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Akte Atomausstieg

Akte Atomausstieg

Der Journalist Daniel Gräber vom Magazin Cicero hat mit seinen Recherchen zu den Vorgängen um den Atomausstieg im Jahr 2022 die Grundlage für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gelegt – und nun ein Buch darüber geschrieben. Wir haben es gelesen.

Eine niemals enden wollende Debatte in der Geschichtsschreibung ist, ob Veränderungen das Resultat größerer, unpersönlicher Prozesse sind, oder aber die Handlungen einzelner Personen das Geschehen entscheidend vorantreiben. Wenn nun Deutschland erneut über Weiterbetrieb und Reaktivierung von Kernkraftwerken debattiert und Parteien wie CDU, CSU und FDP mit dem Thema in den letzten Bundestagswahlkampf gegangen waren, liegt das einerseits an gestiegenen Preisen fossiler Energieträger, strukturellen Schwierigkeiten der Energiewende und sicherheitspolitischen Verschiebungen in der Welt.

Andererseits haben aber auch die journalistische Arbeit von Daniel Gräber und dem Magazin Cicero einen wichtigen Beitrag daran. Und darüber – aber bei weitem nicht nur darüber – handelt das neu im Herder-Verlag erschienene Buch »Akte Atomausstieg«.

Deutscher Atomausstieg fußt auf Fundament aus Erdgas

Seit 1970 hatte sich Deutschland immer abhängiger von sowjetischem und später russischem Erdgas gemacht. Auch der beschlossene Doppelausstieg aus Kohle und Kernkraft war wesentlich auf das Fundament aus billigem und ausreichendem Erdgas gebaut, da Windkraft und Solarenergie wegen ihrer schwankenden, wetterabhängigen Produktion durch Kraftwerke mit planbarer Leistung abgesichert werden müssen. Konkret hieß das: Gaskraftwerke, betrieben mit russischem Erdgas.

Mit der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 wurde klar, wie schwach das Fundament der deutschen Energieversorgung eigentlich ist. Plötzlich war unklar, ob Deutschland für die kommenden beiden Winter genug Gas zum Heizen und Verstromen haben würde. In dieser Situation war es eine naheliegende Maßnahme, die im Rahmen des deutschen Atomausstiegs von 2002 und 2011 gesetzlich vorgeschriebene Beendigung des Leistungsbetriebs der letzten und modernsten deutschen Kernkraftwerke (KKW) zum 31. Dezember 2022 per Gesetzesänderung abzusagen und die Laufzeit zu verlängern.

Energiewende-Netzwerk verhindert Laufzeitverlängerung

Doch so einfach war es nicht. Denn wie Daniel Gräber in »Akte Atomausstieg« nachzeichnet, war der Atomausstieg Kernanliegen und Gründungsmythos der Partei Bündnis 90/Die Grünen – also jener Partei, deren Minister Robert Habeck und Steffi Lemke den für diese Entscheidungen verantwortlichen Wirtschafts- und Umweltministerien vorstanden. In dieser Situation war offensichtlich, dass eine Fortführung des Atomausstiegs während einer Energiekrise nur schwer zu vermitteln wäre. Und daher begann der Versuch, die politische Entscheidung zum Ausstieg mit scheinbaren Sachargumenten unangreifbar zu machen. Durchaus geschickt arbeitete dazu ein eingespieltes Netzwerk unter der Führung von Staatssekretär Patrick Graichen daran, sowohl die Notwendigkeit der Laufzeitverlängerung – als Konsequenz von Netzstresstests und möglicher Gasmangellage – als auch deren Umsetzbarkeit in Frage zu stellen.

Das Buch beschreibt, wie dazu die nach außen als ergebnisoffen verkaufte Prüfung intern gelenkt wurde, wie man mit der Kernkraft unerfahrene Topmanager großer Stromkonzerne bei Meetings überrumpelte und wie Informationen nur selektiv und tendenziös interpretiert ihren Weg zum Minister und an die Öffentlichkeit fanden. Dass aus den vorliegenden Quellen durchaus offenbleibt, inwiefern der Apparat aus politischen Beamten im Bundesministerium für Wirtschaft und Klima (BMWK) dabei ein Eigenleben entwickelte und sogar den vorgesetzten Minister Habeck nicht offen und vollumfänglich informierte, war für mich bei der Lektüre besonders interessant. Erst unter Nutzung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers Olaf Scholz wurde dann der Streckbetrieb der deutschen KKW für zusätzliche dreieinhalb Monate durchgesetzt.

Wirtschaftsministerium wollte Vorgänge geheimhalten

Bei der Beschreibung der Vorgänge baut Autor Daniel Gräber auf Akten, die das BMWK zunächst unter Verschluss halten wollte, nach einer erfolgreichen Klage durch das Magazin Cicero aber herausgeben musste. Die folgende Sichtung des umfangreichen Materials und die journalistischen Recherchen lieferten die Grundlage für den zweiten parlamentarischen Untersuchungsausschuss des 20. deutschen Bundestags und brachten auch neuen Schwung in die Diskussion über Sinn und Zeitpunkt des Atomausstiegs in Deutschland.

»Akte Atomausstieg« bleibt aber keine reine Nacherzählung von Vorgängen in Ministerien, sondern bettet das Geschehen in den Kontext deutscher und internationaler Energiepolitik und, ja, Energiekultur ein. Der von Energiephilosoph Amory Lovins erfundene Gegensatz zwischen »sanften« und »harten« Energien und dessen prägender Einfluss auf die deutsche Energiewende kommt dabei ebenso zur Sprache wie der Kontrast zwischen dem deutschen Sonderweg Atomausstieg und dem weltweit verfolgten Ausbau der Kernkraft.

Gut lesbar, gut begründet: klare Leseempfehlung für Gräbers »Akte Atomausstieg«

Das Buch zeigt durchgehend die Handschrift eines erfahrenen Magazinjournalisten. Trotz der teils komplexen Sachverhalte bleibt der Text flüssig und auch ohne Vorkenntnisse gut verständlich – ohne dass Gräber dabei auf verfälschende Vereinfachungen und Verkürzungen hätte zurückgreifen müssen. Die Argumentation ist meinungsstark, aber gut begründet und bleibt stets sachlich. Gräbers gründliche Recherche schließt eine Lücke in der deutschen Presselandschaft und auf dem Buchmarkt: Eine fundierte Berichterstattung aus kritischer Distanz zur deutschen Energiepolitik findet man bisher noch zu selten.

Insgesamt eine klare Leseempfehlung für alle, die sich für Politik im Allgemeinen und Energiepolitik im Speziellen sowie für Energiewende und Kernkraft interessieren.

»Akte Atomausstieg« ist 2025 im Herder-Verlag erschienen und als Taschenbuch, E-Book und Hörbuch verfügbar.

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