Es schadet nichts, in einem Entenhof geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!
— Hans Christian Andersen: Das hässliche junge Entlein
Jede Zeit hat ihre eigenen Schreckgespenster. In vergangenen Jahrhunderten fürchtete man sich vor Dämonen, Hexen, Geistern und anderen Unholden, die im Dunkeln – bei dem es sich konkret um die bis zu Beginn der Neuzeit vorhandenen geschlossenen mitteleuropäischen Urwaldformationen handelte – lauern sollten. Heutzutage zittern immer noch viele vor Unholden, nur heißen diese nun anders: Gentechnik, allerlei Lobbys, Islam und eben insbesondere Atommüll. Wollte man früher in einem Theatersaal Panik auslösen, so rief man „Feuer!“. Heute müsste man wohl stattdessen „Atommüll!“ rufen.
Die Furcht vieler Menschen vor dieser Substanz – eigentlich ein Substanzgemisch – scheint weniger auf Kenntnissen über ihre Natur zu beruhen, sondern darauf, dass man ihr wundersam verderbensbringende Eigenschaften zuspricht, ähnlich der dunklen Magie im Mittelalter, mit dem Unterschied, dass man damals Zaubersprüche allenfalls dafür verantwortlich machte, dass die Kuh krank oder das Brunnenwasser schlecht wurde, Atommüll heute dagegen als geradezu planetare Bedrohung angesehen wird, mit der Fähigkeit, sämtliches Leben auf der Erde ins Verderben zu stürzen.
Man erzählte mir vor einiger Zeit von einer jungen Frau, die „vollberufliche Antiatomdemonstrantin“ sei, und daher ihr Leben auf der Basis von Couchsurfing und Supermarktabfällen führe. Diese Dame hatte wohl, nicht zu Unrecht, bemerkt, dass wir Westeuropäer einen beachtlichen Abfallstrom von „überschüssiger“ Nahrung hinterlassen – dass wir mit anderen Worten völlig brauchbares Essen einfach wegwerfen. Der Gedanke, diese Nahrungsmittel zu nutzen, ist keinesfalls sinnlos. Dieses Prinzip des Recyclings auf den Inhalt der Atommülltransporte, die besagte junge Frau zu blockieren sich zum Lebensziel gesetzt hat, anzuwenden, scheint eine noch nicht so verbreitete Idee zu sein.
Viele Leute empfinden bei dem Gedanken, Lebensmittel aus dem Supermarktmüllcontainer zum Kochen zu nutzen, Unbehagen. Andere wie eben jene Berufsdemonstrantin haben dagegen gemerkt, dass die „Abfälle“ problemlos genießbar sind. Könnte es sein, dass diese Umwertung des Mülls von etwas Ekligem, Unangenehmem zu einem guten Rohstoff auch auf den Atommüll anwendbar ist?
Wenn ihr die vorangehenden Artikel auf unserem Blog schon gelesen habt, kennt ihr bereits die Antwort: Für Schnelle Reaktoren ist der Abfall von Leichtwasserreaktoren ein exzellentes Futter – denn er besteht fast ausschließlich aus Uran 238, welches sie verbrennen können, mit den in Spuren vorhandenen Transuranen als Katalysator. Der einzige wirkliche Abfall sind die kurzlebigen Spaltprodukte, aber selbst diese enthalten noch allerlei anderweitig nutzbare Elemente, u. a. Xenon (Raumfahrt), Neodym (Windkraftanlagen), Molybdän-99 (medizinische Diagnostik).
Leichtwasserreaktoren sind noch wesentlich mäkeliger als ein übersättigter Mensch, der ein halbes Schnitzel unangerührt zurückgehen lässt: Da sie noch nicht einmal ein Prozent der Uranressource nutzen, ähneln sie eher jemandem, der eine Flasche teuren Wein kauft, einen winzigen Schluck davon trinkt, und den Rest in den Ausguss schüttet.
Während das Schnitzel jedoch nach wenigen Tagen ungenießbar und der Wein im Ausguss unwiederbringlich verloren ist, bleiben LWR-Brennelemente und abgereichertes Uran als Abfallstrom aus Anreicherungsanlagen fast beliebig lange weiternutzbar. Alle Länder, die Kernkraftwerke betreiben, sitzen auf einer ungeheuren Energiequelle, die jedem Ölfeld überlegen ist. Sobald Schnelle Brüter ans Netz gehen, verwandelt sich jedes Atommülllager in eine Energieschatztruhe.
Manchmal taucht der Vorschlag auf, man möge statt „Atommüll“ ein treffenderes Wort wählen, das weniger negativ belastet ist – schließlich stimmt weder der erste Wortteil „Atom-„: man müsste physikalisch korrekterweise „Kern-“ sagen – noch der zweite: „-müll“. Im Englischen ist daher auch der Begriff „Spent Nuclear Fuel“ gebräuchlich.
Gut möglich, dass in einer von Schnellen Brütern als Energiequelle dominierten Zukunft niemand mehr von „Atommüll“ reden wird. Man wird nicht mehr davon besessen sein, ihn um jeden Preis loswerden zu wollen, da man nun mit ihm arbeiten und wirtschaften kann. Je nach Konfiguration können Schnelle Reaktoren die Menge an Transuranen steigern, gleichhalten oder senken. Je nachdem, ob neue Transurane – zum Starten weiterer Reaktoren – benötigt werden oder nicht können sie gezielt nachproduziert oder zerstört werden. Der ehemals so genannte „Atommüll“ wird dadurch zu einem nützlichen Industrieprodukt, dessen Vorräte gezielt manipulierbar sind.
Aber ich habe mich entschlossen, vorläufig weiterhin „Atommüll“ zu sagen. Manchmal braucht es einen leichten Schockeffekt, um Menschen wachzukitzeln. Und der Satz „Ich mag Atommüll“ hat genau den Schockeffekt, der nötig ist, um den einen oder anderen aufschrecken und feststellen zu lassen, dass das hässliche graue Küken ein Energieschwan ist, von dessen Flügeln Elektrizität und Wärme sprühen.