Es ist sehr früh am Morgen im November. Die Welt ist noch nachtschwarz, und in der Luft liegt der feuchtkalte Biss des nahen Winters. Blick zum Himmel: Nach wenigen Augenblicken zeichnen sich die feinen, weißen Lichtpunkte der Sterne vor dem anthrazitgrauen Hintergrund ab. Es sind nur die hellsten zu sehen – die Herbstfeuchtigkeit hat den Himmel mit Dunst überzogen, vermute ich – aber ich vermag nach kurzer Orientierung die sinkenden Zwillinge, den Fuhrmann, den hellen Planeten Jupiter, und, gegenüberliegend im Südosten, die steigenden Frühlingssternbilder, Löwe und Bärenhüter, zu erkennen.
Ich habe noch nie mit der Vorstellung, es gäbe „Grenzen die Menschen nicht überschreiten und Geheimnisse, die sie nicht anrühren dürfen“ sympathisiert: Sie erscheint mir geradezu kitschig, denn sie versucht unsere Existenz auf ein behaglich-bescheidenes Dasein zu reduzieren, das mit seiner eigenen Unbedeutsamkeit kokettiert, ähnlich wie Arbeiterinnen und Bäuerinnen in den Phantasien einer reaktionären Oberschicht ein „fröhliches, anspruchsloses Dasein“ zwischen Arbeitsplatz, Dorfkneipe und Gemüsegärtchen zu verleben haben – daher scheinen mir selbstbeschränkende Anthropologien im Kern anti-egalitär und undemokratisch zu sein!
Die Sterne sind für Menschen nicht unerreichbar, in dreierlei Sinn nicht. Wir können sie mit unserem Verstand erforschen. Wir können sie mit Raumfahrzeugen erreichen – heute die Himmelskörper in unserem Sonnensystem mit Raumsonden, morgen mit befrauten Raumschiffen und übermorgen die Galaxis mit den Tiefraumclippern der Zukunft. Wir können die stellare Energiequelle – Kernreaktionen – auf der Erde nutzbar machen und für uns arbeiten lassen.
Wie ein Kernkraftwerk funktioniert – mit dieser Frage war ich zum ersten Mal ernstlich konfrontiert, als vor längerer Zeit, lange bevor ich mich mit Energiepolitik zu beschäftigen begann, eine sehr nette junge Dame sie mir während einer Autofahrt stellte. Damals konnte ich nur die Grundprinzipien erläutern, die jede Physikerin kennt. Seitdem habe ich einen langen Weg zurückgelegt und viel über die Technologie gelernt.
Eines der Ziele der Nuklearia besteht darin, den Menschen die Angst vor der Kerntechnik zu nehmen und das Potential aufzuzeigen, dass in ihr steckt: Konzentrierte, antientropische Energie ist der wertvollste Rohstoff der Menschheit, weil sie allen ihren Aktivitäten, allen industriellen Produktionsabläufen, allen Transportmitteln, Kommunikationskanälen und Berechnungen zugrunde liegt. Fortgeschrittene Reaktortypen und Brennstoffzyklen können die riesigen Vorräte der Erde an Fertilstoffen (Uran 238 und Thorium 232) in fast unbegrenzte Mengen sauberer Energie umwandeln. Und diese hochkonzentrierten Energiequellen sind was nötig ist, um die Menschheit „fit for future“ zu machen!
Um zivilisatorisch voranzuschreiten – Menschen von unkreativer, verdummender Produktionsarbeit via Automatisierung zu befreien, neue Herstellungsprozesse zu implementieren, einen regelmäßigen Pendelverkehr ins Weltall aufzubauen und das Sonnensystem zu industrialisieren – ist Kernenergie dringend notwendig. Klassische Erneuerbare haben auch ihre Rolle zu spielen und sind eine sinnige Investition, aber die Energiemenge, die man in der Praxis aus ihnen gewinnen kann, ist durch ihre hohe Entropie begrenzt. Eine ins Weltall expandierende Menschheit, die ihre Fähigkeiten immer weiter entwickelt, benötigt zwangsläufig auch immer größere Mengen an konzentrierter Energie, die mit immer fortschrittlicheren Technologien zur Verfügung gestellt wird: Zunächst Kernspaltung, dann Kernfusion, dann möglicherweise Materie/Antimaterie-Reaktoren oder ein heute noch nicht bekanntes, auf völlig neuartiger Physik fußendes Prinzip.
Zu wachsen, an Fähigkeiten, Produktionskapazitäten, Wissen und auch Ästhetik und Moral ist ein wunderbares Urhumanum, ein roter Faden, der die Geschichte durchzieht von den Höhlenmenschen bis heute. Es aus irrationaler Technophobie zu unterbinden wäre ein erbärmlicher Schritt. Die Menschheit sollte sich mutig der Zukunft zuwenden, anstatt sich davor angstvoll zu verstecken.
Damit Menschen aber ihre Furcht vor etwas verlieren, müssen sie es verstehen! Deshalb möchte ich, was ich im Laufe der vergangenen Jahre über Kernkraft und Kerntechnik gelernt habe, in Form eines kleinen Online-Lehrgangs aufschreiben: Vielleicht kann ich dadurch der einen oder anderen helfen, die heute weitverbreitete Angst vor dieser Technik zu überwinden und sich klar zu machen, welch faszinierendes und nützliches Prinzip die Menschheit da entdeckt hat!
Vorläufiges Inhaltsverzeichnis (so wie ich mit dem Lehrgang vorankomme, werde ich es wahrscheinlich abwandeln und/oder erweitern):
- Kernphysikalische Grundlagen
- Die Kettenreaktion – 4-Faktoren-Formel
- Neutronendiffusion – die Reaktorgleichung
- Reaktorkinetik und -steuerung
- Reaktortypen
- Kernkraftwerke: klassische Kraftwerkstechnik
- Brutreaktoren
- Kernfusion
Weiterführende Literatur
Zur Reaktorphysik gibt es viele Lehrbücher. Ein einfaches, anschauliches, ohne höhere Mathematik ist die „Kerntechnik“ von Markus Borlein. Funktionsweise und Brennstoffzyklus von Leichtwasserreaktoren werden grundlegend erläutert, und auch der gasgekühlte Hochtemperaturreaktor und der Fusionsreaktor kommen nicht zu kurz. Schnellem Brüter und Flüssigsalzreaktor wurden allerdings leider keine Kapitel spendiert – dies ist etwas schade aus der Sicht der Nuklearia, sind dies doch die Techniken, für die wir uns besonders einsetzen.
Für einen tiefergehenden, physikalisch motivierten Einstieg kann ein älteres Büchlein empfohlen werden: „Einführung in die Reaktorphysik“ von Josef Fassbender. Es stammt zwar aus den 1960er Jahren, und ist daher in manchen technischen Details veraltet – insbesondere bezüglich Schneller Reaktoren – aber die hinter der Kernenergieerzeugung steckende Physik wird mit genau der richtigen Dosis Theorie und Mathematik erarbeitet, die für ein grundlegendes quantitatives Verständnis, ohne allzu sehr in die Details zu gehen, erforderlich ist. Das Buch wird nicht mehr aufgelegt – es ist jedoch in vielen Universitätsbibliotheken vorrätig.
Welche ein aktuelles, modern aufgemachtes Buch mit höherem mathematischen Anspruch und vielen Übungsaufgaben, die teilweise am PC mit Programmen wie MATLAB oder Maple gelöst werden sollten, vorzieht, der sei „Nuclear Reactor Physics“ von Elmer Lewis ans Herz gelegt. Vertrautheit mit Integralen, Differentialgleichungen, Vektoren etc. sollte gegeben sein. Das Buch ist online bei ScienceDirect downloadbar, bei Nutzung eines Universitäts-Internetzugangs sogar kostenlos.
Der große Klassiker der Reaktorphysik, der Duderstadt, darf in unserer Liste nicht fehlen. Dies ist das Standardwerk, das die Profis nutzen. Zu empfehlen für alle, die keine Angst vor höherer Mathematik haben und wirklich tief einsteigen möchten.
Zuletzt sei noch auf ein downloadbares Vorlesungsskript hingewiesen: van Dam, van der Hagen, Hoogenboom: Nuclear Reactor Physics (Delft University of Technology). Kenntnisse höherer Mathematik sind zum Verständnis nützlich. Es ersetzt natürlich kein Lehrbuch, bietet aber einen kompakten, in sich geschlossenen Einstieg.
Die Sonne ist aufgegangen: nun soll es losgehen mit meinem eigenen Online-Mini-Kursus. Ich kann nicht versprechen, tagtäglich ein Kapitel fertigzustellen, aber ich werde schauen, dass ich halbwegs regelmäßig update!