vernichtung der Quelle ihres eigenen Wohlstandes. Denn Energie ist die Quelle des Wohlstandes. Wenn sie CO2 frei erzeugt ist, ist noch ein medienwirksames Argument gegen Energieerzeugung weg. Beim Bau der großen Dome liefen noch Menschen im Tretrad des Krans. In Afrika laufen Frauen Kilometer für Brenzholz um zu kochen und vernichten die Natur. Wir machen Biogas und vernichten damit die Natur, verglasen die Fluren, roden die Wälder für Solar und Windenergie. Aber immer daran denken nachts wird es dunkel, meist weht kein Wind und Strom läßt sich großtechnisch nicht speichern. Wie dumm sind einige unserer Mitbürger eigentlich?

  5. Ja, Karl R., Du fragst da:

    „Wie dumm sind einige unserer Mitbürger eigentlich?“ — Es wäre schön, dazu von den Leuten etwas zu hören. Auf jeden Fall ist es wichtig zu sagen, daß ca. 5 Millionen Menschen daran Geld verdienen (wobei der Dank dieser Menschen an diejenigen sich in Grenzen hält, die diese Einspeisevergütung verdienen müssen). Diese etwa 5 Millionen Menschen sind den Initiatoren des ganzen Klamauks dankbar und machen ihr Kreuzlein zu betreffender Zeit an der richtigen Stelle: Es gibt dafür ein Sprichwort „Eine Hand wäscht die andere Hand“, bei der FIFA oder in Süditalien würde man das ganze Verfahren Korruption nennen, aber in Deutschland werden deutliche Worte vermieden!?!?

    1. Lieber Lutz N. so kommt das eben mit den Kreuzlein, wenn es genügend Ökoprofiteure gibt. Die „ehrenwerte Gesellschaft“ hat ja auch Profiteure. Es gab auch einmal Profiteure einer Ideologie beim Versteigern von Hausrat, Immobilien und Firmen. Der Name Groß, Süß oder Katz, passte nicht zu der Ideologie des braunen gierigen Hundes.
      Grün ist aber eine „reine“ Grundfarbe und schon deshalb unangreifbar. Nur nach der Farbenlehre sind wir heute weiter.
      Wir sind wenige mutige Frösche, die wissen wie schwimmen geht. Leider müssen wir in der Buttermilch schwimmen, bis wir Butter unter die Füße bekommen. Das Volk der Nichtschwimmer hat aber leider noch nicht verstanden, da sie in einen Pool mit wenig tragfähigem Süßwasser gesetzt wurden. Noch plappern sie munter oberhalb der Wasserlinie, wie die Blinden von der Farbe.

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