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Braucht das Leben Strahlung?
Braucht das Leben Strahlung?
Veröffentlicht am 2015-11-22
Von Rainer Klute
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Gastbeitrag von Dr. Klaus-Dieter Humpich

Dieser Beitrag ist eine von Rainer Klute überarbeitete Fassung des ursprünglich bei nukeKlaus.de erschienenen Artikels.

Die Erkenntnisse über die Wirkung niedriger Strahlungsdosen schreiten immer weiter voran. Die radikalste Fragestellung ist dabei die Frage nach dem Verhalten von Zellen bei Abwesenheit von ionisierender Strahlung. Die Ergebnisse sind verblüffend. Aber der Reihe nach …

Das LNT-Modell

In den 1950er-Jahren einigte man sich für den Strahlenschutz weltweit darauf, zwischen Strahlendosis und Wirkung einen linearen Zusammenhang ohne einen Schwellwert anzunehmen (Linear No-Threshold model; LNT). Dieses Modell ist simpel und damit leicht anwendbar: Man unterstellte, daß die biologischen Schäden (gemeint ist Krebs), die durch ionisierende Strahlung (umgangssprachlich durch Radioaktivität) ausgelöst werden, direkt proportional zur Dosis sind: Die mathematische Funktion ist eine einfache Gerade mit der Steigung 0,05/Sv. Etwas anschaulicher ausgedrückt heißt das, wenn man 100 Menschen einer Dosis von 1 Sv (Sievert) aussetzt, erkranken davon fünf Menschen (zusätzlich) an Krebs. Mehr steckt nicht dahinter, und damit fangen schon die Schwierigkeiten an.

Wie ist man zu dieser einfachen Zahl gekommen? Hauptsächlich durch die Auswertung der Opfer der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Man hat zehntausende Menschen über Jahre beobachtet und ihre Erkrankungen dokumentiert. Das war der einfache Teil der Aufgabe. Wesentlich schwieriger war schon die Ermittlung der individuellen Strahlendosen, denn diese Menschen haben natürlich keine Meßgeräte getragen. Hinzu kamen noch jeweils verschiedene Lebensumstände, Vorerkrankungen etc. Wenn man nun jeden einzelnen Fall in einem Diagramm (Krebserkrankungen über Dosis) aufträgt, kann man streng genommen keinen Punkt eintragen, sondern muß eher einen Klecks verwenden: Weder ist die genaue Dosis zu ermitteln, noch sind alle Krebsarten gleich, noch kann man sonstige Belastungen (z. B. krebserregende Chemikalien, Umwelteinflüsse, genetische Prägungen etc.) genau erfassen.

In solchen Fällen helfen nur die Methoden der Statistik. Vereinfachend gesagt braucht man eine Wolke aus möglichst vielen Fällen, die möglichst eng zusammenliegen. Sieht das sich ergebende Band nach einer Geraden aus, kann man in guter Näherung eine solche hindurchlegen und deren Steigung bestimmen.

Hier ergibt sich aber das Problem, welches seit über 80 Jahren zu heftigsten Diskussionen auch in der Fachwelt führt: Im unteren Teil (kleine Dosen und damit eine geringe Anzahl von Krebsfällen) gibt es kaum Punkte und diese wenigen streuen auch noch sehr stark. Es ist damit äußerst fragwürdig, den gesamten Bereich – von keiner meßbaren Wirkung bis zum garantiert kurzfristig eintretendem Strahlentod – durch ein und dieselbe Gerade nachbilden zu wollen. Schon die geringe Anzahl zusätzlicher Krebsfälle von den ohnehin auftretenden trennen zu wollen, ist eine schier unlösbare Aufgabe. Hier rächt sich die Statistik: Sie arbeitet stets nur mit Wahrscheinlichkeiten. In dem vorherigen Zahlenbeispiel kann man weder voraussagen, welche fünf Personen von den betrachteten 100 Personen Krebs bekommen, noch ob es exakt fünf Fälle sind. Nur wenn man sehr, sehr viele Menschen mit einem Sievert bestrahlen würde, würde sich die Anzahl der zusätzlichen Krebsfälle (nach diesem Modell!) der Zahl von fünf Prozent annähern.

Schwellwert oder nicht?

Man bezeichnet einen Wert als Schwellwert, wenn sich ab diesem Wert der Zusammenhang bei einem Modell wesentlich ändert. Für einen Ingenieur ist es nichts Ungewöhnliches, Meßreihen z. B. abschnittsweise durch unterschiedliche Geraden anzunähern.

Im Arbeitsschutz ist es üblich, für Giftstoffe Schwellwerte zu definieren. Üblicherweise sind dies Dosen, bei denen man auch über ein ganzes Arbeitsleben hinweg keine Schädigungen feststellen kann. Dahinter steckt eine Alltagserfahrung: Nicht jeder Umgang mit einem Stoff führt sogleich zu einem Schaden. Andererseits führt ein Zuviel – bei jedem Stoff – irgendwann zu irgendwelchen Schädigungen.

Bis zur Politisierung der Strahlung durch die Atombomben war man auch mit ionisierender Strahlung sehr erfolgreich derart pragmatisch umgegangen. Man hatte schon wenige Jahre nach der segensreichen Entdeckung der Röntgenstrahlung festgestellt, daß diese zu Erkrankungen beim medizinischen Personal führen konnte. Man analysierte die Fälle und definierte einen zulässigen Schwellwert für den Arbeitsschutz.

Energie und Leistung

Schon jedem Schüler sollte der Zusammenhang von Energie und Leistung vertraut sein. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich dieselbe Energie konzentriert in Bruchteilen einer Sekunde aufbringe (hohe Leistung) oder über Stunden hinweg (geringe Leistung). Eindrucksvolles Beispiel hierfür ist ein Laserstrahl: Eine relativ geringe Energie reicht aus, um zwei Stahlplatten miteinander zu verschweißen. Der Trick ist, die gesamte Energie in einem sehr kurzzeitigen Blitz zu senden. Über Stunden angewendet, würde sie den Stahl nicht einmal zum Glühen bringen.

Warum glaubte man nun, diese Erfahrungstatsachen bei der ionisierenden Strahlung außer Kraft setzen zu können? Es war schlicht ein unvollständiges und damit leider falsches Verständnis der biologischen Zusammenhänge. Man hatte erkannt, daß bei der Zellteilung die DNA kopiert und damit die Erbinformationen weitergegeben werden. Man wußte, daß bereits ein einziges Partikel einen DNA-Strang zerschlagen konnte. Man glaubte, wenn nun dieser Fehler beim Kopieren an die Tochterzelle weitergegeben würde, dann müßten die Fehler irgendwann so häufig sein, daß eine Krebszelle entstünde. Eine übervorsichtige oder abstruse Vorstellung – ganz nach Standpunkt des Betrachters. Doch schon der gesunde Menschenverstand sagt einem, daß es einen gewaltigen Unterschied bedeutet, ob man eine Flasche Schnaps über ein Jahr verteilt trinkt oder die Flasche »auf ex« leert. Die gesamte Pharmakologie müßte neu geschrieben werden, wenn es egal wäre, ob man seine Tabletten nach Anwendungsvorschrift einnimmt oder den gesamten Schachtelinhalt auf einmal schluckt. Und ausgerechnet bei der ionisierenden Strahlung sollte der seit Jahrhunderten bekannte Grundsatz »Die Dosis macht das Gift« nicht gelten?

Das Konzept der Kollektivdosis, das aus der Bestrahlung einer bestimmten Anzahl von Menschen auf eine bestimmte Anzahl von Krebsfällen schließt, ist schlichtweg Unsinn. Nach dem Motto, wenn wir einer Million Menschen je ein Aspirin geben, haben wir x Tote, weil wir ja wissen und nachweisen können, daß die Einnahme von y Schachteln Aspirin zum Tode führt. Doch ganz im Gegensatz dazu nehmen Millionen Menschen weltweit täglich eine Tablette Aspirin ein, um z.B. das Herzinfarktrisiko drastisch zu senken.

Hormesis

Damit kommen wir zur Hormesis. Darunter wird verstanden, daß ein und derselbe Stoff, in geringen Mengen verabreicht, die gegenteilige Wirkung haben kann wie derselbe Stoff in hohen Dosen.

Von Anfang an zeigte sich dieses Phänomen auch im Zusammenhang mit ionisierender Strahlung. Bei Niedrigstrahlung kam es zu deutlich weniger Krebsfällen, als nach dem LNT-Modell zu erwarten gewesen wäre. Fast alle Studien mit Arbeitern aus der kerntechnischen Industrie, Opfern von Atombomben und den Reaktorunglücken von Tschernobyl und Fukushima zeigten Werte unterhalb des Erwartungswerts nach dem LNT-Modell. Und nicht nur das: Die Erkrankungen lagen auch unterhalb derjenigen der unbestrahlten Bevölkerung. Jahrzehntelang versuchte man, sich dies speziell bei Bergleuten mit der besonderen medizinischen Fürsorge und der Vorauswahl (“Healthy worker effect”) zu erklären und damit aus der Affäre zu stehlen. Bis man sich die Frage stellte, ob nicht ionisierende Strahlung in bestimmten geringen Dosen sogar eine den Krebs verhindernde Wirkung zeigte. Plötzlich war auch die Radon-Therapie keine Esoterik mehr.

In den letzten Jahrzehnten hat die Molekularbiologie große Fortschritte erzielt. Seit man Gene und DNA praktisch beobachten kann, lassen sich diese Phänomene naturwissenschaftlich erklären. Heute weiß man: DNA-Schäden sind keineswegs die Ausnahme, sondern die Regel. Es passieren ständig, in jeder Zelle, zehntausende von DNA-Fehlern. Hauptsächlich sind dafür Radikale verantwortlich. Strahlung, wie etwa die überall vorhandene Umgebungsstrahlung, hat daran nur einen sehr geringen Anteil.

Warum führen diese zahlreichen DNA-Schäden in der Regel nicht zu Krebs? Weil die Zellen über einen effektiven Reperaturmechanismus verfügen, der die DNA-Schäden meist wieder heilt. Darüberhinaus existiert eine weitere Schutzebene, nämlich die Zerstörung entarteter Zellen. Erst wenn alle Reparatur- und Schutzmechanismen versagen, kann sich Krebs ausbilden. Hieraus ergibt sich auch der Zusammenhang von permanenten kleinen und kurzzeitig hohen Dosen: Mit einer geringen Anzahl von Fehlern wird das Reparatursystem leicht fertig. Erst mit steigender Strahlung kommt es irgendwann zu einem Sättigungsangriff, bei der die Abwehr nicht mehr mit der Reparatur der Schäden nachkommt. Oberhalb dieses Punktes ist die Strahlung gefährlich, unterhalb ist sie unbedenklich.

Ohne die Selbstheilungskräfte der Zellen wäre überhaupt kein Leben möglich. Man kann nun in Versuchen zeigen, daß sich diese Selbstheilungskräfte durch niedrig dosierte ionisierende Strahlung anregen und unterstützen lassen. Dieser Umstand findet bereits in der Strahlentherapie Anwendung. Um Krebszellen zu zerstören, braucht man punktuell sehr hohe Dosen, die auch das umliegende gesunde Gewebe stark belasten. Deshalb trainiert man in bestimmten Fällen vor der eigentlichen Behandlung das gesunde Gewebe durch mehrere Bestrahlungen mit niedrigen Dosen.

Der ultimative Test

Wenn es eine Hormesis und ein Training der Selbstheilungskräfte der Zellen gibt, was passiert dann eigentlich, wenn man Strahlung von Zellen fernhält? Eine einfache Fragestellung, aber ein schwer durchführbares Experiment. Es gibt nämlich immer und überall auf der Welt ionisierende Strahlung: die sogenannte Umgebungsstrahlung aus dem All und aus der Erde. Dieser Strahlung war und ist jedes Leben seit Milliarden Jahren ausgesetzt. Leben hätte sich gar nicht entwickeln können, wäre es nicht gegen ionisierende Strahlung überlebensfähig gewesen. Gott sei es gedankt, die Natur ist etwas einfallsreicher, als die Anhänger des LNT-Modells meinen.

Schon in den 1990er Jahren wurde in Italien ein Experiment mit Hefezellen durchgeführt. Sie sind ein Standardobjekt der Molekularbiologen. Diese Hefezellen wurden in ein Labor 1300 Meter tief unter einem Bergmassiv gezüchtet. Hier unten war die Strahlung tausendfach kleiner, als im oberirdischen Vergleichslabor. Anschließend wurden beide Versuchsgruppen Chemikalien ausgesetzt, die starke genetische Veränderungen auslösen können. Ergebnis: Bei den »vor Strahlung geschützten« Zellen traten mehr Fehler (Mutationen) auf.

Inzwischen werden solche Experimente ausgeweitet. In den USA hat man z . B. in einem Salzstock in Carlsbad ein Labor in 650 Meter Tiefe eingerichtet. Die dortige Salzschicht besteht aus sehr reinem Kochsalz und enthält damit nur sehr wenige radioaktive Stoffe. Die Deckschicht schirmt die kosmische Strahlung ab. Die Bakterienzucht wird in einem Tresor mit 15 Zentimeter dicken Stahlwänden aus Stahl aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt. Solch alter Schrott wird inzwischen hoch gehandelt, da er noch nicht mit Fallout aus Atombombenversuchen usw. belastet ist. Durch diese Maßnahmen gelang es, die Strahlung innerhalb des Tresors bis auf 0,17 Millisievert (mSv) pro Jahr zu drücken. Dies ist der geringste Wert, der bisher auf der Erde erreicht werden konnte.

In der Versuchsanordnung wurden die als besonders strahlenempfindlich bekannten Bakterien Shewanella oneidensis und die besonders strahlungsresistenten Bakterien Deinococcus radioduruans gezüchtet. In regelmäßigen Abständen wurde die DNA der Versuchsgruppen auf Schäden untersucht. Um andere Einflüsse ausschließen zu können, wurden die Bakterien mehrfach zwischen den Orten mit verringerter Strahlung und normaler Strahlung hin und her getauscht.

An dieser Stelle müssen wir uns noch einmal die zentrale Aussagen des LNT-Modells vergegenwärtigen:

  • Jedes »Strahlungsereignis« schädigt die DNA. Deshalb gilt: Je weniger Strahlung, desto weniger Schäden. Nach dem LNT-Modell gibt es einen Nullpunkt, an dem es infolge der nicht vorhandenen Strahlung auch keine Schäden geben dürfte.
  • Die aufgetretenen Schäden addieren sich. Je länger man eine Probe bestrahlt, um so mehr Schäden treten auf.

Doch was zeigen die die Meßergebnisse des Versuches? Beide Bakterienarten weisen »ohne Strahlung« mehr Schäden auf als »mit Strahlung«. Besonders verblüffend ist, daß sich die Schäden innerhalb von 24 Stunden normalisieren, wenn man die Proben wieder der Umgebungsstrahlung aussetzt. »Schützt« man die Probe erneut vor Strahlung, nehmen die Schäden wieder zu. Dies scheint in beliebigem Wechsel möglich zu sein.

Sollten sich diese Erkenntnisse weiter verdichten, würde dies bedeuten, daß das LNT-Modell schlichtweg falsch ist. Benutzt man den gesunden Menschenverstand, ist dies auch nicht besonders überraschend: Es hat immer schon Strahlung auf der Erde gegeben. Früher sogar mehr als heute (Halbwertszeit z. B. von Uran, Kalium etc., Sonnenaktivitäten und unterschiedliche Atmosphäre). Vielleicht wäre ohne Strahlung gar kein Leben möglich?

ALARA

Foto: Strahlungsflyer der Nuklearia
Strahlungsflyer der Nuklearia

Bei diesen Forschungsergebnissen handelt es sich nicht um irgendwelche Trivialitäten, sondern sie sind hoch brisant. Bisher galt beim Strahlenschutz weltweit das Prinzip, die Strahlenexposition so gering wie möglich zu halten (As Low As Reasonably Archievable; ALARA). Eine ganze Industrie mit Milliardenumsätzen lebt davon – Geld, das man nutzbringender hätte einsetzen können. Konnte man bisher noch mit Fürsorglichkeit und Vorsicht argumentieren, ist es spätestens nach dem Unglück von Fukushima endgültig damit vorbei. Dort hat man eindeutig das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es sind viel mehr Menschen seelisch und körperlich durch ALARA zu Schaden gekommen, als durch die vorhandene Strahlung. Es wäre besser gewesen, die Menschen hätten in ihrer Umgebung verbleiben können. Evakuierungen wären nur in ganz wenigen Fällen und auf freiwilliger Basis nötig gewesen. Gut gemeint war auch hier nicht gut gemacht. Ideologie kann töten. Die Aufklärung der Bevölkerung ist dringend notwendig.


Dr. Klaus-Dieter Humpich studierte Maschinenbau und Energie- und Verfahrenstechnik mit Schwerpunkt Kerntechnik, bevor er zehn Jahre am Institut für Kerntechnik in der Technischen Universität Berlin arbeitete. Seit 20 Jahren ist er freiberuflich im Bereich Energietechnik tätig.

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