In memoriam 26.04.1986
Von Dr. Anna Veronika Wendland
Zum 30. Jahrestag des Unfalls von Tschernobyl wiederholt sich das Ritual der Erinnerungspublikationen in Deutschland, die sich meist um die Bedeutung dieses Ereignisses für die hiesigen energiepolitischen Entscheidungen drehen, und um seine Beweiskraft für die Verwerflichkeit der Kernenergie an sich. Unsere Autorin wirft einen ganz anderen und sehr persönlichen Blick auf Tschernobyl. Es ist gleichzeitig die Bilanz eines Weges zur wissenschaftlichen Erforschung der Kerntechnik als eines komplexen Systems aus Menschen, Maschinen und soziopolitischen Verhältnissen.
Vor kurzem war ich im Kernkraftwerk Grohnde im Weserbergland auf der Warte dabei, während der Block zur Revision abgefahren wurde. Der Abfahrplan eines Leistungskernkraftwerks zieht sich über mehrere Tage hin, aber die erste Spät- und Nachtschicht ist immer die spannendste – Stunden voller Konzentration und intensiver Arbeit, in denen sich in der Regel über zwanzig Leute gleichzeitig im Raum aufhalten und an unterschiedlichen Stellen parallel arbeiten, beim Abfahren der Systeme und bei Tests und Wiederkehrenden Prüfungen (WKP), die nur unter diesen Transienten und in diesem Anlagenzustand durchgeführt werden können.
Mitten in dieser Situation, irgendwann nach ein Uhr nachts – der Generator war planmäßig kurz nach Mitternacht vom Netz getrennt, die Turbine abgeschaltet, der Reaktor abgefahren und bei geringer Leistung von Hand schnellabgeschaltet worden – dachte ich plötzlich an Tschernobyl: »Es ist April, es sind die ersten warmen Tage des Jahres, es ist eine Nacht von Freitag auf Samstag, wir fahren einen Kernreaktor zur Revision ab, und führen Testprogramme durch. Es ist fast dieselbe Stunde, als es geschah.«
Um ungefähr zwei Uhr verließ ich die Warte und ging vor das Reaktorgebäude, unter die Armaturenkammer, weil ich die Tests der Frischdampf-Sicherheitsventile von außen beobachten wollte. Es war stockfinster, windstill und kalt, und ich erschrak fast, als der Dampf mit 80 bar Druck und lautem Fauchen in den Nachthimmel abgeblasen wurde. Die Momente sind selten, in denen man mit den eigenen Sinnen, nicht nur vermittelt durch Messgeräte und Anzeigen, erfassen kann, welche Energien in einem Kernreaktor umgesetzt werden. Dies war so ein Moment. Ich dachte daran, dass auch damals in Tschernobyl viele Leute nach ihrer eigenen Schicht wegen des Abfahrens und der Tests im Kraftwerk geblieben waren, auch wenn sie selbst keine Arbeitsaufgaben hatten. Sie wollten bei den seltenen Prozeduren dabei sein und die geschäftige Spannung auf der Warte miterleben, und sie wollten dabei etwas lernen.
Der Unfall als Grenzerfahrung
Damit enden die technischen Parallelen zwischen der Druckwasserreaktor-Anlage Grohnde und dem grafitmoderierten Druckröhren-Siedewasserreaktor RBMK 1000 im Block 4 des KKW Tschernobyl – einer der Tests, die in Tschernobyl in der Abfahrnacht durchgeführt wurden, endete in einem Reaktivitätsstörfall mit prompt-kritischer Leistungsexkursion und der Totalzerstörung der Anlage. Und in den folgenden Momenten war die elementare Erfahrung der Beteiligten, dass sie zunächst ihren Messgeräten und selbst den eigenen Sinnen nicht trauen wollten. Was die Messgeräte anzeigten, erschien zu schrecklich, um wahr sein zu können – die Strahlungswerte jenseits der Skala, die Steuerstäbe auf der Hälfte des Reaktorkerns steckengeblieben, viele Anzeigen erloschen und auf Null gefahren.
Hinzu traten die Sinneserfahrungen, die das Ausmaß des Unglücks schließlich ins Bewusstsein vordringen ließen – die durch Verbrühungen und Strahlung tödlich Verletzten, die während der Arbeiten zur Eingrenzung des Unglücks buchstäblich umfielen vor Schmerzen und Erschöpfung; die Trümmer in den Betriebsräumen, das Grafit unter den Schuhsohlen draußen vor dem Block, das sinnlos aus abgerissenen Leitungen auf die Ruine fließende Wasser, der himbeerrote Schein am Abend des Unfalltages, als Brände im zerstörten Reaktorgebäude wüteten. Die Sinne erfassten bald das Ausmaß des Unglücks, wie die Augenzeugen berichten – der Geist brauchte lange, um den Schock zu verarbeiten, und zu begreifen, was da eigentlich schiefgelaufen war. Der Schock von Tschernobyl war für die sowjetische, später russische und ukrainische Atomindustrie der Beginn eines schmerz- und verlustreichen Transformations- und Umdenkprozesses, der sich über Jahrzehnte hinzog.
»Mein« Tschernobyl
Trotzdem sind Tschernobyl und Grohnde für mich mit einem unsichtbaren Faden verbunden. Nicht nur, dass Grohndes vorzeitiges Ende, besiegelt durch den deutschen Atomausstieg, zwar direkt auf die Ereignisse von Fukushima, indirekt aber auch auf jene von Tschernobyl zurückgeht, weil sich bereits damals die deutsche Atomangst und -kritik formierte und die Diskurse eroberte. Sondern auch, weil für mich selbst aus Tschernobyl auf verschlungenen Wegen, und im Nachhinein einer strengen Logik folgend, auch Grohnde folgte.
Gäbe mir eine wunderbare Macht einen Wunsch frei, dann würde ich mir das Heile und das Ganze für Tschernobyl zurückerbitten, so wie es auf dem Foto zu sehen ist – dem letzten Foto, das die Anlage Tschernobyl 3 und 4 in unbeschädigtem Zustand zeigt, zehn Tage vor dem Unfall. Ich würde es mir wünschen, und damit die Entscheidung fällen, dass auch mein eigenes Leben anders verlaufen wäre. Stephen King hat dieses Thema der potenziellen Lebensweg-Parallelen in seinem Meisterwerk »Der Anschlag« verarbeitet. Mein Leben, wenn ich es mir als Teilchen auf seiner Flugbahn vorstelle, hat durch den Zusammenstoß mit dem energiereichen Teilchen von Tschernobyl einen Impuls und eine wesentliche Richtungsänderung erfahren.
1986 war ich auf einem genuin westeuropäischen Lebensweg unterwegs, mit Studienplänen in Frankreich und Forschungsinteressen in der Geschichte der Sozialdemokratie – und einem nach wie vor regen Interesse an Technik und Naturwissenschaften, das mich auch eine Zeitlang hatte zögern lassen, ob ich überhaupt Historikerin werden wollte. Mitten auf diesen Lebensweg fiel wie ein eiserner Meteorit aus heiterem Himmel das Ereignis von Tschernobyl, das mir schlaglichtartig klar machte, dass es östlich von uns Menschen, politische Verhältnisse, technische Systeme gibt, von denen wir nichts wussten oder nichts wissen konnten, da alles hinter dem Eisernen Vorhang verborgen war.
Aber das war nicht sofort so. Meine erste Konfrontation mit Tschernobyl war sonderbar. Ich erinnere mich an meinen ersten Gedanken beim Anblick des ersten Fotos des zerstörten Kraftwerksblocks – wie ich später erfuhr, eins der Schadensaufnahmefotos des Kraftwerksfotografen, aufgenommen aus gut 800 Meter Entfernung. Mein erster Gedanke kam mir irgendwie fehl am Platze vor, weil alle um mich sehr betroffen waren und, es muss der 30. April oder 1. Mai gewesen sein, die Strahlenängste im eigenen Land schon Fahrt aufnahmen.
Gleichwohl konnte ich ihn nicht verhindern, den ersten, überhaupt nicht angemessenen Gedanken. Ich dachte: »Sonderbar, so sieht also dort ein Kernkraftwerk aus. Kann so ein Kernkraftwerk aussehen?« Ich dachte an die weißen Kuppeln der westdeutschen Anlagen, die ich auf Bildern oder beim seltenen Vorbeifahren gesehen hatte. Ich wusste mehr von der Kernenergie als meine Altersgenossen, weil ich schon als Kind gerne Bücher über Technik gelesen hatte. Mein erster Reaktor war der plutoniumproduzierende Uran-Grafit-Reaktor von Professor Bienlein/Tournesol im Tim-und-Struppi-Band »Reiseziel Mond«, der friedlichen Raketenbrenstoff herstellte und in mir im Alter von acht Jahren das Fundament einer Grundsympathie für solche Anlagen gelegt hatte. Diese stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zu meinem halbwüchsigen linken Engagement, zu dem irgendwie unhinterfragt gehörte, auch gegen Atomkraft zu sein.
Auf den ersten Bildern von Tschernobyl sah ich ein Industriegebäude, das mich an jene erinnerte, wie ich sie vorher mal auf den Fotos der von mir verehrten Fotografen Bernd und Hilla Becher gesehen hatte, kantig und streng symmetrisch, mit einem Abluftkamin, den ein konstruktivistisches Stahlskelett umgab, eine echte Landmarke. Aber dem Doppelreaktorblock war infolge der Zerstörungen seine Symmetrie abhanden gekommen. Das war mein erster Gedanke, das etwas einst Markantes und in seiner industriellen Kantigkeit und Schnoddrigkeit Schönes nun zerstört sei, und ich schämte mich ein wenig, dass ich daran und nicht an die Strahlungsbelastung dachte.
Mein Weg nach Osteuropa
Mein zweiter Gedanke, an den ich mich erinnere, war: Wenn die Folgen sogar bei uns im Rheinland zu messen sind – was muss dann erst vor Ort los sein? Und damit war geschehen, was mein Leben in eine andere Bahn lenkte. Inmitten der deutschen Diskussionen um Salat, Milch, Grenzwerte und Kinderspielplätze ließ mich der Gedanke nicht mehr los: Was ist dort los? Ich begann den deutschen Sendedienst von Radio Moskau zu hören. Ich bestellte mir die Moskovskie novosti auf Deutsch. Ich fing an, Russisch zu lernen. Ich sammelte wie verrückt alles, was ich bekommen konnnte über Tschernobyl. Nach einem Jahr endete das in einem Studienfachwechsel hin zur Geschichte Osteuropas. Und nach drei Jahren in einem Studienplatzwechsel. Ich ging 1989 für ein Jahr in die Sowjetunion, verpasste den Mauerfall und verbrauchte in meinem Kiewer Studentenwohnheim Atomstrom aus Tschernobyl – dessen drei verbliebene Blöcke längst wieder in Betrieb waren.
Fünf Jahre nach dem Unfall war ich zum ersten Mal im KKW Tschernobyl und in der verlassenen Stadt Prypjat, mitgenommen von Bekannten, die dort arbeiteten. Zehn Jahre nach dem Unfall heiratete ich meinem ukrainischen Freund, den ich im Kiewer Wohnheim kennengelernt hatte, und der mir erzählt hatte, wie es im Mai 1986 in Kiew gewesen war, als die Stadt sich spontan selbst evakuierte, ohne auf die Direktiven der Partei zu hören, als sich auf den Bahnhöfen tumultartige Szenen abspielten und sich die Verbliebenen mit feuchten Lappen vor den Wohnungen und Rotwein im Magen die Radionuklide vom Leib zu halten versuchten. Der Vater meines Mannes war häufig in Prypjat gewesen, denn das KKW war »Patenbetrieb« des Kiewer Schriftstellerverbandes, wo mein Schwiegervater arbeitete. Und so kannte man Leute, die Leute kannten, die besser wussten, was im Kraftwerk los war.
Trotzdem hat es danach ein Vierteljahrhundert gebraucht, bis ich mich als Historikerin, als Forscherin an das Thema heranwagte, das mich so lange begleitet und nie losgelassen hatte. Ich wachte eifersüchtig über »mein« Tschernobyl. Die meisten deutschen Publikationen darüber reizten und ärgerten mich, weil ich sie für oberflächlich, landesunkundig, sensationshungrig und voreingenommen hielt. Es bereitete mir fast körperlichen Schmerz, sie zu lesen. Ich wollte es irgendwann bessser machen, wusste aber nicht, wie. Ich hatte die Möglichkeit, Russisch und Ukrainisch zu lesen, und verschlang, was ich kriegen konnte, von den beeindruckenden semidokumentarischen Texten der späteren Nobelpreisträgerin Svetlana Aleksijewitsch und den Tschernobyler Heften des Atomingenieurs Georgij Medvedev, der die Ereignisse im Kraftwerk rekonstruiert hatte, bis hin zu den kleinen Broschüren unbekannter Liquidatoren. Aber auch in diesen Büchern fand ich nicht, was ich auch immer suchte, nämlich die Antwort auf meine Frage, wie es eigentlich vor dem Unfall gewesen sei in Tschernobyl und in Prypjat.
Kernenergetische Lebenswelten: Ein Forschungsprojekt entsteht
Als ich persönlich mit Menschen in Kontakt kam, die dort gelebt hatten, an diesem Ground Zero der deutschen Risikogesellschafts- und anthropologischer Schock-Konstrukte, war ich zunächst irritiert und verwundert, denn mir schien, dass diese Leute nicht aussahen und sich benahmen, wie ich das von Tschernobyl-Opfern erwartet hätte. Sie hegten keinen Groll gegen die Kernenergie – wohl aber gegen jene, die die Kerntechnik in der Sowjetunion so auf den Hund gebracht hatten, dass Tschernobyl hatte passieren können. Sie sprachen mit Wärme und Liebe von ihrer Stadt Prypjat und ihrer Arbeit im Atomkraftwerk: Dinge, die in Deutschland nur Abscheu auslösen konnten. Eine sozialistische Plattenbaustadt, wie hässlich. Ein Atomkraftwerk, wie gefährlich und zudem noch hässlich. Jeden Tag der Blick vom Plattenbau-Balkon auf das Atomkraftwerk. Unmöglich.
Dem Lebensgefühl, welches das Leben in Prypjat nicht für das falsche Leben im Falschen hielt, wollte ich auf den Grund gehen. Die Antwort auf die Frage fand ich nicht in der fast unermesslichen Tschernobyl-Literatur, schon gar nicht in der deutschen. Und das wurde zum Ausgangspunkt meines späteren Projektes über die Lebenswelt der Atomstädte, das sich aber inzwischen ausgeweitet hat zu einem Projekt über die Arbeitswelt der Kernkraftwerke in Ost und West und die Entstehung und Transformation, aber auch die Krisen nuklearer Sicherheitskulturen, und ihre konkrete Ausgestaltung in der Mikrobeziehung zwischen Menschen und Maschinen.
Ich lernte rasch, dass ich, um diese Welt aus Menschen und kerntechnischen Maschinen und soziopolitischen Verflechtungen zu verstehen, mich mit ihr konfrontieren musste – und konfrontieren heißt mitleben und mitarbeiten. Diese Erkenntnis führte mich schließlich als Langzeit-Beobachterin ins ukrainische Kernkraftwerk Rivne und in die Atomstadt Kuznecovsk, mit dem Atomkraftwerk vor dem Plattenbau-Küchenfenster und sechs Kühlturmfahnen im Himmel; ins litauische Ignalina, wo ich den »Tschernobyl-Reaktor« RBMK erst richtig technologisch und im Maßstab 1:1 kennenlernte; und in die deutschen KKW Grafenrheinfeld und Grohnde, die mir nach der gigantischen Anlage in der Ukraine wie mittelständische Betriebe vorkamen, die in ländlichen Regionen ganz ohne Atomstadt auskamen und wo ich im Fachwerkbauernhaus übernachtete.
Lernprozesse
Meine Forschung führte aber vor allem in Bekanntschaften, auch Freundschaften mit Menschen, ohne deren Fürsprache, Rat und genaugenommen sogar Ausbildung ich nichts hätte bewerkstelligen können. Was für mich vorher die Osteuropa-Kapazitäten Andreas Kappeler, Manfred Alexander oder Gerhard Simon gewesen waren, also Hochschullehrer im besten Wortsinne, wurden jetzt die Ingenieure, Schichtleiter, Reaktorfahrer, Chemiker, Elektriker, Armaturenschlosser und Anlagenwärter, die meinen Weg kreuzten – oder, genaugenommen, deren Weg ich kreuzte. Mit denen ich zur Schicht ging und zur Revision, unter Atemschutz schwitzte und unter riesigen Anlagenlüftern fror; mit denen ich durch die Ausrüstung kletterte, die ich bei Aufschreibungen begleitete und die mir tausende von Fragen beantworten, mich in ihre Betriebshandbücher und Schichtbücher schauen ließen; die mir beibrachten, wie ich einen Leitstand »lesen« muss und wie den kerntechnischen Jargon mit seinen Tausenden von Buchstaben-Zahlen-Chiffren; wie man am Ton einer Pumpe erkennt, ob sie sauber läuft; die mich in Tricks, Kniffen und informellem Wissen unterrichteten – und die mir zeigten, wie ich mich in dem labyrinthischen Innenleben eines Kernkraftwerks orientiere und wie ich mich in radiologisch »heißen« Umgebungen bewegen und benehmen muss. Ich fing mit Mitte 40 noch mal neu an zu lernen, als Quasi-Werkspraktikant zwischen Rivne und Grohnde. Diesen Leuten aus der Atomindustrie in der Ukraine, Litauen und Deutschland verdanke ich, neben der jahrelangen Lektüre der Fachliteratur, meine heutige Expertise – die keine kerntechnische ist, sondern eine historische, welche kerntechnisch informiert ist, und auf deren Grundlage ich in bestimmten Grenzen Aussagen über die Kernenergie und die für sie typischen Mensch-Technik-Beziehungen machen kann.
So gesehen ist Tschernobyl ein archimedischer Punkt in meinem eigenen Leben – als Wissenschaftlerin, als Familienmensch, als Zoon politikon, das sich in Debatten einmischt, ob über die Ukraine oder über die Kernenergie. Meine Wissenswege enden, wenn ich sie zurücklaufe, in der Zone von Tschernobyl und schließlich vor dem historisch, menschlich und technisch unermesslichen Massiv von Block vier.
Und daher ist der 26. April für mich genauso wichtig ist wie mein Geburtstag und die Geburtstage meiner Liebsten. Mein Forschungsbeitrag zum Nachleben dieses Tages ist einer unter vielen, und er ist wenig im Vergleich zu dem Anteil, den andere an diesem Geschehen haben – vor allem diejenigen, die dort ihr Leben riskierten, um Schlimmeres zu verhindern, und die sich unermesslichen Qualen aussetzten.
Tschernobyl: Entscheider in der Zwangsjacke der Verhältnisse
Zu ihnen gehören viele der Kernkraftwerksbeschäftigten, die noch auf dem Sterbebett von Ermittlern drangsaliert und in den Jahren nach dem Unfall durch den Dreck gezogen wurden, weil die Propaganda, die das System zu schützen hatte, das Personal als Alleinschuldige hinstellte und andere ungeschoren ließ: die hochmögenden Akademiemitglieder, die den Reaktor konstruiert hatten, und die Parteibonzen, die Produktionserfolge über alles stellten und daher ungeheuren Druck auf die Leitungsebenen der KKW ausübten. Diese waren zum Erfolg verdammt – und gaben den Druck an ihre Mitarbeiter weiter. Fehlerdiskussion, eine Grundhaltung des Nachfragens und eine Kultur der Wissensweitergabe über Betriebsereignisse – lebensnotwendige Dinge in der Kerntechnik – waren in dieser Atmosphäre nur unter großen Schwierigkeiten möglich – und unter Einsatz allen Mutes, der jemandem eben gegeben war. Womöglich war er manchen weniger gegeben, weil man wusste, dass der Werks-KGB jedem das Leben zur Hölle machte, der sich einen Fehler zuschulden kommen ließ.
Am Ende der Befehlskette saßen Menschen wie der Schichtleiter Sascha Akimov und sein junger Reaktorfahrer Ljonja Toptunov, die am Leitstand ihre Entscheidungen fällen mussten – in der Weltminute waren sie allein damit, und mit dem Vorgesetzten, der sie antrieb. Es waren nach Aussagen ihrer Kollegen gewissenhafte, hervorragend ausgebildete Ingenieure. Sie liefen den Umständen ins Messer, so wie sie damals waren, in einer schicksalhaften Verknüpfung von menschlichen Fehleinschätzungen über den Charakter der vertrauten Anlage, von der spezifischen Reaktorphysik und dem Abbrand des Kerns mit den Auslegungsspezifika des Abschaltsystems. Von sozialen mit politischen Einflusslinien, von einer ökonomisch motivierten Lastverteiler-Entscheidung, die zur Verschiebung des Tests und somit zur Verwicklung ganz anderer Menschen als ursprünglich geplant führte, mit einem Leistungseinbruch, der den Reaktor erst in jenen instabilen Zustand bei geringer Leistung brachte, welcher die notwendige Rahmenbedingung für den weiteren Unfallablauf darstellte. Es war nicht Ljonja, der mit Auslösen der Schnellabschaltung die Anlage in die Katastrophe trieb, sondern dieses hochkomplexe und in einem diskreten historischen Moment labile System aus Menschen, Maschinen und soziopolitischem Regime, das in der Nacht des 26. April kollabierte.
Deshalb wiederhole ich mich womöglich jedes Jahr. »In memoriam 26.04.1986« schrieb ich vor einem Jahr auf Facebook in ukrainischer Sprache, »… und weil wir an Erinnerungstagen uns an unsere Nächsten erinnern, wie sie im Leben waren, zeige ich euch ein Foto vom Kernkraftwerk Tschernobyl, wie es aussah, als es lebendig und ganz war, am 17. April 1986«, fotografiert von Ivan Zholud, der zu der Zeit dort als Elektromonteur arbeitete und extra auf einen Mast kletterte, um »sein« Kraftwerk abzulichten, ein stolzes weißes Dampfschiff am Horizont einer technischen Landschaft. Block 4 ist das Gebäude links vom Abluftschornstein. Die Symmetrie ist für immer zerstört, aber die Erinnerung und die Ehrung der Opfer kann sie wenigstens geistig und sozial wieder herstellen. Daher erinnere ich zum 30. Jahrestag, wie in jedem Jahr, an jene, die dort davor und danach gearbeitet haben – die, welche unter uns sind, und jene, die nicht mehr da sind.
Eine Antwort
Sehr geehrte Frau Dr. Wendland,
vielen Dank für Ihren Artikel! Ich hoffe, noch mehr Artikel in der hier publizierten Art von Ihnen lesen zu können!