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Die Wolke von Tihange – und was dahinter steckt
Die Wolke von Tihange – und was dahinter steckt
Veröffentlicht am 2017-06-26
Von Rainer Klute
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Von Dr. Anna Veronika Wendland

Grafik: Sogenannte »GAU-Simulation« des Kernkraftwerks Tihange. Quelle: Der SPIEGEL

Der Sommer kommt und mit ihm das Sommerloch, in das der SPIEGEL natürlich irgend etwas einfüllen muss. Da der Schulz-Zug ohne Dampf auf offener Strecke steht, und sich an die Daily Trump inzwischen alle gewöhnt haben, füllt man das Loch mit einem Aufreger, der die Deutschen zuverlässiger auf Trab bringt als IS und Al Qaida zusammengenommen: die »Atomwolke« und der Dauerbrenner »marode belgische Kernkraftwerke« mit »neuen Rissen«. Doch was ist dran an der neuen Runde Panikmache rund um Tihange 2? Hier unser sachlich-kritisches Update.

»Was machen Atomgegner, wenn sie gewonnen haben?« fragte schon 2011 der ZEIT-Journalist Frank Drieschner in einem Bericht über Gorleben. Drieschner konstatierte damals: Sie machen einfach weiter wie bisher. Und er hat recht behalten. Seit unsere Anti-AKW-Bewegung dank der CDU/CSU ihren Daseinszweck erreicht hat und daher mental auf Hartz IV ist, muss sie im Ausland auf Arbeits- und Gegnersuche gehen. Der Lieblingsgegner ist seit geraumer Zeit Belgien, genauer: die dortigen »Bröckelreaktoren« Tihange 2 und Doel 3. Die Nuklearia hat bereits vor gut einem Jahr auf einer breiten Literaturgrundlage allgemeinverständlich dargelegt, was man über diese beiden Kernkraftwerke wissen muss und wie die Wasserstoffflocken-Befunde an ihren Reaktordruckbehältern (RDB) einzuordnen sind. Wir folgten damals der Auffassung der von der belgischen Aufsichtsbehörde vorgelegten Berichte mehrerer Expertenkommissionen, denen zufolge die Wasserstoffeinschlüsse als Fehlerbefunde zu betrachten sind, die aber nicht von vitaler Bedeutung für einen sicheren Betrieb der Anlage sind.

In Belgiens deutscher Nachbarschaft denkt man anders. Aus Angst vor einem auslegungsüberschreitenden Unfall in Tihange-2, nämlich einem Bersten des Reaktordruckbehälters mit sofortiger großräumiger Freisetzung des Radionuklid-Inventars aus dem Reaktor, bereitet sich Nordrhein-Westfalen inzwischen auf den nuklearen Ausnahmezustand vor. Die Regierung will Jodtabletten einlagern lassen, und die AKW-Gegner machen das, was sie immer machen: eine Menschenkette.

Die Hintergründe der Atomwolke

Passend zur Kette gibt es beim SPIEGEL die »Wolke«. Gemeint ist damit die Nacherzählung einer Analyse »möglicher radiologischer Auswirkungen eines Versagens des Reaktordruckbehälters des KKW Tihange 2«. Geliefert wurde diese vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften sowie dem Department Meteorologie der Wiener Universität für Bodenkunde (BOKU). In Auftrag gegeben wurde die Studie von der Städteregion Aachen, einem der kommunalen Hauptakteure bei der Mobilisierung gegen Tihange. Die BOKU und ihr Risiko-Institut wiederum sind als Gutachter für Greenpeace und Grüne einschlägig bekannt. Auch für andere KKW-Standorte in Deutschlands Nachbarschaft erstellten sie Risikoanalysen, welche Greenpeace verbunden mit Horrorbotschaften unter die Leute brachte.

Die Autoren der radiologischen Unfall-Studie sind laut Forschungsinformationssystem der BOKU durch ihre Publikationen als Experten für Risikoanalysen von Kernkraftwerken, nukleares Abfallmanagement, Biochemie, Meteorologie und fossile Rohstoffnutzung ausgewiesen, nicht aber für die Fragen der Kernverfahrenstechnik und der nuklearen Werkstoffkunde, welche für die Bewertung der Anlagen Tihange und Doel von zentraler Bedeutung sind. In dieser Frage verweist das Gutachten auf die bekannte Literatur. Die BOKU selbst hat zwar ein Department für Materialwissenschaften und Prozesstechnik, das sich aber nicht in Sachen Kerntechnik profiliert hat. Es konzentriert sich laut Website auf »ein umfassendes Verständnis zur effizienten Umwandlung von nachwachsenden Rohstoffen unter Berücksichtigung ihrer fossilen und technischen Pendants«.

Wie man eine Bedrohung macht

Die BOKU-Gutachter versichern zwar, »keine Beurteilung« des Tihange-Reaktors vornehmen zu wollen – denn das können sie gar nicht – sie legen aber ein schlagartiges Versagen des RDB von Tihange 2 als jederzeit möglich nahe, um auf dieser Grundlage die radiologische Analyse erstellen zu können. Sie rechtfertigen dieses Vorgehen folgendermaßen: »Es gibt auseinandergehende Meinungen unter Experten, ob der RDB von Tihange 2 unter Unfallbedingungen sicher ist. Die vorliegende Arbeit postuliert daher ein Versagen des RDB, was ein auslegungsüberschreitender Unfall ist.« (“There are differing views among experts, whether or not the RPV of Tihange 2 is safe for accident conditions. The present work therefore postulates a RPV failure, which is a beyond design basis accident.”)

Die Autoren beziehen sich in ihrer Annahme allerdings keinesfalls auf neue Erkenntnisse, sondern auf die bekannte Literaturlage. Sie machen lediglich eine einzige vage Angabe über »auseinandergehende« Expertenmeinungen: eine Aussage der deutschen Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) vom April 2016. Als Beleg für die berechtigten Zweifel an der Integrität der betroffenen Reaktoren wird eine Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission zitiert, welche zwar »offene Fragen« für die Geltung der angegebenen Sicherheitsmargen unter Unfall-Transienten benennt, aber eine solch weitgehende Schlussfolgerung, wie sie die Wiener Gutachter postulieren, wiederum gar nicht zulässt:

»Die beschriebene Ursache von Seigerungen bei der Fertigung und des Entstehens von rissartigen Trennungen im Werkstoff aufgrund von „Wasserstoffflocken“ ist nachvollziehbar und plausibel. Die Ergebnisse aus der zerstörungsfreien Prüfung können deshalb für die weitere Bewertung herangezogen werden. […] Der Fehlerzustand in den Schmiederingen der beiden RDB wird mit den Mitteln der Zerstörungsfreien Prüfung weitgehend erfasst. […]. Aufgrund der umfangreichen Untersuchungen und geführten Nachweise zu den RDB Doel-3 und Tihange-2 sowie der vorliegenden Erkenntnisse aus Forschungsvorhaben im Rahmen der Reaktorsicherheitsforschung in Deutschland kann davon ausgegangen werden, dass unter Betriebsbelastungen ein Integritätsverlust der drucktragenden Wand der RDB nicht zu unterstellen ist. Bezüglich der Störfallbelastung ist aufgrund der oben genannten offenen Fragen für die RSK nicht nachvollziehbar, dass die hierfür geforderten und in den Nachweisen ausgewiesenen Sicherheitsabstände tatsächlich erreicht werden. Um zu bestätigen, dass die erforderlichen Sicherheitsabstände eingehalten werden, bedarf es weiterer Nachweise sowohl experimenteller als auch analytischer Art.«

Vielmehr hat sich die RSK seit der zitierten Stellungnahme zu dem Thema nicht mehr geäußert; im Januar 2017 verlautete aus der RSK lediglich, »ergänzende Betrachtungen« seien in Vorbereitung, die »in den nächsten Sitzungen diskutiert« werden sollten. Super-GAU-Alarm sieht anders aus.

Prinzipiell kann man derartige Verbreitungs-Planspiele für den auslegungsüberschreitenden Unfall für jeden KKW-Standort anstellen und das entsprechende Berechnungsprogramm der »Atomwolke« auf jeden beliebigen Ausgangspunkt und Raum übertragen. Der visuelle Effekt der farbigen Radionuklid-Verbreitungskarten ist immer durchschlagend, wie auch die Aufmachung des SPIEGEL belegt. Visuelle Signale werden auch im nicht-meteorologischen Teil des BOKU-Gutachtens suggestiv eingesetzt, so beim Verweis auf eine weitere Studie, in der es um einen Modellversuch über die Integrität von Containments geht, also der die Primärkreislaufkomponenten umgebenden stählernen Sicherheitsbehälter. Denn wenn der Reaktordruckbehälter schlagartig birst, so die Annahme, hält auch das Containment nicht stand. Offenbar lag den Autoren aber vor allem das spektakuläre Foto eines geborstenen Versuchs-Containments am Herzen, das übergroß auf Seite 5 der Studie prangt.

Im Westen nichts Neues

Dabei hat sich am Sachstand in Tihange eigentlich nichts geändert: Man kam nach langwierigen Untersuchungen zu dem Schluss, dass die beanstandeten Wasserstoffflocken (d.h. durchs Schmieden plattgewalzte Gasbläschen, welche die Kristallstruktur des Stahls durchsetzen) bereits im Herstellungsprozess beim Abkühlen der Schmiederinge entstanden sind und seit Betriebsbeginn unverändert vorliegen. Die beiden belgischen Anlagen können nach sorgfältiger Prüfung sicher betrieben werden. Die Messungen, die wie von der Atomaufsicht gefordert mit jeder Jahresrevision der Anlagen stattfinden, ergänzen die bestehenden Befunde um neue Datenreihen. Inzwischen hat auch eine Tagung stattgefunden, zu der die belgische Aufsichtsbehörde alle Anrainerstaaten zwecks Informationsaustauschs eingeladen hat. Die Belgier sorgen für höchstmögliche Transparenz bei der Publikation der neuesten Befunde. Da das Ansetzen der Ultraschall-Instrumente am Prüfkörper in jeder neuen Messkampagne nicht frei von kleinen Abweichungen ist, kommen jedes Jahr einzelne Anzeigen hinzu, andere wiederum verschwinden, wieder andere erscheinen in leicht abgewandelter Form. Anders als von verschiedenen Medien berichtet, ergibt sich in der Gesamtbilanz aber kein beunruhigender Befund, etwa jener eines Anwachsens der Flockenzahl infolge des betriebsbedingten Neutronenbeschusses.

Gleichwohl muss sich der Betreiber fragen lassen, wie es überhaupt zum Einbau von Reaktordruckbehältern mit Fehlerbefunden kommen konnte. Laut Aussagen von Experten für Werkstoffkunde und Reaktorbetrieb aus der deutschen Nuklearindustrie, mit denen ich über Tihange und Doel gesprochen habe, war die Ultraschall-Analysetechnik auch damals in der Lage, derartige Einschlüsse zu erkennen, wenn auch nicht so differenziert wie mit den heutigen Methoden. Im Klartext: der Auftraggeber, Electrabel, hätte die beiden Behälter ablehnen und verwerfen lassen können. Da solche Ereignisse massive Bauzeitverlängerungen und finanzielle Einbußen nach sich ziehen, liegt der Gedanke nahe, dass der belgische Stromkonzern damals Fünfe hat gerade sein lassen. Ausgerechnet für diese Phase in der Baugeschichte der beiden KKW fehlen wichtige Unterlagen in der Dokumentation, die hier Klarheit schaffen könnten. Das ist ein gravierender Mangel, auf den auch in Belgien während der Untersuchung hingewiesen wurde, und der tatsächlich kein gutes Licht auf den Betreiber und den Hersteller wirft.

Hätte ein deutscher KKW-Betreiber sich ähnliche Versäumnisse bei Bau und Dokumentation eines Leistungsreaktors zuschulden kommen lassen, wäre dies bei Auffindung der Mängel das sichere Ende für die Betriebsgenehmigung der betreffenden Anlage gewesen. Aber eben nicht aus dem Grunde, der in der Atomwolken-Hysterie die Hauptrolle spielt. Denn in einem solchen Fall wären unabhängig von der realen Belastbarkeit der Anlage die Voraussetzungen für die hierzulande geforderte »Basissicherheit« des Reaktordruckbehälters nicht mehr gegeben: die Verbauung einwandfreien und geprüften Materials, und die lückenlose Dokumentation eines jeden Verfahrensschrittes bei der Produktion des Druckbehälters.

Auch ein deutscher Betreiber könnte, wie die Belgier, trotz solcher Wasserstoffeinschlüsse den sicheren Betrieb seiner Anlage garantieren – doch er müsste sie trotzdem aufgrund der genannten historischen Versäumnisse vom Netz nehmen. Hier unterscheiden sich belgische und deutsche Sicherheitsanforderungen erheblich. Ist dies nun ein Grund, die Abschaltung von Tihange 2 und Doel 3 zu fordern? Wir müssen diese Entscheidung den Belgiern überlassen – und zwar ohne Druck aus Berlin. Wir sollten Gelassenheit walten lassen: Auch wenn wir den Belgiern nicht in allen Punkten folgen können, so droht uns doch nicht der nukleare Großunfall von ihnen. Folglich besteht auch kein Anlass, auf die Angstrhetorik der 1980er anzusprechen, welche uns ein hegemoniales Denk-Kartell aus Politikern, Medien, Wissenschaftlern und Aktivisten präsentiert. Gleichzeitig sollten wir angesichts immer weiter zunehmender Zweifel an der technischen Machbarkeit der Energiewende mit anderen Augen auf unsere verbliebenen heimischen Kernkraftwerke schauen.

Quellen


Dr. Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa-Historikerin mit einem Forschungsschwerpunkt in der Geschichte der Kerntechnik. Sie publiziert zur Geschichte von Atomstädten und nuklearen Sicherheitskulturen in Ost- und Westeuropa, unter anderem im Zusammenhang des transregionalen Sonderforschungsbereiches SFB-TR138 »Dynamiken der Sicherheit« der Universitäten Marburg und Gießen sowie des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Im SFB geht es um Versicherheitlichungsprozesse von der Antike bis zur Jetztzeit. Im Kontext ihrer Projekte hat Dr. Wendland mehrere Jahre lang über längere Zeiträume als “participant observer” in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland gearbeitet. Sie ist Vorstandsmitglied des Nuklearia e. V.

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Allgemein
Lutz Niemann sagt:

Es ist an der Zeit, endlich das Co-60-Ereignis von Taiwan zu beachten, und daraus die Folgerungen zu ziehen. Mein Bericht dazu ist bei BfT zu finden (hier), ich bitte das zu lesen. Dieser Bericht wurde von Professor Feinendegen (ca. 90) gelesen und an wichtigen Stellen korrigiert, wofür ich dankbar bin. Er folgt aus diesem Ereignis:
Wenn radioaktive Nuklide frei gesetzt werden, dann ist das zwar verboten, aber es gibt keinen Schaden für Menschen in ihrer Gesundheit (Ausnahme in Tschernobyl unter den Feuerwehrleuten). Strahlung im niedrigen Dosisbereich und niedrigem Dosisleistungsbereich ist nützlich für Lebewesen. In Fukushima sind NULL Menschen durch Strahlung gestorben oder auch nur in ihrer Gesundheit geschädigt worden, das ist in allen Fachmedien nachzulesen. Auch in Zukunft sind KEINE gesundheitlichen Probleme als Folge der Strahlung zu befürchten. Es gibt etwa 150 StrahlenSCHUTZopfer, weil Patienten evakuiert und so deren ärztliche Versorgung abgebrochen wurde. Sogar das viel beachtete Leitmedium DER SPIEGEL berichtet das (17/2016, S 106, „Schön verstrahlt“), es wird geschrieben: „Viele Menschen starben dagegen an den Folgen der weiträumigen Evakuierung ….. Kranke wurden aus Intensivstationen abtransportiert, Alte aus ihrem Pflegeheim geholt, …. Die vorsichtigste Berechnung geht von mindestens 150 Todesfällen aus. Eine Studie der Standford University kommt auf 600 Evakuierungsopfer…“ und „…glauben, daß schwache Strahlung dem Organismus nicht schadet, sondern sogar nützt.“ — Die Zahl der StrahlenSCHUTZopfer liegt nach SPIEGEL zwischen 150 und 600.
Und man hat durch die Evakuierung den Menschen eine Strahlendosis verweigert, die deren Gesundheit gut getan hätte, das kommt noch hinzu.

Leider führt dieser Artikel keine belastbaren Fakten an, sondern nur Ansichten und persönliche Bewertungen. Schade, denn ich hätte mich gerne einer beruhigenden Sachlage angeschlossen, aber Sie haben ja keine geliefert. Es reicht nicht aus, nur die Gegenargumente als tendenziös zu brandmarken, denn daraus allein ergibt sich keine anderslautende Sachlage. So klingt eher dieser Artikel als tendenziös und damit fachlich eher dünne.

Rainer Klute sagt:

Nun, erst einmal sollte man selbst Argumente liefern, bevor man auf Gegenargumente hoffen kann. Das haben die BOKU-Autoren nicht getan. Sie gehen, wie im Artikel dargestellt, von einem schlagartigen Versagen des RDB aus, ohne dieses näher zu begründen und ohne die diesbezüglichen Experteneinschätzungen zu berücksichtigen. Kann man machen, ist dann aber falsch. Und “ex falso quodlibet”, wie der Lateiner sagt: Aus Falschem folgt Beliebiges.

Markus sagt:

Also wenn die BOKU sich bei irgend einem Thema profiliert hat, dann “durch pseudowissenschaftliche und esoterische Themen in Lehre und Forschung”.
https://www.psiram.com/de/index.php/Universität_für_Bodenkultur_(Wien)

Das Sommerloch muss wie jedes Jahr gefüllt werden, und Angst geht eben immer.
Danke für die sachlichen Artikel und die zahlreichen Quellen.

Martin Mabuse (Künstlername) sagt:

Ich kann diesem Artikel insoweit zustimmen, als ich keine logischen Fehler entdecke. Komme aber – wieder einmal – zu einer etwas anderen Schlußfolgerung.

Eine recht willkürliche sofortige Abschaltung und schließlich entgültige Stilllegung einiger Kraftwerke nach Alter, wie in Deutschland geschehen, kann schon aus logischen Überlegungen nicht sinnvoll sein. ENTWEDER man identifiziert nach den Vorfällen in Fukushima einen längerfristigen vollständigen Stromausfall als denkbares nicht geplantes Ereignis und zieht seine Schlüsse ODER man lässt es sein. Nach meiner Kenntnis wird auch JEDES aktuell in Deutschland noch in Betrieb befindliche Kernkraftwerk damit zumindest mit einer Kernschmelze, die den RDB verlässt, bei anschließend unklarer Rückhaltefähigkeit des Containments reagieren, und sollte deshalb nicht mehr am Netz sein. Man könnte die 2011 abgeschalteten Kraftwerke wieder anfahren, soweit das überhaupt noch möglich ist, das Risiko wäre in seiner Gesamtheit kaum oder gar nicht anders.
Die wohl allgemein etwas unkritische Handhabung von Vorgaben in den genannten belgischen Reaktoren wurde ja im Artikel beschrieben, hinsichtlich des Grundproblems unterscheiden sie sich aber auch nicht von denen, die sogar in Deutschland noch 5 Jahre betrieben werden dürfen.

Der wegen anderer Schwierigleiten bereits lange abgeschaltete Kugelhaufenreaktor in Hamm-Uentrop würde meiner oben angedeuteten Bedingung für “Sicherheit vor erheblicher Freisetzung radioaktiver Isotope in allen denkbaren Fällen” vermutlich im Prinzip standhalten. Bevor hierzu Kritik kommt: Mir ist durchaus klar, dass im Störfall auch bei dieser Technologie ein Austritt von Radioaktivität nicht auszuschließen ist, aber das System regelt sich im völligen Kühlungsausfall immerhin von selber runter.
Das ist bei keinem anderen in Westeuropa in Betrieb befindlichem Reaktor der Fall … wobei ich mich hier gerne eines Besseren belehren lasse.
Dabei gibt es ja sichere(re) KKW-Konzepte, sie dürfen nur in Deutschland nicht mehr gebaut werden.
Die Situation ist aus mehreren Perspektiven irrsinnig. Der aktuelle (politische) Kompromiss ein fauler und falscher.

Vermutlich mache ich mich mit der folgenden Aussage wirklich bei allen unbeliebt: Aber wenn ich die Sache ernst nehme müsste ich für die sofortige Abschaltung nahezu aller aktuell in Westeuropa in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke eintreten. Ich sollte aber gleichzeitig auf die Straße gehen für den mittelfristigen Neubau(!) SICHERER Kernkraftwerke. Und weil das seine Zeit braucht, aber die aktuellen Kernkraftwerke so schnell wie möglich vom Netz müssen, auch für die zügige schnellstmögliche Errichtung von Gas- und Blockheizkraftwerken sowie Speichertechnologien für die ansonsten für die Versorgungssicherheit unbrauchbaren Stromerzeuger aus erneuerbaren Energien. Notfalls auch weiteren Öl- und Kohlekraftwerken als Übergangstechnologie bis die neuen Kernkraftwerke tatsächlich in Betrieb gehen können.
Wenn ich darüber nachdenke ist genau das meine Meinung dazu.

Und sorry, Diskussionen und Spekulationen über die Güte des verwendeten Stahls für Reaktordruckbehälter erscheinen mir mehr und mehr als Nebelkerzen, die den Blick für die fundamentale Fragestellung, die es zu entscheiden gilt, verstellen.

Archophob sagt:

Planmäßiger Ausstieg aus der Leichtwasser-Reaktor-Technik, aber gleichzeitig Neubau von moderneren Reaktoren ohne Wasser im Reaktorkern? Kühlmittel, die bei Ausfall der Pumpen verdampfen könnten, verbieten, dafür Gaskühlung und Flüssigmetallkühlung erlauben?

Ja, das wäre um Welten sinnvoller als das, was die deutsche Energiepolitik in den letzten Jahrzehnten verbrochen hat. Zustimmung, Daumen hoch! Mit welcher Partei könnten wir das durchsetzen?

Martin Mabuse (Künstlername) sagt:

Als Versuch die Frage zu beantworten: Keine Etablierte, am ehesten davon noch mit der FDP, dachte ich. Aber wenn überhaupt steht bei den Verlautbarungen die Möglichkeit von (neuen) Alternativen zum fragwürdigen Kohle/Gas/”EE”-Mix höchstens zwischen den Zeilen.
Nach längerer Suche hierauf gestoßen: https://www.bueso.de/kernkraft wobei das keine Wahlempfehlung sein soll. Außerdem scheinen die fachlich etwas hintendran zu sein. Meint jedenfalls: Im Splitterparteienspektrum gibt es durchaus Kernenergiebefürwörter und das sogar ansatzweise im von mir dargestellten Sinne. Die Frage ist, ob man sich hier engagiert, oder besser allgemein und überparteilich Aufklärungsarbeit leistet. Ich selbst wurde hierdurch von einem nach den Ereignissen in Fukushima konsequenten Ablehner zu jemandem mit, wie ich meine, wieder differenzierterer Sichtweise zur Kernenergie.

Andreas Büchel sagt:

Sehr geehrte Damen und Herren,

glauben Sie eigentlich selber an das was Sie da Schreiben ? Wie naiv kann man eigentlich sein ? Gibt es in Ihrer Gedankenwelt kein Tchernobyl, Fukushima oder Harrisburg ?

Rainer Klute sagt:

Doch, selbstverständlich. Zu Tschernobyl haben wir zuletzt anläßlich des Jahrestages im April einen Beitrag veröffentlicht. Das Fukushima-Unglück mit seinen null Strahlentoten haben wir ebenfalls im Blick. Zu Three Mile Island (Harrisburg) haben wir zwar noch nichts veröffentlicht, aber dieses Reaktorunglück ist natürlich ebenso bekannt wie die Anzahl der Opfer überschaubar (null).

Insgesamt zeigt sich bei der Betrachtung dieser und anderer Nuklearunglücke, daß die Öffentlichkeit die Folgen von Nuklearunfällen und überhaupt die Folgen ionisierender Strahlung massiv überschätzt. Verglichen mit den Unfallfolgen bei allen (!) anderen Stromerzeugungsarten stellt sich Kernenergie als die mit den wenigsten Todesopfern heraus, bezogen auf die erzeugte Strommenge.

Anna Veronika Wendland sagt:

Lieber Herr Büchel,
Ja, selbstverständlich stehe ich als Wissenschaftlerin zu dem, was ich an nachprüfbarem Wissen aufnehme, analysiere und weitergebe. Das hat übrigens mit “Glauben” nichts zu tun, es ist “Wissen” nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Materie und nach einer Prüfung der Fakten. Dass meine Aussagen nicht mit dem Glauben und der Weltsicht der Anti-AKW-Bewegung übereinstimmen, bedeutet noch nicht, dass sie unwahr seien. Und “glauben” Sie mir – die Anti-AKW-Bewegung kenne ich sehr gut, von innen nämlich. Ich hatte das Vergnügen, ihr als junge Frau jahrelang anzugehören. Und natürlich gibt es in meiner Gedankenwelt Tschernobyl, sogar sehr prominent. Ich habe vor der Haustür von Tschernobyl studiert, meine halbe Familie stammt aus dieser Region, und ich kenne viele Menschen persönlich, die in Tschernobyl gearbeitet haben.
Nachdem ich Ihnen also nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet habe – nicht nach “Glauben”, darf ich Sie bitten, Ihrerseits Argumente anzuführen statt Schlagworte. Denn es ist noch nicht damit getan, “Tschernobyl!” oder “Harrisburg!” zu rufen, als handle es sich um den Gottseibeiuns. Harrisburg war ein Industrieunfall mit Totalschaden der Anlage, minimaler Freisetzung und null Opfern. Jedes Jahr kommen durch die Emissionen von Kohlekraftwerken, Chemieanlagen, Autoverkehr mehr Menschen ums Leben als durch alle Atomunfälle zusammengenommen. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, die Abschaffung al dieser technischen Systeme genauso lautstark einzufordern. Herzlichst Ihre AVWendland.