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Die memetische Wolke

Wilhelm Gause: Hofball in Wien (1900)
Wikipedia – Public Domain.

Vor einiger Zeit traf ich mich mit Mitgliedern des SDS in einer Kneipe. Sie tranken Bier und Mate, ich Kaffee, wir unterhielten uns über dies und das und den Akademikerball in Wien: Dieser war meinen sozialistischen Freunden ein Dorn im Auge, denn es handelt sich dabei um ein internationales Burschenschaftstreffen, und Burschenschaftler werden von SDS’lern als typische Repräsentanten des Kapitalismus und des Patriarchats angesehen, was eventuell nicht völlig falsch ist.

Man erwähnte den Plan gegen den Akademikerball zu demonstrieren. Mir schien die Zeit für einen konstruktiven Vorschlag gekommen zu sein: Anstatt mit Kapuzen und krähenden Lautsprechern durch Wien zu trippeln, möge man doch einen sozialistischen Akademikerantiball veranstalten – quasi eine Parallelaktion, oder vielmehr einen Parallelball, bei dem ebenso Walzer getanzt, Wein getrunken und sich fein herausgeputzt werden würde wie in der Hofburg, aber eben unter sozialistischem Vorzeichen.

An meinem Vorschlag fand man keinen Gefallen.

Zum einen, erklärte man mir, sei das Walzertanzen eine typische Burschenschaftleraktivität, und diesen Kräften der Düsternis gelte es ja entgegenzuwirken. Ferner verstehe kein einziger SDS’ler Walzer zu tanzen, die in sozialistischen Kreisen übliche Musik- und Tanzrichtung sei vielmehr Elektro.

Ich wagte noch ein wenig Protest: Auch Karl Marx und Friedrich Engels seien sicherlich des öfteren anmutig mit einer Dame im Arm übers Parkett geglitten, und erst Ernesto „Che“ Guevara – als Latino habe er es zweifellos verstanden, Tanzböden zum Glühen zu bringen und dabei Körperteile zu bewegen, die – um meinen ehemaligen Tanzlehrer zu zitieren – Westeuropäer noch nicht einmal haben.

Doch all dies ließen die SDS’ler nicht gelten, und blieben steif und fest bei den ursprünglich geplanten Lautsprecherwagen und Kapuzenpullis.

Walzer, oder überhaupt alle Paartänze, und Burschenschaftler gehören in der Assoziationswelt von sozialistischen Studenten offensichtlich untrennbar zusammen.

„Im Internet begegnet man ja auch manchmal unangenehmen Leuten, z. B. Nazis, Maskus und Atomkraftwerksbefürwortern!“ – sinngemäß dieses las ich, wenn ich mich richtig entsinne im Jahr 2012, in irgendeinem Blog. Nicht sehr intelligent, aber bezüglich des dahintersteckenden kulturellen Mechanismus faszinierend: Ich nenne das Phänomen Memetische Wolke.

Ein Mem ist eine kulturelle Informationseinheit, die von Mensch zu Mensch, Generation zu Generation weitergegeben und zuweilen verändert wird, analog zu den Genen in der Vererbungslehre. Beispiele für Meme sind Religionen, Märchen, Lieder, Mythen, Moden, philosophische Konzepte, urbane Legenden, Sitten, Tanzstile und Internet-Bildwitze. Als „Memetische Wolke“ bezeichne ich eine Menge von Memen, die im Bewußtsein einer bestimmten Menschengruppe meist zusammen auftritt, beispielsweise Walzer, Burschenschaftler, Kapitalismus und Patriarchat bei den SDS’lern, oder Nazis, Maskus und Atomkraftwerksbefürworter in der Wahrnehmung nicht nur des einen Bloggers, dessen Namen und Webseite ich schon lange vergessen habe, sondern auch in der eines beträchtlichen Anteils der Deutschen.

Die meisten Deutschen nehmen Kernkraft, Kapitalismus, Ablehnung des Feminismus und der Achtundsechzigerbewegung, die traditionelle Kernfamilie und nationale Autarkie als eine Gruppe von Memen war, die dem konservativen bis reaktionären politischen Spektrum zuzuordnen ist. Erneuerbare Energiequellen, Sozialismus, Feminismus und Gleichstellung verschiedener Formen von Lebensgemeinschaften, Internationalismus und zuweilen auch Raumfahrt(!) werden dagegen als linke Konzepte verortet.

burschenschaft_punk
Memetische Wolken.
Burschenschaftler: Kernkraft, Kapitalismus, Nation, traditionelle Familie.
Punk: Feminismus, LGBTQ-Rechte, Solarenergie, Sozialismus, Raumfahrt.

Bemerkenswert daran ist, dass diese Mem-Kombinationen keinesfalls zwingend sind: Kernkraft kann kapitalistisch wie in Deutschland oder sozialistisch wie bei der Tennessee Valley Authority organisiert sein – gleiches trifft auf die erneuerbaren Energiequellen zu. Nationale Autarkie im Sinne von „Unabhängigkeit von der EU“ wird sowohl von links wie von rechts angestrebt, was sich zur Zeit darin niederschlägt, dass ein beträchtlicher Anteil ehemaliger Wähler der Linken zur AfD überläuft. Ernst Jünger war höchstwahrscheinlich homosexuell (zumindest wird in seinen Texten das Aussehen von Männern in großer Ausführlichkeit geschildert, die Hauptfiguren leben in eng verschworenen gleichgeschlechtlichen Gruppen zusammen, Frauen kommen allenfalls am Rande vor) und zugleich keinesfalls links. Auch eine Art „kapitalistischer Feminismus“ wurde in den Vereinigten Staaten im Dunstkreis der dortigen Libertarians ins Leben gerufen, und die Tatsache, dass moderne Großkonzerne meist international agieren, lässt sie „no border no nation“-artiger erscheinen als die von Sozialisten zuweilen geäußerten Visionen des Lebens in einem kleinen, autarken Öko-Dorf.

Ich persönlich habe Wiener Walzer nie mit irgendwelchen Burschenschaften assoziiert, sondern mit den Weltraumszenen aus dem Film „2001 – A Space Odyssey“ von Stanley Kubrick. Bei Achtundsechzigern und Hippies erfreute er sich hoher Beliebtheit – zum einen wegen der mystischen Atmosphäre und der psychedelischen Sternentorsequenz am Schluss, die ihn zu einem perfekten Tripfilm machten, zum anderen weil er ein optimistisches Bild einer Zukunft zeichnet, in der die Menschheit sich zu einer höheren Existenzebene fortentwickelt (allerdings nicht von alleine sondern mit Unterstützung durch eine außerirdische Superzivilisation). Aus ähnlichen Gründen schätzen viele heutige Linke die Serie „Star Trek – The Next Generation“. Nicht nur die Piraten flirten mit kosmischen Aufbruchsplänen, auch an einem Parteibüro der Linken sah ich einmal ein Plakat, das den baldigen Bau eines Orbitallifts dank visionärer sozialistischer Konzepte verkündete – und direkt daneben eines, demzufolge alleine Chuck Norris befähigt sei, die böse Atomkraft sicher zu machen.

Chuck Norris, ein religiös-fundamentalistischer Republican, passt inhaltlich nicht wirklich gut auf die Eingangstür eines sozialistischen Parteibüros. Ebenso paradox ist die Platzierung der Raumfahrt in der gleichen memetischen Wolke wie Energiequellen niedriger Flußdichte. Ins All reisen und auf die Nutzung der Starken Kraft verzichten zu wollen ähnelt in etwa dem Versuch, ohne Mehl Brot zu backen.

Nicht die Discovery aus dem Film, sondern ein Entwurf der NASA für ein nukleares Raumschiff, der nicht urheberrechtlich geschützt ist.

Das große Raumschiff Discovery aus „2001“ wird weder von schubstarken aber ineffizienten chemischen Raketen, noch von effizienten aber äußerst schubschwachen solarelektrischen Triebwerken beschleunigt, sondern von einem nuklearen Antrieb, der hohen spezifischen Impuls und hohe Schubkraft vereint. Der Film gehört zu den wenigen, bei denen Wissenschaftler an der Produktion von Anfang bis Schluss mitwirkten und auf einen hohen „Härtegrad“ der Fiktion (d.h. technologischen Realismus) geachtet wurde. Das Antriebsprinzip schlägt sich daher in der Konstruktion des Schiffs deutlich nieder: Vorne das kugelförmige Habitat, das den Rotationssektor mit künstlicher Schwere enthält, hinten an einem sicherheitshalber langen Ausleger das kerntechnische Antriebssystem. Wie dieses genau arbeitet, wird im Film nicht gesagt (ursprünglich hatte es ein Pulsantrieb à la „Orion“ sein sollen, doch Kubrick hatte nach seiner schwarzen Komödie „Dr. Strangelove“ für’s erste genug von Kernexplosionen) – aber um ein Habitat für mehrere Menschen, Beiboote, den Supercomputer HAL und was sonst noch im Film an Ausrüstung zu sehen ist in überschaubarer Zeit zum Jupiter und wenn die Mission nach Plan verlaufen wäre auch wieder zurück zu transportieren, ist ein ordentliches Antriebssystem, eine „Muskelrakete“ nötig: 3000 Sekunden spezifischer Impuls oder mehr und Schubstärken im Bereich großer chemischer Systeme wie die Shuttle-Booster, die Saturn V oder die Energija. Wir haben es zwangsläufig mindestens mit einem Gaskernreaktor zu tun.

Auf welchen Prinzipien die Enterprise beruht ist allen „Physik von Star Trek“-Büchern zum Trotz weitgehend unklar – die Serie ist nicht wissenschaftlich durchgearbeitet, an Stelle plausibler Physik tritt Technobabble (d.h. zufällig durcheinandergemixte Begriffe aus einem Physikwörterbuch). Wie dem auch sei – will man in der Realität eine Rakete bauen, die Mannschaften und große Nutzlasten zügig zu irgendeinem interessanten Ort im Weltall bringen soll, so muss man chemische Verbrennung und Solarenergie von vornherein in Rente schicken und ein nukleares System konzipieren. Dies lässt sich aus der Proportionalitätsgleichung für die Leistung von Raketentriebwerken ablesen:

[math]!P_\mathrm{rak} \propto I_\mathrm{spez} \cdot F_\mathrm{schub}[/math]

derzufolge die umgesetzte Leistung mit dem Produkt von spezifischem Impuls (bzw. der Rückstoßgeschwindigkeit) und Schubkraft wächst. Nehmen beide hohe Werte an, so fallen chemische Reaktionen aus, weil es einfach nicht möglich ist, den Treibstoff in der erforderlichen Menge mitzuführen und rasch genug zu verbrennen, ganz zu schweigen von solarelektrischen Antrieben, deren Schubstärken bei kleinen Bruchteilen eines Newtons liegen und die darüberhinaus umso schwächer werden je weiter man sich von der Sonne entfernt.

Die Naturgesetze sagen uns ganz klar, dass wer sich weiterentwickelte Raumfahrt wünscht, in irgendeiner Form das Gluonenfeld nutzen muss, sei es durch Kernspaltung, Kernfusion, Materie/Antimaterie-Zerstrahlung oder eine exotischere Variante. Linke ignorieren dies, denn die Raumfahrt gehört zu ihrer memetischen Wolke, die Kernkraft aber nicht. Daher bleiben ihre Weltraumpläne auch im Bereich halb im Scherz und halb im Ernst geäußerter Visionen und Träume.

Memetische Wolken sind historisch gewachsen und nicht stringent logisch zusammengestellt.

„Der Weg ins All ist sowjetisch!“
Sowjetisches Poster, wahrscheinlich Public Domain.

Vor kurzem hat Russland einen neuen schnellen Reaktor gestartet als zweiten Block für das Kraftwerk Belojarsk. Hierin, und natürlich auch in der Tatsache dass Russland momentan das einzige Land ist, das Menschen zuverlässig und regelmäßig in die Erdumlaufbahn bringen kann, schlägt sich das kulturelle Erbe der ehemaligen Sowjetunion nieder, in der Hochtechnologie ein zentrales Thema der gesellschaftlichen Entwicklung war. Wie auch immer man die ehemaligen Ostblockstaaten politisch und moralisch einschätzen mag: Im Gegensatz zu den linken Parteien im heutigen Deutschland, die eine Art ökologistischen Sozialismus propagieren, interpretierten sie den Marxismus extrop, sie setzten auf Wachstum, stetige Verbesserung der Lebensbedingungen, Gestaltung der Biosphäre durch die Vernunft des Menschen. Während sie bezüglich der Produktion von Konsumgütern (Autos, Unterhaltungselektronik, etc.) zwar nie das Niveau der westlichen Länder erreichte, gelangen der Sowjetunion nichtsdestotrotz viele technologische Pionierleistungen: Erstes Kernkraftwerk, erstes Raumschiff, erstes Lebewesen im Weltall, erster Mann im Weltall, erste Frau im Weltall, erste Langzeitraumstation, erster Mondrover, Tokamak-Fusionsreaktorkonzept. „Kommunismus ist Sowjetherrschaft plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ – so Lenin. Die Linke dagegen möchte laut Parteiprogramm auf dezentrale Versorgung aus diffusen Energiequellen setzen.

1968: Protestplakate an der TU Berlin.
Wikipedia – CC-BY 3.0.

Die Achtundsechziger-Revolte (keine Revolution!) in Deutschland wurde im Laufe der Siebziger- und Achtzigerjahre gezähmt, oder vielmehr zähmte sich selbst, indem sie in eine sehr brave, harmlose, konservative Partei mündete: Die Grünen bekannten sich zu denjenigen Ideen der Achtundsechziger, die hinreichend reihenhauskompatibel waren, um von der breiten Mehrheit der Bevölkerung in irgendeiner Form anerkannt zu werden. Anfangs kokettierte man noch ein wenig mit langen Haaren und Strickpullis, einige Jahre später war das ganze zu einer stromlinienförmigen Mainstreampartei geworden, die sich der Stimme sowohl des achtzehnjährigen Erstwählers wie auch der seines Lateinlehrers sicher sein konnte – eine Zielgruppenuniversalität, die sich daraus ergibt, dass die Partei nicht links, nicht rechts, sondern hinten ist.

In den Vereinigten Staaten, Großbritannien und anderen Ländern gab es ebenfalls Studentenrevolten in den Sechzigerjahren, und auch diese verliefen aus verschiedenen Gründen im Sande – u.a. mangelnder Rückhalt in der Bevölkerung, keine einigende Philosophie, kein klares Ziel – und wurden schließlich in unbemerkenswerte harmlose politische Parteien kanalisiert. Was jedoch nur in Deutschland geschah: Alle anderen Parteien von ganz rechts bis ganz links wandelten sich in Kopien der Grünen um, mit gewissen der spezifischen politischen Richtung entsprechenden Modifikationen – so verquicken die Neonazis den Ökologismus mit der Blut-und-Boden-Ideologie zu Slogans wie „Umweltschutz ist Heimatschutz“, bei den Konservativen steht der betuliche gouvernantenhafte Kontrollwahn mit dem Ziel alle Aspekte des Lebens vollständig sicher und ungefährlich zu gestalten im Vordergrund, weiter links stehende Parteien legen besonders viel Gewicht auf Nullwachstum und interpretieren das Dasein im „Einklang mit der Natur“ als sozialistisches Idyll. Dies ist extrem weit entfernt von der Sozialismusauffassung in den Ostblockstaaten, so das es schwerfällt, beides als mögliche Interpretation ein und derselben Philosophie anzusehen. Würde ein außerirdischer Besucher Zukunftsvorstellungen von heutigen SDS’lern und sowjetischen Autoren vergleichen, so wäre er sehr überrascht, wenn er erführe, dass beide sich auf dieselben Grundbegriffe beziehen – vielleicht ebenso überrascht, wie die SDS’ler es waren, als ich ihnen erklärte, dass der Wiener Walzer für mich keinesfalls mit Burschenschaftsbällen assoziiert sei sondern mit einem Science-Fiction-Film von Stanley Kubrick und wunderschönen Erinnerungen an Tanzkurse.

Die Idee, dass Fremdenfeindlichkeit biologisch verankert sei, steht auf äußerst wackligem Fuße: denn es kann zur Steigerung von Überlebens- und Fortpflanzungschancen sehr günstig sein, sich neue Gene und Meme aus möglichst weit entfernten Populationen zu holen. Die Sexualität war ein gewaltiger Schritt vorwärts in der Entwicklung komplexer Lebensformen auf der Erde, da sie rasche Neukombination von Erbinformationen ermöglichte. Ebenso ist die Durchdringung unterschiedlicher memetischer Wolken unabdingbar für die kulturelle Weiterentwicklung der Menschheit. So war es das Mem „Alphabet“ von den Phöniziern, das den Aufschwung der griechischen Hochkultur nach dem Untergang der minoischen und mykenischen Zivilisationen beflügelte, deren Keilschriftsysteme nur für relativ simple Listen und Verwaltungsaufgaben geeignet waren, nicht aber für poetische und philosophische Texte. Ähnlich sorgten Kontakte zwischen Westeuropa und der islamischen Welt im Mittelalter dafür, dass die Arbeiten der antiken Philosophen im Westen wieder bekannt wurden und die rigide Scholastik überwunden werden konnte, was schließlich zur Renaissance und damit zur Aufklärung und zur wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit führte.

Stewart Brand, der „linksgrüne Gutmensch“ für die Kernenergie. Wikipedia – CC-BY-SA 2.0.

Ich frage mich zuweilen, was geschehen würde, wenn alle Kinos in Deutschland „Pandora’s Promise“ ins Abendprogramm nehmen würden, der Film in jeder Stadt um Viertel nach acht mit Popcorn und Tacos im Kinosaal 1 auf der großen Leinwand zu sehen wäre. Ich vermute, dass es gewaltig zu brodeln beginnen würde: Denn viele Deutsche sind dank steigender Energiepreise ohnehin bereits der Energiewende gegenüber skeptisch geworden – und nun würde ein Kinofilm ihnen vermitteln, dass man kein stiernackengrimmiger, PI-News lesender, Sarrazin-anbetender, Frauen-in-die-Küche-zurückwünschender Neuteutone zu sein braucht, um Kernenergie zu mögen; ja dass man, wie in den angelsächsischen Ländern inzwischen nicht selten, auch als „linksgrüner Gutmensch“ sich für diese Hochtechnologie stark machen kann!

Die memetische Wolke von Tom Blees, Mark Lynas, Robert Stone, Barry Brook, Kirk Sorensen, Stewart Brand und den anderen würde mit der der Umweltschützer und Linken in Deutschland kollidieren. Käme es zu einer erfolgreichen Vermischung? Wie würde die resultierende Wolke aussehen? Es gibt hierfür zweifellos ebenso viele Möglichkeiten wie für das Ergebnis der Kollision zweier Galaxien.

Einige Mitglieder der bröckelnden Piratenpartei haben sich zu einer „Progressiven Plattform“ zusammengeschlossen, mit einem Weltraumlift als Symbol. Abgesehen davon dass Orbitallifte mit senkrecht bis zur geostationären Umlaufbahn kletternden Gondeln meiner Meinung nach übermäßig gehypt werden – elektromagnetische Katapulte sind zum ultrabilligen Transport von Nutzlast ins Weltall vermutlich viel geeigneter – wirkt es ziemlich verdächtig wenn eine Gruppe ständig lautstark beteuert „progressiv“ zu sein; es kommt dadurch der Verdacht auf, dass es mit wirklich progressiven Ideen, die geeignet sind, die Menschheit weiterzubringen, dort nicht sehr weit her ist. Daher bin ich der „Plattform“ indirekt recht dankbar, dass sie mich durch ihr Erscheinen davon abgebracht hat, mein eigenes philosophisches Projekt „Progressiver Extropismus“ zu nennen. Nichts hinterlässt einen fragwürdigeren Eindruck als ein unnötig geschwollen klingender Name. Auf Inhalte kommt es an; mit anderen Worten: auf die memetische Wolke und was sich mit ihr anstellen lässt.

Persönlich mag ich viele Mitglieder des SDS, aber inhaltlich scheint mir immer mehr, dass das Ganze ebenso anämisch ist wie die „Progressive Plattform“ bei den Piraten: Nachhaltigkeit und Nullwachstum „weil sonst irgendwann nichts mehr da ist“, Internationalismus der so naiv ist dass er einer Karikatur der Idee gleichkommt, Feminismus der sich aus Gendertheorie nach Butler, Awareness-Teams als Sittenpolizei und allerlei Verbotsinitiativen zusammensetzt.

Atomic Fission Fun with Girl Scouts of Greater Chicago – soetwas bitte, liebe Feministinnen, anstatt wuterfüllter Forderungen nach einem „Verbot sexistischer Werbung“.

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Auch dies ist ein Mem!

Menschen sind bis zu einem gewissen Grad vom Urozean in ihren Adern, von Biochemie und Genetik bestimmt… aber eben nur zu einem Anteil, der allmählich abnimmt: Denn die Memetik, d.h. die Kultur, gewinnt immer mehr an Gewicht gegenüber der Genetik, da ihre Entwicklung nicht dem reinen Zufall, sondern auch dem Bewußtsein unterliegt, und sie dank dem Law of Accelerated Returns exponentiell wächst. Dies gilt in besonders hohem Maße seit Beginn des techno-urbanen Zeitalters vor rund 200 Jahren, das die Schaffung und Veränderung von Memen und memetischen Wolken mit nie zuvor dagewesener Geschwindigkeit ermöglicht – nicht zuletzt aufgrund des Zusammenwachsens der Menschheit zur planetaren Zivilisation durch moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel: nie zuvor war das Zusammentreffen memetischer Wolken aus allen Teilen der Welt so einfach wie heute. Vor dem Zweiten Weltkrieg erfuhr ein Deutscher mit viel Glück etwas über die Arbeit australischer Wissenschaftler aus einer Zeitungsnotiz oder einem Radiobericht, heutzutage genügt ein Klick auf Brave New Climate.

Kaltes Wetter hat schon immer meine Kreativität angeregt. An einem stillen frostgrauen Tag im Winter 2011/12 sagte ich mir: „Die memetischen Wolken in meiner Umgebung gefallen mir nicht so wirklich. Auf zum Selbermachen!“ Ich begann an meinem Zukunftsroman „Projekt Kardaschow“ zu arbeiten.

„Sommer, die schönste Zeit in der Großstadt! Herrlich ist es nach Mitternacht im Gebrodel des Kneipenviertels: Weiß und orangefarben sprudelt das Licht der Straßenlaternen, Studenten ganz am Anfang der großen Freiheit sehen den Bierschaum in ihren Gläsern (den sie nun zum ersten Mal wirklich hedonistisch betrachten, denn für Jugendliche ist jeglicher Alkohol nur ein Trunkensein, für Erwachsene: ein Genussmittel. Daran erkennt man dass man erwachsen ist! denken die Studenten und haben sie nicht recht?) und Körper Schultern das Lachen der Mädchen (Freundin im Sinn von mit/ohne Sex? Das ist jetzt egal, an Sommerabenden in der Großstadt gibt es keine unerfüllte Liebe: alle Menschen werden Brüder!), und jeder denkt: Ja! Jetzt geht es voran! Los, Angst gehabt haben wir, traurig gewesen sind wir genug, vor uns liegt etwas Wunderbares! (Etwas besseres als die Vergangenheit findest du überall) Die Kellnerin lächelt: Darf’s hier noch was sein? Ralph – denn er ist inzwischen im Café Kleeblatt angekommen – bestellt sich einen Cocktail dessen Namen er vor wenigen Sekunden zum ersten Mal gelesen hat.

Olga Kardaschowa ist kurz in ihre Wohnung gegangen um sich etwas anzuziehen: Singularitytubetop (Leiterbahnenmuster metallic vorne und Cyborgschwingen auf dem Rücken) und einen Rock, den selbst physikalisch Unkundige schick finden, auf dem die Gebildete jedoch spiralige Ionenspuren, goldgelb auf nachtblauem Hintergrund, erkennt. Max Schweijksam hat derweil im Biergarten (nicht die große Touristenfalle neben dem Dom: winziges Etablissement in Hörweite von innerstädtischem Wasserfall) einen Tisch&zwei Plätze erobert. Blauschimmelkäse Gurken Graubrot Bier: knurrende Begeisterung. Olga setzt sich nah neben ihn (wie schön ihr Bauch ist). Zungetanztmitzunge: Gurkengraubrotblauschimmelbieraroma.

Sie lieben beide: Das Gluonenfeld, Großstädte, Sommernächte durchfeiern. Es ist in der Liebe wichtig, gemeinsame Vorlieben zu haben. Einige sagen: noch wichtiger sind gemeinsame Gedanken. Auch die haben sie.“

Das ist ein Auszug aus dem 1. Kapitel. In dem Buch entwickle ich eine neue memetische Wolke:
Gluonenfeld – zur Weiterentwicklung der Menschheit ist Hochtechnologie unverzichtbar;
Großstädte – die techno-urbane Gesellschaft, eine neue komplexe Struktur auf der Erde deren Eigenschaften noch nicht vollständig geklärt sind, verleiht der Menschheit Fähigkeiten die kein anderes Lebewesen hat, insbesondere die Fähigkeit zu unbegrenztem Wachstum…
Sommernächte durchfeiern – …und das ist gut so! Anstatt uns durch dauernde Forderungen nach Verzicht, Selbstkasteiung und Verringerung unserer Aktivitäten zu quälen, sollten wir unsere Menschlichkeit, unser Wissen, unsere Fähigkeiten umarmen und weiter ausbauen. Genuß und Neugierde sind unsere stärksten Antriebskräfte!

Besser als die Schriftstellerin Irmtraud Morgner kann man es kaum sagen: „Sexualität ist eine kostbare Unruhe, die erotische Beziehungen ermöglicht, nicht nur zu Menschen, sondern auch zu Landschaften, Tönen, Farben, Gerüchen – zu Erscheinungen dieser Welt überhaupt. Ohne sie gibt es keinen Enthusiasmus, kein Feuer des Geistes, keinen Esprit. Kein Denker, kein Politiker, kein Wissenschaftler, kein Dichter, kein Komponist arbeitet nur mit dem Kopf. Er arbeitet als Ganzheit: der Kopf ist Teil seines Körpers, nicht sein Widersacher. Mit sich in Harmonie und Spannung wird die Welt gemacht, in sich und außer sich. Das gilt für Frauen ebenso wie für Männer.“

Der ökologistische Puritanismus widerspricht dem Wesen der Menschheit. Wir sollten ihn hinter uns zurücklassen und uns mit all unseren Memen, Mythen und Maschinen einer extropen Zukunft zuwenden. Das Ewig-Sinnliche zieht uns hinan.

(Public Domain)

Über die Nuklearia

Die Nuklearia ist ein gemeinnütziger, industrie- und parteiunabhängiger eingetragener Verein, der die Kernenergie als Chance begreift und darüber aufklären will. Wir sehen die Kernkraft als besten Weg, die Natur und das Klima zu schützen und gleichzeitig unseren Wohlstand zu erhalten. Denn Kernenergie ist emissionsarm, braucht sehr wenig Fläche und steht jederzeit zur Verfügung. Unser Ansatz ist wissenschafts- und faktenbasiert, unsere Vision humanistisch: erschwingliche und saubere Energie für alle.

4 Antworten

  1. Fraglos gibt es Ideengeschichtlich Gedanken, die prägende Wirkungen entfalten. Auch gibt es Verknüpfungen dieser, die sich zu einem kulturellen Komplex verdichten, aber der Artikel zeigt bereits, dass derartige Verknüpfungen weder zwingend, noch logisch plausibel sind. Was mich aber stört ist der Begriff Mem, den wohl Richard Dawkins in Anlehnung an das Gen pägte. Abgesehen von einer Grundskepsis gegen Dawkins ist der Biologismus, der den ‚Memen‘ quasi ein Eigenleben zuweist, Selbsterhaltungskräfte und evolutionäre Pfade andichtet, ein Denkmuster, dass eher bedenklich ist. Denn nicht mehr der denkende Mensch, der sich in kognitiven und kulturellen Prozessen mit Gedanken und Ideen beschäftigt ist der Handelnde, sondern das sich verselbstständigte Mem. Das halte ich für bedenklich und bitte dies bei der Begriffsbildung zu berücksichtigen.

    Davon unbeeinflusst halte ich die Beobachtungen zur Ideenentwicklung in weiten Teilen für zutreffend und anregend, und daraum auch empfehlenswert.

    Ohne aber zu kleinlich zu sein habe ich eine Kritik an:

    ‚Ähnlich sorgten Kontakte zwischen Westeuropa und der islamischen Welt im Mittelalter dafür, dass die Arbeiten der antiken Philosophen im Westen wieder bekannt wurden und die rigide Scholastik überwunden werden konnte, was schließlich zur Renaissance und damit zur Aufklärung und zur wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit führte.‘

    Das ist zwar ein übliches Narrativ, aber m.E. eine ziemlich verzerrte Sicht auf die Geistesgeschichte. Mit den Völkerwanderungen, Hunnensturm und dem Zusammnebruch des Römischen Reiches, der klimatischen Verschlechterung und der Bedrohung durch einfallenden Muslimen war Europa unter starkem kulturellem Druck in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends. Mit Karl dem Großen wurde aber bereits eine zaghafte neue kulturelle Blüte, die die Wissenschaften förderten eingeleitet. Langsam bauten sich neben der Bewahrung des Wissen und Bildung im Klosterwesen eine breite zivile Basis mit Universitätsgründungen auf, die im Kontext der wirtschaftlichen Erstarkung auch Potentiale der Kulturentwicklung um die Jahrtausendwende frei setzten. Die Scholastik leistete dazu entscheidende Beiträge. Bereits mit Anselm von Canterbury († 1109) und Petrus Abaelardus († 1142) wurden entscheidende Grundlagen mit Rückgriff auf die Logik und Aristoteles im Besonderen gelegt. Da war von spezifisch muslimischen Einflüssen wohl kam die Rede. Im Gegenteil: Duch die Islamische Expansion wurden christliche kulturelle Zentren überrannt und in ihrer Wirksamkeit geschwächt. Die muslimischen Eroberer bedienten sich christlicher Gelehrter, die wohl altes Wissen vor der Vernichtung bewahrten. Nun den Islam als Kulturbringer zu feiern erscheint mir recht absurd, auch wenn die Islamische Kultur zu jener Zeit wohl noch dem christlichen Kulturkreis überlegen war.

    Erst Ende des 12. Jahrhunderts lagen Übersetzungen von Werken der muslimischen Philosophen al-Kindi, al-Farabi, Avicenna und al-Ghazali vor, die auch rezipiert wurden. Bekanntheit erlangte die intenive Rezeption von Thomas von Aquin des Averroës, der keinesfalls als Representant des Islams, sondern eher als dessen Häretiker verstanden werden kann.

    Die Scholastik lieferte bereits mit den Rückgriff auf Logik und Beweisführung, das wiederaufgreifen antiker Denker die Basis für die Renaissance und die moderen Wissenschaften. Eine heutige negative Darstellung der Schlostik wird überwigend von jenen betrieben, die die Werke der Denker jener Epoche nicht kennen und darum nicht ihre prägende Kraft verstehen. Aber man tut sich keinen Gefallen, wenn man die eigenen geistesgeschichtlichen Wurzeln verkennt.

    1. Vielen Dank für deinen sehr ausführlichen Kommentar und die historische Klarstellung!

      Mit Richard Dawkins werde ich aus den von dir genannten Gründen auch nicht wirklich warm 😉 Aber der Begriff „Mem“ ist heute im Umfeld des Internet äußerst verbreitet und viele denken gar nicht daran, wer ihn in welchem Zusammenhang erfunden hat. Memen (und Genen…) ein Eigenleben oder sogar einen eigenen Willen implizit zu unterstellen ist jedoch in der Tat sehr irreführend.

      Mal sehen. Vielleicht formuliere ich meinen Gedanken noch um, wenn mir ein besserer Begriff als „Mem“ einfällt!

        1. Das ist richtig, ich plane übrigens das ganze neu zu formulieren ohne den Dawkinsianismus „Mem“.

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