„Du hast sicher einen Computer zuhause! Die fügen den Jugendlichen heutzutage viel Schaden zu!“ knurrte der Erdkundelehrer, um seinem Unmut über die Tatsache, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, Ausdruck zu verleihen. Die Lehrer des Gymnasiums, auf dem ich Mitte der 1990er Jahre die Schulbank drückte, schienen sich den Anbruch des digitalen Zeitalters mehrheitlich so vorzustellen, dass demnächst dies hier ans Schultor klopfen würde.
Der ungewöhnlich mürrische Erdkundelehrer, den wir in der achten Klasse bekommen hatten, und selten versäumte, darauf hinzuweisen, wie ungewöhnlich verkommen, ungebildet und kulturlos Jugendliche der modernen Ära seien, hatte mit dem ersten Teil seiner Aussage recht: Schon zu meinem neunten Geburtstag hatte mich ein Atari 1040 STF begrüßt, den ich sofort ins Herz geschlossen hatte. Mitte der 90er war dieser Computer bereits ein Oldtimer, jedoch wie eh und je dazu geeignet, meiner BASIC-Programmierleidenschaft Vorschub zu leisten und Hausaufgaben unter die mentale Wahrnehmungsgrenze rutschen zu lassen.
Mit ihrer Technophobie waren die Lehrer in guter Gesellschaft. Nachdem die Miniaturisierung elektronischer Schaltkreise es ermöglicht hatte, vergleichsweise leistungsstarke Rechner in der Größe und zum Preis von besseren Haushaltsgeräten herzustellen – Ende 1970er, Anfang 1980er – und diese als Homecomputer in Wohn- und vor allem Kinderzimmer einzogen, fehlte es nicht an Journalisten, die die Menschheitsdämmerung heraufdunkeln und Pädagogen, die die Nacht der Vernichtung hereinnebeln sahen. Bei Einführung der Eisenbahn im neunzehnten Jahrhundert befürchtete man, Menschen könnten durch den Anblick vorbeirasender Züge wahnsinnig werden, bezüglich der Rechner sah man eine Generation seelenloser, zu zwischenmenschlichen Regungen unfähiger Techniksklaven heranwachsen, die sich nur noch für Bytes und Pixel statt für Blumen und Kinoabende interessierte und zudem auch noch durch „gewaltverherrlichende Spiele“ zu kaltblütigen Amokläufern umgepolt werden würde.
Doch die angstvollen Rufe der Weltendepropheten in „Zeit“-Feuilleton, TV-Studio und Lehrerzimmer verhallten, denn sie hatten die Rechnung ohne die Computerfreaks gemacht. Anstatt zu unkreativen elektronischen Zombies zu degenerieren, lernten die Jugendlichen programmieren, loteten Möglichkeiten und Grenzen der Maschinen aus und entwickelten die Technik weiter, so dass im Zuge der weltweiten Vernetzung aller Computer um die Jahrtausendwende herum das digitale Zeitalter anbrach und elektronische Datenverarbeitung heutzutage aus keinem Aspekt des Lebens mehr wegzudenken ist. Möglich wurde dies vor allem durch die industrielle Massenproduktion billiger, miniaturisierter Rechner.
Warum, fragt Robert Hargraves in seinem Buch „Thorium – Energy Cheaper than Coal“ (deutsche Übersetzung von Simon Aegerter: „Thorium – billiger als Kohlestrom“), sollte nicht auch das Aktinidenzeitalter auf ähnlichem Wege eingeläutet werden? Er nimmt nicht direkt Bezug auf die Entwicklungen der Computerindustrie, aber sein Plan geht unverkennbar in eine ähnliche Richtung: Heutige Kernkraftwerke sind seltene Riesenkonstruktionen mit typischerweise über 1000 MW Leistung, die die Ressource Uran nur sehr ineffizient nutzen, da sie vorwiegend das natürliche fissile Isotop U235 spalten. Abgesehen von all den irrationalen Angstvorstellungen, die rund um diese Technik entstanden sind (ähnlich der Computerfurcht in den 1980ern und 90ern), stehen ihrem weltweiten engmaschigen Einsatz ein hoher Konstruktionsaufwand, wetterwendische Politik und nicht zuletzt die Tatsache, dass der Atomstrompreis den von Kohlestrom noch nicht deutlich zu unterbieten vermag, entgegen.
Dies muss – so die Grundthese von Hargraves‘ Buch – geändert werden, indem man Kleinreaktoren in Serie produziert, die Energie zu Preisen zu erzeugen vermögen, die weit unter denjenigen fossiler Verbrennungen liegen. Angestrebt sind 2 US$ / Watt-Kapazität und 3 UScent / kWh elektrische Energie, die hierzu favorisierte Technologie sind kleine Flüssigsalzreaktoren mit 100 MW elektrischer Leistung, die im Thorium-Uranzyklus arbeiten, wobei ein thermisches Neutronenspektrum durch Graphitmoderation und zwei Salzkreisläufe, einer zur Spaltung und einer zum Brüten, zum Einsatz kommen sollen. Diese Technologie nennt man LFTR (Liquid Fluoride Thorium Reactor), gesprochen „Lifter“. LFTR gehören zur Klasse der Reaktoren mit flüssigem Brennstoff, genauer zu den Flüssigsalzreaktoren (MSR = Molten Salt Reactor), bei denen die Aktinide in geschmolzenen Salzen gelöst sind. Solche Reaktoren wurden am Oak Ridge National Laboratory (ORNL) in den USA bereits experimentell betrieben.
Robert Hargraves ist Mathematiker und Physiker. Sein Buch beruht auf Vorlesungen über Energiepolitik, die er am Institute for Lifelong Education des Dartmouth College hält, und der Text wirkt bezüglich seiner Struktur, die kurz und bündig von Punkt A zu Punkt B usw. schreitet und jedes Thema in einem kompakten Absatz aufschlüsselt, in der Tat zuweilen wie ein ausgebautes Vorlesungsskript. Dabei scheut er es jedoch auch nicht, thematisch in die Tiefe zu gehen und die sich rund um die Energieerzeugung rankenden Fragen bis zu ihren physikalischen Grundlagen zurückzuverfolgen. Nachdem er im ersten Kapitel eine lustige von Kirk Sorensen erfundene Geschichte über Frühmenschen nacherzählt, die die Erfindung des Feuers zuerst ablehnen wegen der „Restrisiken“ und der „ungelösten Endlagerfrage“ der Asche, es jedoch dann übernehmen weil es einfach viel mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt, und das Ziel des Buches klar umreißt – eine rein marktwirtschaftliche Lösung der Probleme Armut, Energieknappheit, Umweltverschmutzung und Klimawandel aufzeigen: eben eine unerschöpfliche, emissionsarme Energiequelle billiger als Kohle, Öl und Erdgas! – geht das zweite Kapitel den Dingen auf den Grund und erläutert nicht nur die hinter dem Begriff „Energie“ steckende Physik, sondern auch ihre Bedeutung für Lebewesen und die menschliche Zivilisation.
Etwas altmodisch aus heutiger Sicht wirkt die Verwendung der Einheit „Grad Kelvin“. Dies ist zwar nicht falsch und war früher so üblich – da die Kelvinskala sich jedoch theoretisch aus den statistischen Grundlagen der Wärmelehre herleitet und nicht auf sekundäre Effekte wie z. B. Ausdehnung eines Mediums bezieht, hat es sich inzwischen eingebürgert, bei ihr das „Grad“ wegzulassen.
Das dritte Kapitel, „An Unsustainable World“ („Eine nichtnachhaltige Welt“), beschreibt die Probleme, die gelöst werden sollen: Armut, Ressourcenknappheit, schnelles Bevölkerungswachstum, Klimawandel, und beginnt leider mit dem unseligen „Grenzen des Wachstums“-Modell von Dennis Meadows aus dem Jahr 1972. Prinzipiell geht Hargraves folgende Argumentation in die richtige Richtung: Neue Erfindungen, in diesem besonderen Fall der Thorium-Flüssigsalzreaktor, ermöglichen es der Menschheit scheinbare Grenzen zu überschreiten und die Probleme zu lösen. Dass dies bedeutet, dass die „Grenzen des Wachstums“ für intelligente Lebewesen nicht existieren, macht Hargraves jedoch nicht explizit, und sein Hinweis darauf, dass die Erde ein endliches System sei, passt auch nicht gut zu diesem Thema, denn sie ist zwar endlich, aber eben nicht abgeschlossen, wie allen Flüssigsalzreaktorfreunden klar sein sollte: diese Energiequelle wurde schon öfters als Grundlage für Kolonien auf anderen Himmelskörpern vorgeschlagen. Insbesondere der Mond verfügt über beträchtliche Thorium-Vorkommen.
Im vierten Kapitel diskutiert Hargraves die verschiedenen nichtnuklearen Energiequellen: Fossile Brennstoffe und Erneuerbare, sowie Energiespeichertechnik und Energiesparmöglichkeiten. Er zeigt Grenzen und Probleme dieser Technologien auf, so dass zum Schluß klar ist, dass ein „Game Changer“, eine revolutionäre technische Innovation, her muß, um dem angestrebten Ziel (Überwindung von Armut, Energiemangel und Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle auf marktwirtschaftlichem Wege) näherzukommen. Dieser Game Changer ist nach Hargraves Überlegungen der LFTR, was er im folgenden (dem 5.) Kapitel genau begründet.
Robert Hargraves favorisiertes Kernreaktor-Modell ist ein thermischer Flüssigsalzreaktor mit zwei getrennten Salzkreisläufen: Innen der Spaltungskreislauf, in dem U233 gelöst ist, so dass Energie und Neutronenstrahlung erzeugt werden, außenherum der Brutkreislauf, der Th232 enthält, welches sich durch Bestrahlung mit den Spaltneutronen nach folgender Reaktionsgleichung in U233 umwandelt:
[math]! {^{232}\mathrm{Th}} + \mathrm{n}\rightarrow {^{233}\mathrm{Th}} \rightarrow \beta^- \mathrm{Zerfall } \rightarrow {^{233}\mathrm{Pa}} \rightarrow \beta^- \mathrm{Zerfall } \rightarrow {^{233}\mathrm{U}}[/math]
U233 ist fissil, was bedeutet, dass es wie U235 oder Pu239 durch ein Neutron gespalten werden kann, wobei Energie und weitere Neutronen freigesetzt werden. Der LFTR „verbrennt“ also das auf der Erde häufige aber selbst nicht spaltbare Isotop Th232 katalytisch, indem es als Zwischenschritt in U233 umgewandelt wird, ähnlich wie der Integral Fast Reactor (IFR) U238 durch Umwandlung in Pu239 als Energiequelle nutzbar macht.
Die von Robert Hargraves favorisierte LFTR-Variante enthält einen Moderator aus Graphit, der die Neutronen auf thermische Geschwindigkeiten abbremst. Der Wirkungsquerschnitt der Spaltung ist in diesem Energiebereich größer, so dass weniger Spaltmaterial benötigt wird als in einem schnellen Reaktor – jedoch werden auch pro Spaltung weniger Neutronen erzeugt. Es ist daher nicht möglich, im thermischen Spektrum den U-Pu-Brutkreislauf zu realisieren, Th-U-funktioniert… gerade so! Pro Spaltereignis werden im Schnitt 2.44 neue Neutronen freigesetzt. Eines wird benötigt um die Kettenreaktion weiterzuführen, ein anderes, um ein frisches U233-Atom aus Th232 nachzuproduzieren, zusätzlich müssen Leck- und Absorptionsverluste ausgeglichen werden. Ein Reaktor, der soviel U233 erzeugt wie er verbraucht (Brutrate = 1) ist auf diese Weise möglich, das Erbrüten von zusätzlichem U233 zum Starten eines weiteren Reaktors ist komplizierter, aber auch gerade noch realisierbar! Die Verdopplungszeit fällt jedoch sehr groß aus, sie liegt bei mehreren Jahrzehnten. Doch die Kettenreaktion kann auch mit anderen fissilen Stoffen gestartet werden, z. B. U235 oder Transuranen (insbesondere Pu239) aus bestrahlten Brennelementen von Leichtwasserreaktoren (LWR) – ebenso wie IFR können LFTR somit Atommüll recyceln. Da sie weniger Fissilstoff brauchen kann mit einer gegebenen Atommüll-Menge sogar mehr LFTR-Kapazität installiert werden als IFR-Kapazität. Zusätzlich schlägt Hargraves externe U233-Produktionsverfahren vor: Zukünftige Fusionsreaktoren könnten mit Th232 ummantelt werden und mittels ihrer sehr intensiven Neutronenstrahlung schnell viel U233 erzeugen, aber auch schnelle Spaltungsreaktoren sind dazu geeignet. Unter der etwas irreführenden Überschrift „Fast MSRs can convert LWR waste to U233 for LFTRs“ beschreibt er, wie mit Plutonium aus bestrahlten LWR-Brennelementen betriebene Schnellspektrum-Flüssigsalzreaktoren U233 produzieren könnten; dabei wird natürlich kein „Atommüll in U233 umgewandelt“ sondern die exzellente Neutronenausbeute der Pu239-Spaltung dient dazu, Th232 in einem Brutmantel zu transmutieren.
An dieser Stelle mag man sich ein wenig am Kopf kratzen: Wenn man schon schnelle plutoniumgetriebene MSR baut, warum dann überhaupt den Umweg über Thorium? Man könnte doch gleich den U-Pu-Brutzyklus betreiben und ausschließlich schnelle MSR bauen! Diese haben nämlich den Reiz, vergleichsweise einfach aufgebaut zu sein, immerhin enthalten sie keinen Moderator. Ggf. kann man sogar auf den Brutmantel verzichten und einen Homogenreaktor mit nur einem einzigen Salzkreislauf konstruieren, der sowohl U238 wie Pu239 enthält. Solcherart käme man dem geflügelten Wort Alvin Weinbergs, der das MSR-Projekt am ORNL leitete, sehr nahe: „A pot, a pipe, a pump“ (Ein Topf, ein Rohr, eine Pumpe) – so bestechend simpel beschrieb er das Prinzip seiner Erfindung. Wenn das Ziel ist, Energie möglichst billig, ja eben billiger als Kohlestrom, zu erzeugen, dann ist ein einfacher Reaktoraufbau optimal.
Thermische Reaktoren haben nichtsdestotrotz den großen Vorteil, dass die Wirkungsquerschnitte für langsame Neutronen viel größer sind, weswegen zum Kettenreaktionsstart deutlich kleinere Mengen an fissilem Stoff ausreichen. Auch die Materialbelastungen fallen geringer aus.
Robert Hargraves erläutert, weshalb er den LFTR als billigste Energiequelle ansieht: LFTR können in kleinen, kompakten Modulen zu je 100 MW(e) gebaut werden. Inhärente Sicherheit erspart komplexe Schutzvorrichtungen. Hohe Betriebstemperaturen ermöglichen hohe Wirkungsgrade der Energieumwandlung, die mittels kompakter Braytonzyklus-Gasturbinen erfolgen kann. Offene Turbinen sind geeignet zum Betrieb in ariden Regionen, wo kein Kühlwasser zur Verfügung steht (der Luftstrahl nimmt die Abwärme auf). Brennelementefertigung und Urananreicherung sind unnötig. Moderne digitale Steuersysteme erlauben einen Betrieb der Anlage mit sehr wenig Menschen. LFTR hinterlassen nur minimale Mengen an Abfall.
Viele weisen nicht ganz zu Unrecht darauf hin, dass große Multigigawatt-Kraftwerke ökonomischer seien als kleine dezentrale. Robert Hargraves erläutert jedoch, dass die Produktionskosten sehr stark sinken, wenn Aggregate in Serie hergestellt werden, ähnlich Flugzeugen in einer Fabrik. Wirtschaftswissenschaftler der Universität Chicago schätzen ab, dass eine Verdopplung der Anzahl hergestellter Einheiten zu einer Kostenreduktion von 10% führt. Dies würde bedeuten dass der 1024ste hergestellte LFTR nur noch 35% des Preises des ersten kommerziell erhätlichen kostet. Kleine modulare Einheiten müssen in größerer Stückzahl gebaut werden, daher verläuft die Verbilligung durch Produktionserfahrung bei ihnen rascher. Außerdem fällt bei dezentralen Kleinkraftwerken der Bau von Überlandleitungen weg.
Hargraves führt aus, in welchen Schritten die Entwicklung des LFTR erfolgen könnte: Abgesehen vom neutronischen Design des Reaktors selbst erfordert vor allem die chemische Abscheidevorrichtung, die Spaltprodukte aus dem Salt aussondert und das frisch erbrütete U233 aus dem Brut- in den Spaltkreislauf überführt einiges an Arbeit – nicht umsonst bezeichnen viele den LFTR als „chemist’s reactor“ (Reaktor des Chemikers); auf den ersten Blick erscheint das Ganze wie eine Mini-Chemiefabrik und nicht wie ein herkömmliches Kernkraftwerk. Bislang steht die Forschung an dieser Technologie jedoch überwiegend noch in den Startlöchern. Nur China hat konkrete Pläne zum Bau einer Testanlage. An der Universität Grenoble in Frankreich gibt es eine Arbeitsgruppe, die theoretische Untersuchungen treibt. In den USA, bislang das einzige Land das Flüssigsalzreaktoren gebaut und betrieben hat, streben mehrere private Firmen die Entwicklung des LFTR an, insbesondere Flibe Energy des bekannten Kirk Sorensen. Thorenco dagegen hat einen Entwurf für einen schnellen Flüssigsalzreaktor vorgestellt. Weitere Initiativen sind aus Tschechien, Australien und Japan bekannt.
Andere moderne Reaktordesigns sind in der Entwicklung deutlich weiter fortgeschritten als der LFTR – insbesondere der schnelle U-Pu-Brutreaktor mit Natriumkühlung wurde in Form des Integral Fast Reactor (IFR) vom Argonne National Laboratory so gut wie fertig entwickelt und ist unter dem Namen PRISM (Power Reactor Innovative Small Module) bzw. ARC (Advanced Recycling Center) sogar von GE-Hitachi kommerziell erhältlich! Robert Hargraves vergleicht die verschiedenen Technologien miteinander: Zwar habe der LFTR in der Tat noch einen längeren Entwicklungsweg vor sich, weise aber mehrere Eigenschaften auf, die ihn einem IFR überlegen machen könnten – darunter die höhere Betriebstemperatur, die nicht nur eine effizientere Wandlung von thermischer in elektrische Energie erlaubt sondern auch Prozesswärme für chemische Prozesse bereitzustellen ermöglicht, sowie das geringere benötigte Inventar an fissilem Material und die aufgrund besserer Wärmeleitfähigkeit des Salzes im Vergleich mit Natrium geringere Größe eines LFTR gegenüber einem leistungsgleichen IFR.
Auf S. 295 unterläuft Robert Hargraves ein kleiner sachlicher Fehler: Er bezeichnet den EBR-II (Experimental Breeder Reactor II) als „the world’s only metal fueled LMFBR (liquid metal cooled fast breeder reactor)“, was so nicht ganz stimmt – auch der Dounreay Fast Reactor in Großbritannien wurde eine Zeit lang mit Metallbrennstoff betrieben.
Dass IFR aufgrund der hohen Neutronenausbeute in der Lage sind, rasch fissiles Material für weitere Reaktoren nachzuproduzieren (Verdopplungszeit ca. 8 Jahre), wohingegen der thermische LFTR dies wenn überhaupt dann sehr langsam vermag (Verdopplungszeit ca. 40 Jahre) wird nicht explizit erwähnt.
Robert Hargraves widerlegt jedoch mit viel Hintergrundwissen im 6. Kapitel („Safety“) die irrationalen und überzogenen Ängste vor Strahlung, die seit Zeiten durch Presse und öffentliches Bewußtsein geistern, darunter die aus der LNT-Hypothese (Linear No Threshold) abgeleitete Idee, dass jegliche Strahlendosis, egal wie gering, schädlich sei. Auch die geläufigen Antikernkraftargumente, dass die Lagerung radioaktiver Abfälle ein unüberwindliches Hindernis und Kernwaffenproduktion eng mit dem Betrieb ziviler Kraftwerke verknüpft sei, untersucht und entkräftet er überzeugend.
Das 8. und letzte Kapitel („Energy Policy“) ist wohl vor allem für Amerikaner interessant (die Tatsache, dass in den USA ein heilloses Chaos an energiepolitischen Gesetzen und Beschlüssen herrscht, wobei jeder Bundesstaat seine eigene Suppe zu kochen versucht, kann sicherlich als Beispiel dafür verstanden werden, wie Energiepolitik nicht zu machen ist). Hargraves hofft, dass die USA die Entwicklung des Flüssigsalzreaktor, vor der sie sich vor Jahrzehnten zugunsten des metallgekühlten U-Pu-Brüters verabschiedeten, wiederaufnehmen, mit privaten Unternehmen als wichtigem Standbein. Langfristig sollen die Reaktoren auch in andere Länder exportiert werden und ein internationaler Verkaufsschlager werden, so dass sowohl Democrats (Bekämpfung von Armut und Klimawandel) wie auch Republicans (positive Handelsbilanz, starke amerikanische Wirtschaft) sehr zufrieden sein dürften. Momentan sieht es natürlich eher danach aus, dass die Chinesen Vorreiter in Sachen Kerntechnik sein werden… doch unabhängig davon, wer nun die entsprechende Technologie entwickelt, ist für alle interessant, wie die Zukunft aussehen wird bzw. wie Hargraves sie entwirft, was im vorletzten (7.) Kapitel „A Sustainable World“ („Eine nachhaltige Welt“), das vom Titel her eine Antithese zum dritten („An Unsustainable World“) darstellt, nachzulesen ist.
Er stellt all die verschiedenen Möglichkeiten vor, die der LFTR, oder allgemein ein Kernreaktor mit hoher Betriebstemperatur bietet: Nicht nur Stromerzeugung, sondern auch Bereitstellung von Prozesswärme für viele verschiedene industrielle Anwendungen, die von Treibstoffsynthese – Kohlenwasserstoffe, Ammoniak, Wasserstoff – über Zementherstellung (die faszinierenderweise auch dazu genutzt werden kann, überschüssiges Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu binden und als Rohstoff für Treibstoffe zur Verfügung zu stellen) bis zu Meerwasserentsaltung reichen. Hierbei soll die Entscheidung zur Nutzung eines LFTR anstelle einer fossilen Energiequelle ausschließlich aus ökonomischem Selbstinteresse erfolgen: Da auf diese Weise erzeugte Energie nach Hargraves Überlegungen prinzipiell billiger ist als die Verbrennung von Öl, Gas oder Kohle, wird ein Industriebetrieb oder Energieversorger in diese Technologie ganz einfach deshalb investieren, weil hierdurch seine Gewinnspanne maximiert wird, ohne dass irgendwelche staatlichen Anreize, Subventionen, Kohlendioxidsteuern oder ähnliches nötig wären.
Robert Hargraves macht sich für ein kapitalistisches Modell zum Einstieg ins Aktinidenzeitalter stark. Es ist interessant, es mit dem internationalistisch-sozialistischen Ansatz von Tom Blees in „Prescription for the Planet“ zu vergleichen.
Unter literarischen Gesichtspunkten hat Tom Blees sicherlich die Nase vorn: Während „Thorium“ wie schon gesagt aus Vorlesungsskripten hervorgegangen zu sein scheint, erzählt „Prescription“ eine spannende Story, verfeinert mit klassischem amerikanischem Humor der durchaus an Altvordere wie Mark Twain oder James Thurber erinnert. Hierzu passend ist auch der Ansatz von Hargraves eher pragmatisch, der von Tom Blees visionär. Viele werden sagen, pragmatische Ansätze hätten den großartigen Vorteil, realistischer zu sein. Das mag sein. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein so einschneidender historischer Schritt wie es das Erklettern eines höheren Energieflussdichtenniveaus – eben der Übergang vom fossilen Zeitalter ins Aktinidenzeitalter – ist, ohne eine große Prise Vision überhaupt gelingen kann.
Warum haben Computer sich durchgesetzt, obwohl zwischen 1980 und 2000 unzählige Journalisten, Pädagogen, Psychologen und konservative Politiker die Atarikalypse heraufdämmern sahen und deshalb eifrig Propaganda gegen sie machten? Gewiss nicht nur, weil Mikroelektronik Moore’s Law folgend immer billiger herzustellen ist – dies hätte den Computerproduzenten überhaupt nichts genützt, wenn es keinen Markt dafür gegeben hätte, wenn mit anderen Worten die Leute auf den vor den verderblichen Folgen „gewaltverherrlichender Spiele“ warnenden CDU-Gemeinderat, auf die vor Technophobie schlotternde Geschichtslehrerin gehört und statt William Gibson, Douglas R. Hofstadter und Clifford Pickover wieder Karl May gelesen hätten! Weshalb taten sie das nicht?
Rund um die Computer hatte sich eine neue Kultur gebildet, eine Kultur kreativer Technikfreaks, die die Möglichkeiten der neuen Maschinen ausloteten, im technischen wie auch im künstlerischen und philosophischen Sinne. Sie sorgten dafür, dass es einen Markt für Computer jenseits von Forschungslabors und Unternehmen gab und unterstützten aktiv die technische Weiterentwicklung – ein selbstverstärkender Prozess, der den Anbruch des digitalen Zeitalters katalysierte.
Egal, ob die Einführung von Brutkernreaktoren auf sozialistischem oder kapitalistischem Wege (oder mittels irgendeiner Mischform) erfolgen wird, egal ob der U-Pu- oder der Thu-U-Zyklus oder beide genutzt werden, egal ob fester oder flüssiger Brennstoff mit oder ohne separatem Brutmantel zum Einsatz kommt – diese Detailfragen lassen sich diskutieren, bis die Kühe heimkommen – es wird keine Entropiewende hin zur nächsthöheren Energieflussdichtenebene geben wenn keine Kultur vorhanden ist, die diese Entwicklung willkommen heißt und mitgestaltet.
Der Betreiber eines Zementwerks wird es sich zweimal überlegen, ob er ein LFTR-Modul anschafft, wenn er fürchten muß, dass nach wenigen Jahren eine grüne Regierung an die Macht kommt, die den Betrieb des Moduls verbietet oder mit so hohen Steuern belegt, dass er unrentabel wird. Doch auch wenn immer noch da und dort sich Köpfe zeigen, die den Niedergang der Kultur dank Computer und Internet bejammern – erst kürzlich war ich bei einer Lesung des Autors Viktor Martinowitsch, der mit tief melancholischem Augenaufschlag klagte, das World Wide Web sei der Tod jeglicher literarischer Bildung (meine weigert sich aus irgendwelchen Gründen stur, den Löffel abzugeben) – heute muß niemand fürchten, irgendjemand käme auf den Gedanken, Computer zu verbieten: eben weil eine globale digitale Kultur existiert, die dafür sorgte, dass das neue Medium zum integralen Bestandteil der gesamten menschlichen Kultur wurde.
Ich möchte das Buch von Robert Hargraves ausdrücklich empfehlen, denn es ist eine große Schatztruhe randvoll mit technischen, physikalischen und ökonomischen Informationen, abgerundet durch einen ausführlichen Quellenteil mit Webadressen und zwei Paper: „Liquid Fluoride Thorium Reactor – an old idea in nuclear power gets reexamined“ aus dem American Scientist (2010) von Robert Hargraves und Ralph Moir (der auch Koautor des Buches ist), und „Underground Power Plant based on Molten Salt Technology“ aus Nuclear Technology (2005) von Ralph Moir und Edward Teller.
Ich sehe aber auch einen Schwachpunkt, der in den Überschriften von Kapitel 3 und 8 deutlich wird: Aus einer „unsustainable World“ soll eine „sustainable World“ werden, es wird das in Deutschland zur Zeit nicht nur umgehende, sondern quasi an jeder Straßenecke herumlungernde Gespenst der Nachhaltigkeit beschworen, wegen der „Grenzen des Wachstums“, der „begrenzten Tragfähigkeit der Erde“ usw.
So sehr ich Dr. Alvin Weinberg, den Leiter des amerikanischen Flüssigsalzreaktorprojektes in den 1960ern, respektiere – in einem muß ich ihm widersprechen: Die Menschheit strebt keinem „asymptotischen Zustand“ zu, in dem sich nichts mehr ändert, denn sie ist nicht irgendeine x-beliebige Lebensform die ihre ökologische Nische ausfüllt und sich dann auf die blinden Kräfte der Evolution verlässt, sondern eine extrop wachsende Intelligenz, die soeben die ersten vorsichtigen Expeditionen fort von der sicheren Küste ihres Planeten in den kosmischen Ozean unternimmt.
Kirk Sorensen, von Haus aus Raumfahrtingenieur, projektierte den LFTR zuerst als Energiequelle für eine Mondbasis, der Einsatz auf der Erde war ein Nachgedanke. Er sollte darauf achten, seine ursprünglichen Pläne nicht aus den Augen zu verlieren. Die Extropiekultur, die benötigt wird, um den Anbruch des Aktinidenzeitalters zu ermöglichen, könnte sehr gut entstehen, indem die memetischen Wolken von Raumfahrtbewegung und Kernkraftbewegung kombiniert werden, so wie es physikalisch und philosophisch sinnvoll ist. Wenn die Menschen sich trauen, die von der Nachhaltigkeitsdoktrin eng abgesteckten „Grenzen des Wachstums“ und damit auch die Grenzen des kleinen Planeten Erde zu überschreiten, dann werden sich moderne Kernreaktoren als Energiequelle ganz von allein durchsetzen – sei es nach den Konzepten von Robert Hargraves oder nach denen von Tom Blees… oder auf eine völlig andere Art und Weise, die niemand vorhergesehen hat.
8 Antworten
Zu Plasma Recycling siehe auch etwa UCLA Verfahren zur Plasma-Isotopenanreicherung.
Bei diesen Sachen profitiert man natürlich auch von Plasmaphysikalischen Erkenntnissen aus der Fusionsforschung.
Ich habe auf ScSk diesen Beitrag empfohlen.
http://www.science-skeptical.de/blog/lesetipp-buchrezension-thorium-energy-cheaper-than-coal/0012873/
Vielen Dank!! 😀
Danke für den interessanten Beitrag.
Der Flüssigsalzreaktor ist sicher die beste Lösung zur Verwertung von „Atommüll“ und natürlich eine effiziente Energiequelle. In anderen Beiträgen und anderen Blogs wurde aber immer auf die enormen Schwierigkeiten bei der Herstellung des Reaktors hingewiesen. Ein Material für so hohe thermische Anforderungen müsste erst noch erfunden werden. Kannst Du auch dazu was sagen?
MfG
Kassiber
Für den Reaktor selbst wird die Nickellegierung Hastelloy N vorgeschlagen, für die Salzleitungen Stainless Steel 316 (sie Buch S. 234, 235). Von Grund auf erfunden werden müssen die Legierungen nicht, aber es muss bei der Entwicklung des Reaktors untersucht werden, wie sie sich unter langfristiger (> 60 Jahre) neutronischer und/oder thermischer Belastung verhalten, und ob es sich empfiehlt, sie zu modifizieren etc.
Alternativ könnten auch Kohlefaserverbundwerkstoffe eingesetzt werden! Diese kommen jedoch nur für einen thermischen Reaktor in Frage, da Kohlenstoff die Neutronen moderiert.
Danke für die Antwort, hört sich gut an.
Wenn die Ökosozialisten ihren „9. November“ erlebt haben wirds auch was mit dem MSR.
MfG
Kassiber
Viele Punkte, die hier genannt wurden, treffen in gleicher Weise auf den DFR zu. Hargraves kannte den wohl noch nicht, macht aber gegenüber seinem Konzept eine Reihe von besseren Lösungsansätzen deutlich. Schade, dass hier nicht erkennbar weiter geforscht wird.
Ein weiteres Argument, auf das NukeKlaus in Bezug auf serienproduzierbare Reaktoren hinwies: In den USA und sich auch sonst überall, sind nicht nur die reinen Herstellungskosten von Belang, sondern vor allem die Zulassungskosten und dafür erforderlichen Zeiten machen den Bau eines KKW sehr teuer. Bei einer Serienfertigung würden sich vor allem diese Kosten drastisch verringern.