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Noch gefährlicher als angenommen: die ARD und ihre Atom-Berichterstattung

»Gefährlicher als bislang bekannt« sei die »marode Atomanlage« Tihange 1 in Belgien, behauptet die ARD. Unsere Autorin informiert über Precursor-Events und stellt kritische Fragen an die stets gleichen Urheber alarmierender ARD-Atommeldungen, insbesondere an den »Energieexperten« Jürgen Döschner.

In der ARD gibt es eine Art Atom-Monopol. Das bedeutet, dass so gut wie jede Nachricht, die in diesem öffentlich-rechtlichen Verbund zum Thema Kerntechnik über den Sender geht, aus ein und derselben Quelle stammt: dem WDR und seinem (Selbstbezeichnung) »Energieexperten« Jürgen Döschner. Döschner ist ein Journalist jener Schule, die sich, frei nach Hanns-Joachim Friedrichs, mit jenen Sachen gemein macht, die sie für gut befunden hat. Er wurde sozialisiert in einer Zeit, als man zwischen Gut und Böse noch klar unterscheiden konnte.

Gut waren die kritischen und widerständigen Grünen, die aus Minderheitenpositionen und Graswurzelbewegungen heraus das Establishment der Kohl- und Flick-Ära herausforderten und der geistig-moralischen Wende die »Energiewende« entgegensetzten – damals noch ein neues Wort. Gut war eine Berichterstattung, welche der Großindustrie investigativ zu Leibe rückte. Überflüssig zu sagen, was damals als schlecht galt: Waldsterben war schlecht. Bleibenzin war schlecht. Atomkraftwerke waren schlecht. Heute ist das Mainstream quer durch die Parteien. Das Benzin ist entbleit, der Wald gerettet, und die Kernkraftwerke zur Strecke gebracht. Der deutsche Politiker von Grün bis CSU schaltet vor jede Aussage über die Kernenergie eine Verwerflichkeits-Präambel.

Doch die süße Zeit, als man noch ein einsamer Kämpfer fürs Gute war, gegen die Übermacht der Bösen mit den fetten Kassen, die hat den Herrn Döschner süchtig gemacht. Und daher hängt er an seiner Anti-Atom-Berichterstattung wie der Quartalssäufer am vierteljährlichen Alkohol-Exzess. Mangels deutscher Atomanlagen, die entweder abgeschaltet sind oder unspektakulär und störfallfrei ihren befristeten Dienst tun, hat sich Döschner eine neue Hassliebe gesucht, der er beständig hinterherstalkt: Die Kernenergie in Belgien. Er kann sich als Verdienst anrechnen, wesentlich zur behördlichen Anschaffung von Jodtabletten-Vorräten im Raum Aachen beigetragen zu haben. Denn in den Schlagzeilen des Herrn Döschner, die den öffentlichen Raum Nordrhein-Westfalens beschallen, muss das Wort »Super-GAU« mindestens einmal vorkommen, und am liebsten fragt er gleich: »Wann knallt’s?«

Neue Atom-Skandale müssen her!

Lange Zeit hatte Döschner es mit den »maroden« Reaktordruckbehältern von Tihange 2 und Doel 3, die er zu »Bröckelreaktoren« deklarierte. Bereits mit dieser Wortwahl signalisierte er, dass er von kerntechnischen oder materialwissenschaftlichen Zusammenhängen keine genaueren Vorstellungen hat. Wer wissen will, was es mit diesen Problemen rund um Wasserstoff-Flocken, Sprödbruch-Kennlinien und vorgeheiztes Notkühlwasser wirklich auf sich hat, kann sich hier informieren.

Nun ist es stiller geworden um Tihange 2 und Doel 3, denn die belgischen Behörden halten das Thema nach umfänglichen Prüfverfahren für umfänglich diskutiert, entschieden und abgeschlossen. Für den Quartalsbeitrag Jürgen Döschners zur deutschen Atom-Angstkultur taugen sie also derzeit nicht. Daher kam ein kürzliches Schreiben der belgischen Aufsichtsbehörde FANC wie gerufen, das dem WDR zugespielt wurde. In ihm geht es um die Anlage Tihange 1, wie ihre Nachbarblöcke ein Druckwasserreaktor französischen Typs. In dem Schreiben wurde dargelegt, dass es in dieser Anlage binnen zwei Jahren zu einer Häufung von sogenannten Precursor-Ereignissen gekommen sei.

Was sind Precursor-Ereignisse?

Precursor-Ereignisse (precursor events, precursor incidents) sind Störungen oder Störfälle in einem Kernkraftwerk, welche im Zusammenspiel mit etlichen andern Folgeereignissen zu schweren Brennelementschäden führen könnten. Precursor-Analysen wiederum sind ein Spezialfall probabilistischer Sicherheitsanalysen, also auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen beruhende Einschätzungen, mit denen man Schwachstellen komplexer, eng gekoppelter technischer Systeme ausfindig machen kann. Wenn beispielsweise bei einer Wiederkehrenden Prüfung eine Komponente eines Sicherheitssystems, etwa eine Notkühlpumpe oder ein Druckspeicher, sich als nicht verfügbar erweist, wird ausgehend von diesem konkreten Ereignis, unter Einbeziehung des möglichen Versagens anderer Systeme, die man für die Gewährleistung der Unterkritikalität des Reaktors und die sichere Nachzerfallswärme-Abfuhr benötigt, eine Wahrscheinlichkeit für eine Kerngefährdung errechnet. Nur wenn diese größer oder gleich 10-6 beträgt (das heißt die Wahrscheinlichkeit einer Kerngefährdung bei eins zu einer Million liegt), spricht man von einem Precursor, einem Vorläufer-Ereignis.

Stellt man eine Langzeitanalyse an – beobachtet man also die Meldung von Vorläufer-Ereignissen über einen längeren Zeitraum hinweg, dann können Häufungen von Precursors in ein und derselben Anlage tatsächlich einen Hinweis auf ihr Sicherheitsniveau geben. Das ist gleichwohl noch keine Aussage über einen konkreten, gegenwärtigen, gar gefährlichen Anlagenzustand. Um die genannte generalisierende Aussage zu machen, braucht man längere Zeitreihen und genauere Informationen darüber, welche Systeme betroffen waren, ob es Clusterungen gab, wie hoch die Schadenswahrscheinlichkeiten im Einzelnen beziffert wurden. Experten, die sich mit probabilistischer Sicherheitsanalytik beschäftigen, werden aufgrund des hohen Komplexitätsgrades ihres Geschäfts häufig missverstanden. So wurde ihnen in den 1970er Jahren, als diese Berechnungen dank immer besserer Rechnerleistungen aufkamen, angesichts der genannten Zahlenverhältnisse vorgeworfen, sie rechneten schwere Unfälle »klein« .

Dabei ist die Philosophie der PSA (Probability Safety Analysis) gerade anders – sie hält jeden Unfall prinzipiell für möglich und lediglich für eine Frage der Zeit. Wenn eine PSA zu dem Schluss kommt, ein bestimmter Unfall habe eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, dann sagt sie damit keinesfalls aus, es käme erst in einer Million Reaktorbetriebsjahren zum Unfall, wie viele Atomkraftgegner unterstellen. Sie schließt nur nicht aus, dass es morgen, in viertausend oder in einer Million Reaktorbetriebsjahren dazu kommen könnte. Aber sie schließt eindeutig aus, dass es dreimal oder zwanzigmal binnen einer Million Reaktorbetriebsjahren dazu kommen könnte.

Im Falle der „precursor incidents“ kommt hinzu, dass Unfälle in einer Anlage nicht notwendigerweise Vorläufer in derselben Anlage gehabt haben müssen – wohl aber in einer anderen Anlage, mitunter mit großem zeitlichen Abstand der Ereignisse. So gilt ein glimpflich abgelaufener Störfall im schweizerischen Kernkraftwerk Beznau Anfang der 1970er Jahre als Vorläufer des Kernschmelzunfalls von Three Mile Island 2 im Jahr 1979, und auch der Reaktivitätsunfall mit Leistungsexkursion in Tschernobyl 4 1986 hatte einen Vorläuferstörfall, der elf Jahre vorher im KKW Leningrad 1 abgelaufen war. Diese wichtige Information wurde aber im System der sowjetischen Kernenergiewirtschaft nicht analysiert und dann weitergegeben, sondern analysiert – und geheimgehalten. Auch die Anlagenfahrer von TMI 2 hatten 1979 keinerlei Kenntnis von dem Ereignis in Beznau. Aus diesem Grunde gibt es in der Kernenergiewirtschaft heute internationale Störfalldatenbanken und Weiterleitungsmeldesysteme: So können sicherheitstechnisch bedeutsame Ereignisse möglichst rasch auf ihre Relevanz für andere Anlagen überprüft werden.

Die Tagesschau und die üblichen Verdächtigen

Gleichwohl machte die ARD-Tagesschau aus dem vorliegenden Befund die Schlagzeile »Tihange-1 gefährlicher als bislang bekannt«. Das unterstellt, es sei bereits vorher bekannt gewesen, dass die Anlage »gefährlich« sei; nun sei sie eben »gefährlicher«. Das nicht für atomfreundliche Aussagen bekannte SPD-geführte Bundesumweltministerium beeilte sich daher klarzustellen, dass es sich hier um eine simplifizierende Fehlinterpretation handle: »In der aktuellen Berichterstattung entsteht der Eindruck, dass man auf Grundlage der Anzahl von sogenannten Precursor-Ereignissen auf die Sicherheit einer Anlage schließen könne. Das ist aber nicht der Fall. Sie sind vielmehr probabilistisch durchgerechnete Anlässe, die dabei helfen, sich ein bestimmtes Szenario genauer anzusehen. Diese sehr komplexen Precursor-Berechnungen sind ein Element einer umfassenden Sicherheitsarchitektur. Die Wahrscheinlichkeitsberechnungen können helfen, weitere Optimierungen an einem lernenden Sicherheitssystem dieser oder anderer Anlagen vorzunehmen.«

Der für den ARD-Beitrag verantwortliche Jürgen Döschner zitiert zwei Experten, die das ganz anders sehen: alte Bekannte, die in fast jedem Döschner-Beitrag auftreten und die unschwer als in die Jahre gekommene Vertreter jener grünen Gegen-Expertise zu identifizieren sind, welche es erfolgreich von den Bauzaun-Protesten in die Ministerien und staatlichen Fachgremien schaffte. Manfred Mertins ist ein ehemaliger Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und tritt häufig als Gutachter für die Grünen und andere atomkritische Verbände auf. Der Ingenieur Dieter Majer war nach seinem erfolgreichen Marsch in die Institutionen Ministerialdirigent unter den Umweltministern Trittin (Grüne) und Gabriel (SPD) und wirkte dort als Leiter der Abteilung kerntechnische Sicherheit. Auch er machte nie einen Hehl aus seinen Überzeugungen. Bei der Stilllegung des KKW Krümmel nach einem Transformatorbrand im Sommer 2007 war Majer eine der treibenden Kräfte, welche wider besseres Wissen Zweifel und Angst über einen ernsthaften Störfall streuten – vermutlich sollte das der Profilierung des SPD-Umweltministers Gabriel in einer CDU-geführten Regierung dienen. Der SPIEGEL, der den Hintergrund dieser Geschichte recherchierte, konstatierte seinerzeit, dass alle Beteiligten von Anbeginn an wussten, dass der Brand auf die Sicherheit der Anlage keinerlei Auswirkungen gehabt hatte und dass das Betriebspersonal richtig gehandelt und die Anlage sicher abgefahren hatte. Trotzdem wurde die Angelegenheit zum Kriminalfall und gefährlichen Nuklearstörfall aufgeblasen, was das Ende für Krümmel bedeutete. Nach Beendigung seiner Ministerialkarriere fungierte Dieter Majer, wie sein Experten-Kollege Mertins, als Berater atomkritischer Initiativen, etwa als »gemeinsamer Beobachter von Luxemburg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland«, jener Länder und Bundesländer, die sich für die Stillegung des französischen KKW Cattenom starkmachen.

ARD-Berichterstattung: Panikmache statt Sachinformationen

Döschners Atomexperten bieten keine fachlichen Hintergründe zum besseren Verständnis und zur Einordnung des Schreibens, sondern liefern die bestellte Panikorchester-Musik für einen Bericht, dessen Ergebnis vermutlich schon feststand, bevor sie überhaupt befragt wurden. Mertins lässt sich mit folgenden Worten zitieren: »Precursor kann man schon als einen Indikator für den Sicherheitszustand der Anlage einstufen«, und begibt sich mit dieser vereinfachenden Aussage in Widerspruch sowohl zu den Papieren seines Ex-Arbeitgebers GRS als auch zu den Aussagen des BMU. Dieter Majer, Gabriels Mann fürs nukleare Grobe unter Rot-Schwarz, tönt unisono. Er sieht in den Befunden ein Anzeichen, »dass die Anlage sicherheitstechnische Schwachstellen hat.«

Was bleibt zu sagen? Das Kernkraftwerk Tihange hat noch einen dritten Block, und wir erwarten, dass auch diese bislang noch nicht gewürdigte Anlage bald in den Fokus des Herrn Döschner gerät. Er muss nur noch einen Anlass finden – sagen wir, in einem Vierteljahr? Zweifelsfrei feststellbar ist jedoch, dass die ARD mit den Standards einer sachlichen und vorurteilsfreien öffentlich-rechtlichen Berichterstattung offensichtlich ein Problem hat, wenn sie Themen der Energieversorgung, insbesondere der Kernenergie, anspricht. Würde der WDR dieselben Qualitätsmaßstäbe, die er bei seiner Atom-Berichterstattung setzt, bei der Diskussion über den Familiennachzug von Flüchtlingen anlegen, dann dürfte er ausschließlich Experten von Pegida, AfD und NPD zu Wort kommen lassen, und müsste mit Schlagzeilen von »Asylantenflut« und »Volkstod« den baldigen Super-GAU Deutschlands beschwören. Dieses Verständnis von Journalismus ist nur eines: gefährlicher als angenommen.

Literatur


Titelfoto: Das belgische Kernkraftwerk Tihange. Foto: Hullie, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Achse des Guten.


Über die Nuklearia

Die Nuklearia ist ein gemeinnütziger, industrie- und parteiunabhängiger eingetragener Verein, der die Kernenergie als Chance begreift und darüber aufklären will. Wir sehen die Kernkraft als besten Weg, die Natur und das Klima zu schützen und gleichzeitig unseren Wohlstand zu erhalten. Denn Kernenergie ist emissionsarm, braucht sehr wenig Fläche und steht jederzeit zur Verfügung. Unser Ansatz ist wissenschafts- und faktenbasiert, unsere Vision humanistisch: erschwingliche und saubere Energie für alle.

4 Antworten

  1. Wie so oft in unserem Bezahl-Fernsehen bringen uns diese „Journalisten“ eine einfache Lüge leichter bei, als eine komplizierte Wahrheit.
    Tapfer bleiben, ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, das sich die Wahrheit durchsetzt.

  2. Danke für die Erläuterungen zu „Precursor-Ereignissen“, nach denen ich als Laie zumindest ein bisschen einschätzen kann, was es damit im Zusammenhang mit dem besagten belgischen KKW auf sich hat.

    Ich sah eher zufällig einen großen Teil des Beitrags im ARD Magazin „Monitor“ und habe ihn mir dann noch einmal in der Mediathek angesehen, um zu verstehen, was Autor und interviewte Experten dermaßen in Panik versetzt hatte.
    Verpasst hatte ich nur einen kleinen Teil des Anfangs. Die Frage was ein „Precursor-Ereignis“ überhaupt genau ist und um welche Ereignisse konkret es sich handelte wurde zu meinem Erstaunen meines Erachtens nicht hinreichend erklärt. Herausgestellt wurde, dass es auch in Tschernobyl so ein Ereignis gegeben hat und in Tihange 1 sehr viele dieser Ereignisse stattgefunden hätten.
    Statt vernünftiger Information blieb dem Zuschauer nur Spekulation; ich selbst hatte im Nachhinein merkwürdige Gedankengänge. Tschernobyl als Druckröhrenanlage – wo sind da die Schnittmengen zu dem belgischen Reaktor? Gibt es Probleme mit den Steuerstäben? Werden etwa in belgischen Kernkraftwerken unter Zeitdruck gefährliche Tests durchgeführt, während deren der Anlagenzustand unkar ist? Letzteres war ja Auslöser der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, soweit ich es verstanden habe.
    Vermutlich wurde bei den meisten Zuschauern in erster Linie ein Gefühl der Verunsicherung und Angst erzeugt.
    Ich selbst dachte mir am Ende: Schau doch mal die Tage bei Nuklearia rein, vielleicht findet sich dort Erhellendes zum Thema. Et Voila …
    Also nochmal: Vielen Dank!

    Nur eine formale Detailkritik: Der Link zum WDR-Beitrag verweist zu einem Nuklearia-Artikel – 😉 Ich selbst beziehe mich hier drauf: http://www.ardmediathek.de/tv/Monitor/Atomare-Zeitbombe-Der-belgische-Pannenr/Das-Erste/Video?bcastId=438224&documentId=49699420

  3. Gestern nahm ich an der Hauptversammlung des Landesverbandes BW Bürgerinitiativen gegen Windkraftanlagen in Natur- und Kulturlandschaften e.V. teil. Sehr sachkundige Vetreter vieler BI berichteten von „mafiösen Strukturen“ zwischen Behörden, den Grünen, „Gutachtern“, Projektierern, Investoren und Windkraftindustrie.
    Die Medien begleiten alles mit größtem Wohlwollen und unterdrücken „Störmeldungen“, Leserbriefe und Pressemitteilungen entgegen jeglichem Pressekodex. Die Sache mit Döschner und seinen willfährigen Handlangern ist noch leicht überschaubar, wirft aber ein trübes Licht auf ideologisierte Medien, die obendrein von Zwangsbeiträgen nicht schlecht leben. Statt freien Medien haben wir Lückenmedien, die schwerpunktmäßig ihre bevorzugte Ideologie verbreiten. In totalitären Strukturen nennt man das Gehirnwäsche.

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