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Leckage im Notkühlsystem – Was ist los in Doel 1?

Am 2. Mai gab die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC eine aktualisierte Meldung [deutsche Übersetzung durch Google Translate] über die Leckage im Reaktorblock 1 des Kernkraftwerks Doel heraus. Diese Meldung schafft weitgehend Klarheit über die Gründe für das Abfahren der Anlage am 23. April, das in den deutschen Medien zum üblichen Schwall an Super-GAU-Prosa geführt hatte.

Die erste Meldung [deutsche Übersetzung durch Google Translate] der FANC hatte noch von einer Leckage im »circuit d‘ eau de refroidissement de secours« gesprochen, was ein überhaupt nicht radioaktiver Nebenkühlwasserkreislauf gewesen wäre. Dieser Nebenkühlwasserkreislauf bedient ein nukleares Zwischenkühlsystem, welches wiederum nukleare Komponenten kühlt, zum Beispiel Ölkühler der Hauptkühlmittelpumpen oder die HD-Kühler des Volumenregelsystems. Diese erste Aussage stand jedoch im Widerspruch zu den Aussagen von ENGIE Electrabel, der Betreiberin von Doel 1, man habe eine Leckage »im Notkühlsystem« mit radioaktivem Medium vorliegen. Das jedoch ist ein ganz anderes System.

Notkühlsystem muss vollständigen Abriss einer Hauptkühlmittelleitung beherrschen

Doch nun ist einigermaßen klar, worum es sich handelt: Die Leckage befindet sich laut Behörde in einer Schweißnaht einer Notkühlleitung, und zwar »zwischen dem Reaktordruckbehälter (RDB) und einer Absperrarmatur«. Das bedeutet, sie befindet sich an einer Stelle des Notkühlsystems, kurz bevor dieses in den Primärkreis bzw. in den Reaktordruckbehälter einbindet.

Was ist darunter zu verstehen? Dafür müssen wir uns ein wenig in das Notkühlsystem (NKS) von Doel 1 vertiefen (siehe Abbildung 1).  Doel 1 ist ein Westinghouse-Druckwasserreaktor in 2-Loop-Bauweise, der im Jahr 1974 erstmals kritisch wurde. Das betroffene Notkühlsystem ist ein System aus passiven Druckspeichern, die bei Druckabfall im Primärkreislauf automatisch einspeisen, wenn ihr Ansprechdruck unterschritten ist. Passive Komponenten sind in Abbildung 1 grün dargestellt. Außerdem gibt es aktive Komponenten (rot), nämlich Hoch- und Niederdruckpumpen, die aus Flutbehältern, aber auch aus dem Reaktorgebäudesumpf ansaugen können und mit denen man den Reaktordruckbehälter mit hochboriertem Wasser fluten und wiederauffüllen kann – Letzteres zwecks Rezirkulation nach einem hohen Kühlmittelverlust durch ein großes Leck. Solche Systeme müssen den vollständigen Abriss einer Hauptkühlmittelleitung beherrschen.

In Doel 1 speisen zwei Druckspeicher in die kalten Stränge der Hauptkühlmittelleitung (Loop) ein. Die vier Hochdruck-Sicherheitseinspeisepumpen hingegen können sowohl in die heißen und kalten Stränge einspeisen, als auch direkt in den Reaktor. Abbildung 1 zeigt in vereinfachter Form einen Teil dieses Systems.

Abbildung 1: Primärkreislauf und Notkühlsystem von Doel 1 (vereinfachter Ausschnitt). Grafik: Dirk Egelkraut (nach Reliability analysis for the safety injection (SI) system of the Doel I-II power plant in the case of a LOCA).

Laut FANC liegt die Leckage in einer der beiden direkt in den Reaktordruckbehälter mündenden Notkühlleitungen, die in Abbildung 1 hellblau hinterlegt sind. Vom Reaktor aus gesehen ist das noch vor der Erstabsperrung, einer Rückschlagarmatur, mit der das Notkühlsystem während des Leistungsbetriebs vom Primärkreis getrennt wird. In Doel 1 wird diese Isolierung von zwei in Reihe geschalteten Rückschlagklappen und einer im Normalbetrieb in Offenstellung stehenden Motorarmatur gewährleistet.

Kleine Leckagen machen sich nur indirekt bemerkbar

Da sich die nun lokalisierte Leckage zwar im Notkühlsystem, aber in einer direkt zum Reaktordruckbehälter führenden Leitung jenseits der Erstabsperrung befindet, ist sie mit Primärkühlmittel beaufschlagt, sprich: aus der Leckage entweicht Flüssigkeit, die radioaktive Stoffe enthält. Unter vollem Systemdruck betrug die Leckrate einige Liter pro Minute. Solche Leckagen können von den Förder- oder Ladepumpen des Volumenregelsystems mühelos überspeist werden, und es kommt zu keinem nennenswerten Druckabfall, der zu einer Anregung des Reaktorschutzes und einem automatischen Start der Notkühlung führen würde. Man bemerkt solche Leckagen daher indirekt, indem Luftfeuchtefühler und Aktivitätsmessstellen in den entsprechenden Anlagenräumen ansprechen, oder an einer erhöhten Drehzahl der Förderpumpen des Volumenregelsystems, welche automatisch versuchen, den minimalen Verlust auszugleichen.

Die erste Maßnahme bei Vorliegen dieser Symptome ist ein Abfahren der Anlage auf den Zustand kalt-unterkritisch und drucklos, um die Leckrate zu verringern. Das ist in Doel 1 am Nachmittag des 23. April geschehen. Tatsächlich betrug die Leckagemenge nach dieser Maßnahme nur noch wenige Tropfen.

Der Ort des Defekts ist schwer zugänglich, und es ist dort mit einer hohen Ortsdosisleistung zu rechnen, weswegen die Reparatur eine längere Planung erforderlich macht, ganz abgesehen von der noch andauernden Ursachenforschung, die ebenfalls einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Daher zieht man nun die planmäßige Revision mit Brennelementwechsel und Wartungsarbeiten um einen Monat vor; sie soll bis Oktober dauern. Ob dies vor oder nach dem Defekt geplant wurde, geht aus den Aussagen der Behörde nicht hervor.

Was sonst noch wissenswert ist

Das Notkühlsystem hat in Druckwasserreaktoren auch eine betriebliche Aufgabe, denn beim regulären Abfahren der Anlage übernimmt es ab einem bestimmten Temperaturlevel die Nachkühlung des Reaktors. Das geschieht bei etwa 170 Grad Primärkreislauftemperatur, wenn die Nachwärme nicht mehr über die Dampferzeuger abgeführt werden kann. Die Notkühlpumpen fungieren dann als Nachkühlpumpen und fördern Wasser in den Reaktorkern, das über einen Nachwärmekühler geführt wird, der wiederum vom oben erwähnten nuklearen Zwischenkühlkreislauf gekühlt wird. Dieser wiederum wird mit Flusswasser gekühlt. Der letztgenannte Zwischenkühlkreislauf wurde in der veralteten Aussage der FANC genannt – offensichtlich gab es zwischen Betreiberin und Atomaufsicht einige Kommunikationswirren über die Nachkühlkette von Doel 1.

Im Leistungsbetrieb – also auch im Fall Doel 1 zum Zeitpunkt der Leckage-Auffindung – ist das Notkühlsystem mit den erwähnten Erst- und weiteren Zweitabsperrungen vom Primärkreislauf separiert. Diese Armaturen trennen das Notkühlsystem vom Primärkreislauf beziehungsweise isolieren Zwischenabschnitte des Notkühlsystems voneinander. Im Nachkühlbetrieb schaltet man über die aufziehbaren Erstabsperrungen das System zum Primärkreis durch, doch im Leistungsbetrieb halten sie sicher dicht, denn sie funktionieren als Rückschlagklappen gegen den im Vergleich zum Notkühlsystem höheren Druck des Primärkreislaufs.

Doppelt und dreifach vorhandene Systeme sorgen auch bei Ausfall für Sicherheit

Leckagen oder Lecks im Notkühlsystem haben also für den Reaktorbetrieb erst einmal keine direkte Auswirkung, es sei denn, siehe oben, es liegt wie im vorliegenden Fall noch vor der Erstabsperrung. Aber auch im anderen Fall hätte Doel 1 abfahren müssen. Das liegt an der dortigen Auslegung der Notkühlsysteme, das 2 × 100 % bietet. Das heißt, es gibt zwei Notkühlsysteme, von denen jedes einzelne allein bereits zum Beherrschen eines Auslegungsunfalls ausreicht. Das zweite steht redundant in Reserve. In Doel teilen sich Block 1 und 2 des Kernkraftwerks bestimmte Komponenten des Notkühlsystems, eine Auslegung, von der man bei später gebauten Mehrblockanlagen abging, um eine stärkere Entflechtung der Blöcke zu erreichen.

Muss in Doel 1 eines der beiden Notkühlsysteme zwecks Reparatur freigeschaltet werden, hätte man nur noch ein einziges für den Leistungsbetrieb zur Verfügung. Fiele dieses nun wegen eines Einzelfehlers aus, wäre man blank. Das darf nicht sein, und daher wird zur Reparatur eines von zwei Notkühlsystemen der Reaktor spezifikationsgemäß abgefahren. Man spricht hier vom N+1-Prinzip: N ist die Zahl der zur Beherrschung eines Störfalls nötigen Systeme oder Stränge, das »Plus« markiert, wie viele Reservestränge es gibt.

Die noch im Betrieb befindlichen deutschen Anlagen verfügen über ein viersträngiges Notkühlsystem mit einer Auslegung von 4 × 50 %. Die osteuropäischen WWER-Anlagen sind sogar mit 3 × 100 % ausgelegt. Das heißt, hier dürfen sogar zwei Stränge wegen Reparatur oder Einzelfehlers ausfallen, und man hat noch immer eine funktionierende Notkühlung. Deswegen darf bei uns, in Temelín oder in einem ukrainischen Kernkraftwerk ein einzelner Strang in Reparatur gehen, ohne dass man die Anlage abfahren muss. Ginge dann auch ein zweiter Strang K.O., würde abgefahren (N+2-Prinzip).

Was passiert mit dem radioaktiven Wasser?

Wohin geht die Leckrate? Jedenfalls nicht nach draußen in den Fluss, wie es die gute deutsche Gerüchteküche immer gerne suggeriert, auch wenn die erste FANC-Meldung solche Vorstellungen begünstigt haben dürfte. Vielmehr läuft das Wasser in die Gebäudeentwässerung des Kontrollbereichs und von dort in Abwasserbehälter. Aus diesen Behältern wird das Abwasser in einen Verdampfer geführt. Durch dieses Verfahren kommt schließlich auf der einen Seite destilliertes Wasser heraus, das nach Kontrolle in den Fluss abgegeben werden kann. Auf der anderen Seite bleibt Verdampferkonzentrat. Das wird getrocknet, mit einer Bindemasse in Fässer verfüllt und der Endlagerung zugeführt.

Zur Reaktorsicherheit gehört auch eine gute Kommunikation

Schön ist das alles nicht, aber es handelt sich bei diesem Ereignis weder um einen »Unfall«, der mit mindestens 4 auf der INES-Skala eingestuft werden müsste, noch um einen »Störfall« mit INES 2 oder 3. Vielmehr liegt hier ein meldepflichtiges Ereignis vor, da es sich um eine Leckage quasi im Bereich des Primärkreises handelt. Zudem ist mit dem Notkühlsystem ein Sicherheitssystem betroffen, und dieses wurde unverfügbar. Da jedoch die Kühlung der Brennelemente zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt war und durch die radiologische Freisetzung niemand erhöhter Strahlung ausgesetzt war, lautet die Einstufung der FANC folgerichtig INES 0.

Abbildung 2: Allgemeine Kriterien für die INES-Einstufung. Quelle: INES – The International Nuclear and Radiological Event Scale User’s Manual

Mit Ruhm bekleckert haben sich die Belgier allerdings nicht. Unklarheiten in der Kommunikation regen zu Vermutungen an, es werde – wie der WDR behauptet – etwas »abgewiegelt«. Die Belgier haben es nicht leicht mit ihren atomhysterischen Nachbarn – aber leicht machen müssen sie es ihnen deswegen ja noch lange nicht.

Quellen


Titelbild: Kernkraftwerk Doel. Quelle: Wikimedia Commons.


5 Antworten

  1. Vielen Dank der Nuklearia, Herrn Klute und diesmal vor allem wieder Ihnen, sehr geehrte Frau Dr. Wendland. Mein Eindruck ist, dass das hier vermittelte Wissen langsam Anerkennung findet in der ausgetrockneten deutschen Nuklear-Landschaft – Das ist ein grosses Verdienst, Glückwunsch !
    ————-
    Wenn man die Einzelheiten der zu DOEL 1 hier geschildereten Zusammenhänge liest, kann man begreifen, warum sich die meisten Menschen nicht die Mühe machen, dies zu verstehen. Da ist es viel einfacher den Strom irgendwo zu kaufen, als selbst zu erzeugen.
    Es ist aber auch Anlass zu fragen, ob es wirklich so kompliziert sein muss. Diese ganzen Sicherheits-Mechatroniken und -Levels etc. machen die heutigen AKW so suspekt. Was man nicht kennt, flösst Angst ein: man fühlt sich abhängig.

    So möchte ich erneut ein Wort einlegen für das radikal andere Konzept des HTR mit Kugelbett-Technik. Dort ist der GAU von vorneheren unmöglich. Weil niedrige Energiedichte und Bauform gemeinsam eine Überhitzung verhindern, tritt eine kritsche Situation gar nicht erst ein.
    Und dies wurde in Jülich mehrfach unter Beweis gestellt. China hat dies nachvollzogen und baut nun an einem gösseren Demo-Reaktor mit 200 MWe .
    Näheres unter http://www.no-meltdown.eu

  2. Zunächst mal danke für die gewohnt verständliche Darstellung hier.
    Dann hatte ich die Meldungen anderswo im Kern richtig verstanden. Es ist ausnahmsweise sogar ein wenig problematischer als von mir vor Lesen dieses Artikels angenommen.
    Klar ist das kein Störfall, der panische Meldungen wert ist. Aber es ist ein Leck innerhalb des Primärkreislaufs und VOR einer Möglichkeit in der Leitung, sie vom Reaktordruckbehälter zu trennen. Auch ich verstehe, dass es nur eine Hilfsleitung ist und sogar der Abriss einer der Loop-Leitungen nach Auslegung beherrschbar sein sollte.
    Trotzdem: Man sollte doch eigentlich in der Lage sein, Undichtigkeiten des Druckbehälters und seiner unmittelbaren Umgebung im Normalbetrieb und ohne ungeplante äußere Einflüsse, zumindest bis zur ersten Möglichkeit der Trennung mit Absperrventil/hahn durch Prüfungen vorherzusehen und vorbeugend durch Wartung auszuschließen.

    Ich will diese älteren KKWs gar nicht schlechter machen als sie sind und mitnichten Panik erzeugen, aber über 40 Jahre sind für jede Maschine bei einer derartigen Belastung kein Pappenstil. Vielleicht ist bei manchen Kraftwerken inzwischen doch der Punkt erreicht, an dem Nachrüstung und verstärkte Kontrolle sich nicht mehr rechnen und/oder solche Mängel durch nicht detektierbare Materialermüdung zwangsläufig vermehrt auftreten.

    Mein Fazit ist einmal mehr: Lasst uns diese Kraftwerke abschalten und statt dessen bessere der kommenden Generation neu bauen. Nur bitte nicht immer weiter Leichtwasserreaktoren, denn selbst wenn auch diese immer sicherer werden bleiben sie furchtbar inneffizient.
    Jochen Michels hat ja bereits den „Kugelhaufenreaktor“ erwähnt, bei dem sehr kritische Auswirkungen inhärent ausgeschlossen sind und der hohe Prozesstemperaturen auch für Anwendungen jenseits der Stromerzeugung bereitstellt. Aber es geht meines Erachtens sogar noch „besser“, nämlich ohne externe Wiederaufbereitung von Brennelementen (auch in Kugelform) und den damit einhergehenden Problemen. Womit kann man hier bei Nuklearia ja an diversen Stellen nachlesen …

  3. Es stimmt schon, Herr Michels, so kompliziert muß es nun wirklich nicht sein. Wegen LNT und ALARA haben sich mit den Jahrzehnten die Forderungen der Behörden immer weiter aufgeschaukelt. Die für Sicherheit verantwortlichen Behörden müssen ja für noch mehr Sicherheit sorgen, und noch mehr, und noch mehr, also gab es immer mehr Vorschriften.
    Ich wiederhole hier die Forderung von C.L. Sanders als optimale Dosis für biopositive Wirkung von Strahlung: 150 bis 3000 mSv/a, das erfordert bei einer Expositionszeit von 4000 h/a eine Dosisleistung von 40 bis 800 Mikro-Sievert pro Stunde. — Wenn Radioaktivität frei gesetzt wird, dann ist das nicht unbedingt schädlich, sondern zumeist nützlich für die Gesundheit von Lebewesen.

    1. Interessanter Punkt, wobei dies schon gezielt passieren sollte und nicht als Teil eines Unfalls.

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