Ich möchte euch ein persönliches Erlebnis von mir erzählen, das inzwischen viele Jahre zurückliegt.
Ich war achtzehn Jahre alt und bereitete mich in der gymnasialen Oberstufe auf das Abitur vor. Zu meinen Eltern hatte ich ein gespanntes Verhältnis, nicht weil ich gegen ihren Willen das Bedürfnis gehabt hätte, bis in die frühen Morgenstunden zu feiern oder Schneebälle auf die Familie des Bürgermeisters zu werfen, sondern weil meine Eltern einem zwanghaften Perfektionswahn im Alltag erlegen waren, der Banalitäten in ihren Augen zur Apokalypse aufblähte. Es war – und ist heute immer noch – schwierig für jeden, mit ihnen längere Zeit zu verbringen, da man unter diesen Bedingungen anfängt, sich selbst quasi mikroskopisch zu beobachten: Ist auch ja kein Fleck auf meinem Hemd? Halte ich meine Hände in einem ästhetischen Winkel? Ist meine Mimik von ruhiger Heiterkeit, so wie es erwünscht ist?
Immer wieder überkam mich das brennende Bedürfnis, dem Perfektionswahn zu entkommen, und was wäre besser dazu geeignet gewesen, als ein herrlicher mehrtägiger Ausflug mit dem Fahrrad hinaus in die weite Landschaft?
Es war an einem Freitag – schon wieder braute sich etwas zusammen, die Stimme meines Vaters stieg eine halbe Oktave hinauf in einen gepresst zwitschernden Contralto, weil irgendetwas nicht stimmte. Ich wusste, was zu tun war: Schwupp, war ich in meinem Mantel – denn es sah nach Regenwetter aus – schwupp schwupp! stopfte ich einige Wechselkleidungssachen und meinen Waschbeutel in die Fahrradtasche, und mit einem letzten Schwupp schnappte ich mir wahllos ein Taschenbuch, das im Regal lag, denn ich wollte unterwegs etwas zu lesen haben.
Das Taschenbuch war „Vineland“ von Thomas Pynchon, und war der beste Begleiter, den ich mir für meinen Wochenendausflug rund um den Bodensee, in dessen Nähe wir wohnten, hätte wünschen können.
Im Laufe meines Lebens habe ich manchmal viel, manchmal weniger gelesen. Mal verschlang ich einen Roman nach dem anderen, mal las ich längere Zeit nichts und hing stattdessen, wenn ich sonst nichts zu tun hatte, meinen eigenen Gedanken und Gedankenbildern nach. Jedes Buch aber, das ich mit Gefallen gelesen habe, hat etwas in mir verändert, und ich habe etwas in ihm verändert – Bücher, bei denen dies nicht möglich ist, gefallen mir nicht.
Wie kann es sein, dass ich als Leser in einem Buch etwas verändert habe? Ist der Leser denn etwa mehr als passiver Rezipient?
Es gibt Bücher, die lassen ein Eingreifen des Lesers nicht zu: Sie sind in sich geschlossen, sagen mir was ich denken, was ich fühlen soll, ohne Widerspruch zu dulden. Andere sind geduldiger, unaufdringlicher.
In der Piratenpartei ist interessanterweise die Auffassung nicht selten, dass der rein passive Medienkonsument sich weiterentwickeln solle zum aktiven Konsument-plus-Produzent, in dem Sinne, dass durch Modifikation des Urheberrechts die Freiheit geschaffen werden könnte, digital verfügbare Kunstwerke – Bilder, Texte, Musik, oder, mit der Einführung des 3D-Druckers, auch plastische Objekte – als Grundlage für eigene Kreationen zu nutzen.
Hieran finde ich bemerkenswert, dass dies – die Nutzung fremder Kunstwerke zur Schaffung eigener – ja im Grunde bereits im Rahmen einer „normalen“, vordergründig passiv erscheinenden Rezeption von Kunst geschieht: Ein Bild, ein Musikstück, ein Roman führen zur Schaffung eigenständiger Szenerien, Geschichten, Vorstellungen im Kopf des Rezipienten, die, auch wenn sie nicht zu Papier gebracht werden, eine Art von „Protokunst“ darstellen können!
Mir haben immer die Romane am meisten zugesagt, die Geschichten in meinem Kopf inspirierten. Dazu ist es nötig, dass das Buch einem diese Freiheit auch lässt, und die Gedanken des Lesers nicht festzurrt, sondern sie freisetzt.
Während durchaus nicht wenige Piraten der Nuklearia mit einer gewissen vorsichtigen Aufgeschlossenheit oder zumindest Interesse gegenüberstehen, tauchen natürlich auch immer wieder Personen auf, die auf unsere Konzepte mit fast tollwütiger Ablehnung reagieren, geradewegs so als schlage man amerikanischen Tea-Party-Aktivisten vor, dass Besteuerung und ein staatliches Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem vielleicht keine gar so schlechten Erfindungen seien. Wie kann es sein, mag man sich fragen, dass in einer „Partei der Nerds“ – Menschen, die laut Eigendefinition neophil und technikfreundlich eingestellt sind – ein moderner Technologiezweig, Generation IV „SmartNuclear“ Kernreaktoren, zuweilen auf so angst- und wuterfüllte Ablehnung trifft, dass man glaubt, man sei an einem ÖDP-Stammtisch in der bayerischen Provinz? Haben Nerds denn nicht freischweifende Gedanken statt festgezurrter?
Ich vermute, dass in dieser Hinsicht noch einige mentale Mauern durchbrochen werden müssen: selbst identifiziere ich mich nicht mehr als Nerd, seit ich mit dem teilweise ausgeprägten Konservativismus dieser Subkultur konfrontiert war. Was ist das für ein Konservativismus, und wo rührt er her?
Ein Symptom habe ich schon beschrieben: Einige Technologien, die schrecklich zu finden sich die Grünen und in ihrem Umfeld entstandene Gruppen im Laufe der letzten vier Jahrzehnte geeinigt haben – Kernkraft, Gentechnik – lösen bei vielen Nerds die gleichen eingeschliffenen Wutreflexe aus. Was steckt hinter dieser „Gewohnheits-Angst“?
Die Homecomputer, die zu Beginn der Neunzehnhundertachtziger ihren Siegeszug in Privathaushalten antraten, waren faszinierende, beinahe mystische Spielzeuge. Wenn ich an einem kühlen, wolkigen Herbstmorgen meinen Atari ST einschaltete, hatte ich das Gefühl, ein Paralleluniversum zu betreten: Ein Universum aus schneeflockenzarten, kristallinen Pixeln von freundlichem Monochromschwarzweiß, aus Fließkomma- und Integerwerten, Schleifen, Funktionen und Verzweigungen. William Gibson schrieb zu dieser Zeit seine berühmte Neuromancer-Trilogie, in der er den Begriff „Cyberspace“ prägte, in den Romanen Name einer Technologie zur direkten Computer-Gehirn-Verbindung, in Wirklichkeit jedoch wohl Ausdruck des Gefühls, das Computerfreaks damals beschlich, wenn sie sich geistig in die logischen Strukturen ihrer Maschine vertieften, insbesondere die, die nicht nur reine Gamer waren, sondern sich mit Programmierung beschäftigten, und damit zu „richtigen Nerds“ wurden.
Natürlich hatte die Computerkultur an Universitäten und Forschungszentren schon viel früher begonnen, mit Transistorrechnern wie dem PDP-1, aber als Bestandteil der Alltags-, Kinder- und Jugendkultur, eben in Form von Heimcomputern, die den programmierbaren Digitalrechner jedem Haushalt zugänglich machen, begann das Ganze gegen 1980, gerade als die Grünen anfingen, Strickpullis gegen Anzüge und Krawatte zu tauschen.
Das Klischee des bebrillten, pickeligen, Science-Fiction-Romane goutierenden, schulhofungeküssten, BASIC-Sourcecodes schreibenden Nerds ist freilich ein karikierend überzeichnetes Klischee, jedoch nicht ohne reale Pendants. Es war erstaunlich, wie nahe manche Jugendlichen dem Klischee kamen, darunter, nebenbei bemerkt, auch ich.
Die Nerds waren klug, sie waren kreativ, sie hatten Phantasie. Und sie vefügten über einiges an Widerstandsgeist: Schließlich galt es, ein als exotisches geltendes technologisches Spezialinteressengebiet gegen den massiven Skeptizismus der Umgebung zu verteidigen, den ihrer Altersgenossen, die lieber mit ihren Bonanza- und etwas später BMX-Rädern durch die Stiefmütterchenrabatte im Stadtpark brausten als Sourcecode zu schreiben, und den ausgeprägteren der Eltern und Lehrer, die der Beschäftigung mit Computern verderblichste Eigenschaften zusprachen – sie sollte zu Sozialphobie, Aggressionen, Depressionen, Konzentrationsstörungen, Psychosen und was-weiß-ich-noch-allem führen. Diese Haltung ist auch heute noch zuweilen anzutreffen.
Die Nerds wurden erwachsen, sie wurden Programmierer, Ingenieure, Wissenschaftler oder ergriffen auch völlig andersartige Berufe. Der erste Kuss wurde oft auf dem Uni-Campus nachgeholt. Man sah die digitalen Freiheiten des Internet durch sture politische Strukturen bedroht, und einige beschlossen in der Piratenpartei diesen Strukturen entgegenzuwirken. Aber nicht wenige nahmen eine geistige Fußfessel aus der Jugend mit, an die sich sich dermaßen gewöhnt hatten, dass sie sie nicht bemerkten: nämlich… die Jugend selbst. Das Problem war, dass viele Nerds es nicht schafften, vollständig erwachsen zu werden.
Nils Bohr etablierte zu seiner Zeit in seinem Landhaus bei Kopenhagen einen regen Geistesaustausch zwischen Naturwissenschaftlern, Philosophen, Schriftstellern und Künstlern. Die modernen Nerds dagegen scheinen Mühe zu haben, kulturell über die bunten Science-Fiction- und Fantasy-Paperbacks, die sie mit zwölf Jahren mit der Taschenlampe unter der Bettdecke lasen, hinauszuklettern: So bekam ihre Rebellion gegen die computerskeptische Elterngeneration einen faden Beigeschmack – denn den reaktionären Geist, der bei den Grünen stets mitschwang, sogen die Nerds in Form von Heroic Fantasy konzentriert auf.
Die „Identitären“ – ein mäßig belustigendes Trüppchen von Jugendlichen und Berufsjugendlichen, das den Plan verfolgt, Sarrazin-Inhalte „hip, cool und voll fetzig“ zu präsentieren – haben leider die korrekte Assoziation: „Der Herr der Ringe“ ist ein außerordentlich reaktionäres Buch, das von kleinbürgerlichen Ressentiments nur so strotzt.
Fans dieses Buchs werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass es seiner Natur nach doch demokratisch sei, da sich die freien Völker des Westens doch gegen den bösen Diktator Sauron und seine Ork-Truppen vereinigen – dabei übersehen sie, dass eine schwarz/weiß-Aufteilung der Welt in „absolut gut“ und „absolut böse“ ihrer Natur nach bereits antidemokratisch ist.
Der Herr der Ringe und die unendliche Epigonen-Flut – eben die gesamte High bzw. Heroic Fantasy – wird von einer tiefen Sehnsucht nach einem unaufgeregten, ländlichen Leben getragen, das um jeden Preis gegen die böse, hässliche, von außen eindringende Welt der proletarischen Großstadt verteidigt werden muss. Es wird eine Welt angestrebt, in der jeder seinen Platz kennt und an diesem glücklich ist: Die bäuerlichen Hobbits hier, die aristokratischen Elben dort, usw. Änderungen solcher als naturgegeben angesehener Verhältnisse sind unerwünscht und müssen bekämpft werden. Man wünscht mit der Pfeife im Mundwinkel auf der Bank vor seinem Haus in der Abendsonne zu sitzen, den Bauern beim Heumachen und dem Gärtner beim Unkraut jäten zuzusehen – da haben städtische Arbeiter oder Immigranten sich fernzuhalten, denn sie würden die traditionelle Idylle stören, und technische Einrichtungen und Erfindungen wie Fabriken, Kernkraftwerke oder Gentechnik sind auch nicht besonders erwünscht. In dem Kinderbuch, das den Grundstein zu seinem unseligen Mittelerde-Universum legte, „The Hobbit“, sagt Tolkien sogar explizit, dass Orks schon immer eine Schwäche für Räder und Maschinen gehabt und womöglich „einige der Erfindungen erdacht hätten, die seitdem die Erde verheeren“. Industrialisierung, großtechnische Produktion haben in dem idealisierten Mittelalter Tolkiens nichts zu suchen, wobei dieses idealisierte Mittelalter selbstverständlich ausschließlich aus bequemer Perspektive heraus geschildert wird – die des kleinen Landadels (Bilbo, Frodo, alle Hobbits die wir näher kennenlernen) bzw. der hohen Aristokratie: Gandalf, die Elben, Boromir usw. Die Perspektive von Handwerkern, Knechten, Minenarbeitern, Handlangern, mit anderen Worten derer Personen, die in einer solchen Welt notwendigerweise all die zermürbende, manuelle Arbeit verrichten müssen, wird nicht berücksichtigt, denn sie zu berücksichtigen wäre unbequem: Es käme eventuell heraus, dass diese Leute den Status quo keinesfalls mögen.
Siehe auch:
Michael Moorcock: Epic Pooh – ein Essay der in eine ähnliche Richtung geht.
Man muss, ich würde beinahe sagen „muss leider“, anmerken: Es gibt fasznierende, gute Schriftsteller, die reaktionäre Ansichten vertreten. Mishima Yukio, Ernst Jünger, Celine, in gewisser Betrachtungsweise auch Michel Houellebecq sind durchaus im rechten Spektrum angesiedelt – aber sie sind, im Gegensatz zu Tolkien, der einfach nur hysterisch geifert gegen alles, was ihm ungewohnt und nicht schön erscheint, in der Lage, ihre Ansichten zu reflektieren und darüber nachzudenken, was sich nicht zuletzt auch darin äußert, dass ihre Sprache hochentwickelt und literarisch ist. So gut Tolkiens theoretische sprachwissenschaftliche Kenntnisse gewesen sein mögen, in der künstlerischen Praxis kreisen seine klobigen, kindlichen Satzkonstruktionen um die überdetaillierte Beschreibung fiktiver Landschaften. Er ist kein Schriftsteller. Er ist ein rechtsextrem-ökologistischer Unterhaltungsromanautor, aber kein Künstler.
Der Herr der Ringe, und teilweise noch üblere, psychotischere Kreationen wie „Atlas Shrugged“ oder die „Gor“-Serie, erfreuen sich aus mir nicht ganz eingängigen Gründen in Nerd-Kreisen ewiger Beliebtheit. Offensichtlich sind technologische Fähigkeiten nicht zwangsläufig an literarisches Verständnis gekoppelt. Es könnte jedoch einen tieferen Grund geben: Nerds waren ihrer Natur nach von den gesellschaftlichen Riten des Erwachsenwerdens – erster Kuss auf dem Schulhof, erster Urlaub mit Freunden, erste im Alkohol/Hanf-Nebel versumpfende Party, etc. – ausgeschlossen, beschäftigten sich vorwiegend mit ihren Spezialinteressen. Die Rezeption von Kunst und Literatur ist nie ein völlig solipsistischer Prozess, sie findet immer bis zu gewissem Grade in einem sozialen Kontext statt: Denn es handelt sich ja um Kommunikation, zwischen Leser und Autor auf der einen, Leser und Protagonisten der Geschichte auf einer anderen Ebene. Dass jemand, der an den verschiedenen sozialen Erlebnissen, die in unserer Gesellschaft an das Erwachsenwerden geknüpft sind, nicht teilnimmt, bezüglich seiner literarischen Vorlieben kindlichen bleibt – denn es sei zugegeben, als Abenteuerbuch für Kinder ist der Herr der Ringe zur Not ganz brauchbar – ist somit vielleicht nicht völlig verblüffend. Ich möchte mich an dieser These nicht eisern festhalten – ich bin ja auch kein Gesellschaftswissenschaftler – aber sie scheint mir nicht implausibel, ebenso wie die Vermutung, dass die überraschende Techno- und Neophobie mancher Nerds bezüglich vieler Technologien vor denen die grün-konservative Elterngeneration sich bereits gruselte (insbesondere Kern- und Gentechnik) damit zusammenhängen könnte, dass sie einen zutiefst konservativen Literaturgeschmack haben. Die heile mittelalterliche Welt des Auenlandes könnte einer Phantasie radikaler Ökologisten entsprungen sein.
Fantasy-Romane in der Art Tolkiens fordern den Leser nicht heraus, sondern betäuben ihn und sein Urteilsvermögen. Sie lassen ihm all seine Vorurteile und verstärken sie noch, indem sie ein bequemes Gerüst klarer Moralvorstellungen anbieten. Die von den Piraten angestrebte Situation, dass der Kunstrezipient aktiviert wird und mit dem Material weiterarbeitet, ist hier gerade nicht möglich. Es werden keine komplexen mentalen Prozesse ausgelöst.
„Science Fiction und Fantasy“ – aus meiner Sicht eine befremdliche Zusammenziehung. Beschäftigt Fantasy sich nicht mit dem was nie war und nie sein kann, Science Fiction hingegen mit dem was nicht ist aber in der Zukunft sein könnte? Dieser Möglichkeit, an die Realität anzuknüpfen, anstatt sie benebelnd auszublenden, verdankt die Science Fiction es eventuell auch, dass sie, im Gegensatz zur Fantasy, es zumindest in vereinzelten Fällen schaffte, aus der Gosse, in der sie entstand, hinausklettern und den Status richtiger Literatur zu erreichen. Präziser gesagt gelang es den Themen und Motiven der in riesiger Menge entstandenen Gossen-SF die richtige Literatur zu inspirieren: Die Zukunftsromane der Ostblockautoren, wo man, bezüglich einheimischer Werke nicht zu unrecht, die Science Fiction als Literatur ansah, wie auch Werke von Alfred Döblin („Berge, Meere und Giganten“), Abe Kobo („Die vierte Zwischeneiszeit“), Arno Schmidt („Die Gelehrtenrepublik“), Michel Houellebecq („Elementarteilchen“, „Die Möglichkeit einer Insel“) oder eben – und hier dehnt sich der Begriff „Science Fiction“ tief hinein in den Bereich „surrealistische Literatur von Science-Fiction-Motiven inspiriert“ – die Romane von Thomas Pynchon.
Ich hatte es damals natürlich nicht eilig, nachhause zu kommen – im Gegenteil, ich dehnte meinen Urlaub gemütlich aus, indem ich keinesfalls versuchte, Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen, sondern auf Abstechern, Feldwegen, Schleichwegen und Nebenstraßen den Bodensee verträumt umkreiste. In Bibarach traf ich auch richtig auf das in Bronze verewigte Bäuerlein, das seine Geiß bei den Hörnern packte, in der Nähe von Bregenz überrollte ich fast Soldaten des Bundesheeres, die mit ihren Schnellfeuergewehren durchs Gebüsch streiften, in einem Dorf auf der schweizerischen Seeseite wurde ich von einem Wolkenbruch überrascht, musste in einem Bed-and-Breakfast-Fremdenzimmer übernachten und mangels anderer Nahrungsquellen in einem Luxusrestaurant zu Abend essen, wo das billigste Gericht – ein geräuchertes Fischfilet, wenn ich mich richtig entsinne – meinen Geldbeutel bis zum Grund entleerte. Während dieses Ausflugs brauchte Pynchon mich nicht wirklich zu ziehen; ich sank von alleine willig in den Roman „Vineland“ hinein.
Literatur ist eine Freundin fürs Leben. Manchmal sieht man sie einige Zeit nur sporadisch – so wie ich während der ersten Semester meines Studiums – aber man findet immer wieder in ihre leidenschaftliche Umarmung zurück. Es war der „Mann ohne Eigenschaften“, auf den rasch die großen Romane von Thomas Mann, Dostojewskij und natürlich all die anderen Pynchons – insbesondere „Gravity’s Rainbow“! – folgten, der mich und meine Lebensliebe wieder vereinte.
Ich glaube, das Wunderbare an Literatur ist unter anderem, dass das mentale Universum durch sie eine fraktale Struktur annimmt: An jedem Detail der inneren Landschaft, jedem Sandkorn, jedem Insekt, jedem Sonnenstrahl, hängt ein unendlich ausgedehnter Kosmos, der wiederum aus unendlich vielen Taschenuniversen besteht. Die Welt der Bücher ist unendlich im Raum, in der Zeit und in der Strukturtiefe ausgedehnt. Man kann frei vom einen ins andere Universum wechseln, und dabei ist nichts rigide vorgegeben: Diese mentalen Welten sind plastisch und unaufdringlich. Man kann Sartre lesen, ohne Existenzialist zu sein (man kann seine Romane sogar dann schätzen, wenn man den Existenzialismus für völlig unsinnig hält) man kann Peter Weiss mögen ohne Sozialist, Dostojewskij ohne Christ zu sein, und die „Suche nach der verlorenen Zeit“ ist auch für diejenigen ein großartiges Werk, denen aristokratischer Elitismus völlig fremd ist.
Ein fraktaler, formbarer Kosmos: so denken sich aktuelle Futuristen geläufigerweise den Cyberspace, ein computersimuliertes Universum, oder auch einen physikalischen Raum, der mit einem „Utility Fog“ ausgestattet wurde, einem Dunst aus Nanomaschinen, der beliebige makroskopische Objekte hervorbringen und verändern kann. Die gegenwärtigen Ideen in der Science Fiction, die stark von den Spekulationen von Transhumanisten wie Ray Kurzweil beeinflusst sind und auf die Durchbrechung der Grenze zwischen physikalischer Realität und simulierten Welten hinauslaufen, mittels künstlicher Intelligenz, Nanomaschinen, Uploading und Verschmelzung von Biologie und Technologie – Konzepte, die in der Piratenpartei nicht völlig unpopulär sind – haben bisher noch keine großen Autoren inspiriert, obwohl die Arbeiten von Michel Houellebecq (der vermutlich über den Religionsführer Rael damit in Kontakt kam) ansatzweise in diese Richtung gehen. Wie die Antwort des 21. Jahrhunderts auf „Gravity’s Rainbow“ aussehen wird, weiß man noch nicht. Es ist aber klar, dass Pynchons Erben aus einem reichhaltigen Imaginationsfundus werden schöpfen können: Technologische Singularität, Unsterblichkeit durch Nanoimplantate, Umwandlung ganzer Planeten in Computronium… man benötigt kein LSD für den Trip ins Surreale!
Solange futuristische Konzepte im Zusammenhang mit Computern stehen, fühlen Nerds sich damit zuhause! Bezüglich Kerntechnik dagegen gruseln sie sich meist sehr – es gelang ihnen eben nur, sich in einem ganz bestimmten Bereich von der Technophobie der älteren Generation zu emanzipieren, in anderen sind sie ihr noch verhaftet, und ihre fantasylastigen Lesegewohnheiten sind nicht geeignet, in dieser oder irgendeiner anderen Beziehung eine geistige Öffnung zu begünstigen.
Vielleicht sollte sich nicht nur die Literatur von den Ideen der Nerds inspirieren lassen, sondern auch andersherum? Ich persönlich würde mir wünschen, dass Piraten sich eine kleine Shitstorm-Auszeit gönnen würden, und diese nutzen, um sich mit den folgenden Büchern auf die Couch zu kuscheln:
- Thomas Pynchon: Gravity’s Rainbow (oder irgendein anderes Pynchon-Werk – Vineland gilt als zugänglichster Roman von ihm)
- Thomas Mann: Der Zauberberg
- Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
- James Joyce: Ulysses
- Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstandes
…hey, wieso sitzt ihr noch vor dem Monitor? Auf in die Bibliothek!
Huch, ihr seid ja immer noch da! Jetzt aber mal den Computer ausgeschaltet und: A screaming comes across the sky…
4 Antworten
Es wäre schade, wenn du die Piraten verlassen würdest (Andeutung in einem deiner Tweets). Noch habe ich Hoffnung, dass nicht alles verloren ist. Sollte sich allerdings herausstellen, dass sich bei den Piraten ebenso wie bei den Grünen wissenschafts- und technikfeindliche Positionen verfestigen, werde ich sie nicht mehr wählen. Deinen Artikel habe ich sehr gerne gelesen.
Danke für dein Lob, freut mich, dass dir der Artikel gefällt! 🙂
Was die Piraten angeht… tja, hm, habe gestern in der Tat darüber nachgedacht, auszutreten… mir gefällt die Richtung nicht, in die sie driften (Grünen-Klon). Aber mal schauen. Für’s erste bleibe ich mal Mitglied, schadet ja nicht. Ich möchte nichts übereilen.
Finde den Artikel sehr gut. Diese Technikfeindlichkeit steht den Piraten gar nicht. Man muss nicht wieder die konservativen Positionen von SPD, Grünen und Linkspartei kopieren, dann wählt man gleich das Original.
Früher haben linke und liberale Kräfte den Fortschritt bejaht, heute überbieten sich alle in einem Wettbewerb um möglichst konservative Positionen. Alle Nerds seien daran erinnert, dass Star Trek und Star Wars niemals Realität werden, wenn wir auf Windmühlen und Kohleöfen setzen.
🙂 Da kann ich dir nur zustimmen – besonders befremdlich erscheint mir, dass die sozialdemokratischen/sozialistischen Parteien, die ja eigentlich nach Eigendefinition „Arbeiterparteien“ sind, sich inzwischen äußerst technik- und industriefeindlich gebärden.
Und ja, das mit der Science Fiction und Raumfahrt – da hatte ich vor einiger Zeit eine lustige Diskussion auf Twitter mit einer Piratin. Die verlief inhaltlich ungefähr so:
Ich: Die Menschheit sollte den Weltraum besiedeln…
Piratin: Yeah! 🙂
Ich: …und deshalb können wir auf Kernenergie nicht verzichten.
Piratin: Och nö! :(((
Mit einem anämischen chemischen oder elektro-solaren Triebwerk kommt man da halt nicht weit. Die Scifi-Fans in der Piratenpartei sollten sich das klarmachen 😉