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Fortschritt oder Mittelalter – Wie weiter nach Fukushima?
Fortschritt oder Mittelalter – Wie weiter nach Fukushima?
Veröffentlicht am 2016-03-11
Von Rainer Klute
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Von Dr. Peter Heller

Fünf Jahre Abstand sollten auch in Deutschland genügen, die richtigen Lehren aus dem Störfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi zu ziehen. Der Atomausstieg war nicht nur unbegründet, sondern auch falsch, weil rings um uns die Welt in ein neues nukleares Zeitalter eintritt.

Am 11. März 2011 um 6:46 Uhr mitteleuropäischer Zeit ereignete sich am Grunde des pazifischen Ozeans 130 Kilometer östlich der japanischen Küstenstadt Sendai ein schweres Seebeben. Es löste einen Tsunami aus, dessen über zehn Meter hohe Wellen ungefähr 45 Minuten später das Festland trafen. Beide Heimsuchungen zusammen vernichteten mehrere hunderttausend Gebäude und rissen 18.456 Menschen in den Tod.

Dieses fernöstliche Geschehen katapultierte Deutschland zurück ins Mittelalter.

Denn zu den betroffenen japanischen Infrastrukturen zählte auch das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi. Während es dort zu Kernschmelzen und zur Freisetzung radioaktiven Materials in die Umgebung kam, entwickelte sich hierzulande eine von voraufklärerischer Ignoranz und Hysterie geprägte Debatte, die in die sofortige Stilllegung von acht Kernkraftwerken und in ein Vorziehen des damals gültigen Ausstiegsdatums von 2040 auf 2022 mündete.

Der Tsunami vom 11. März 2011 überflutete das Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi (Quelle: Tokyo Electric Power Company)

Dabei ist in Fukushima bis heute niemand wegen des Störfalls an Strahlenschäden gestorben. Auch ist das von der Weltgesundheitsorganisation für die Bewohner der betroffenen Regionen ermittelte zusätzliche Krebsrisiko zu gering, um jemals statistisch nachweisbar zu sein. Wahrscheinlich wird man in einigen Jahrzehnten in der Präfektur Fukushima sogar eine Verringerung der krebsbedingten Todesfälle gegenüber dem Rest Japans registrieren. Denn von Fortschritten in der Krebsfrüherkennung und Krebstherapie wird man dort aufgrund intensiver medizinischer Betreuung besonders profitieren.

Trotzdem stellen die Massenmedien bis heute den Störfall direkt oder indirekt als eigentliche Ursache der Verheerung dar, obwohl er nüchtern gesehen nur ein vergleichsweise unbedeutender Kollateralschaden war. Immer noch nehmen die Bürger dies ohne zu hinterfragen hin. Der Irrtum, die Havarie des Kraftwerkes hätte tausende an Opfern gefordert, ist weit verbreitet. Kernenergie wird nicht mehr unter technischen und ökonomischen Gesichtspunkten diskutiert, sondern ausschließlich nach moralisch/ethischen Kriterien bewertet. Die Ablehnung der Kerntechnik hat dogmatische Züge angenommen, die längst nicht mehr nur die Stromerzeugung, sondern auch Anwendungsbereiche wie die Nuklearmedizin oder die Raumfahrttechnik betrifft. Die Grünen wollen sogar die kernphysikalische Forschung von den Universitäten verbannen. In der Energiepolitik ist mit der Übernahme der Deutungshoheit durch ideologisierte Fanatiker die Inquisition wieder auferstanden. War es vor Jahrhunderten das Verbot, menschliche Körper zu öffnen, das den medizinischen Fortschritt behinderte, so gilt heute jede Manipulation von Atomkernen als verwerflich. In einer solchen Atmosphäre kann sich selbst FDP-Chef Lindner mit dem Ausruf »In einem liberalen Paradies hätte es die Kernenergie nie gegeben!« des Beifalls der Zuhörer sicher sein.

Man könnte aus Fukushima auch zwei völlig andere Botschaften ableiten. Erstens erscheint gegen eine Naturgewalt, die ein Kernkraftwerk so massiv beschädigen kann, jeder zusätzliche Schaden als Marginalie. Und zweitens wäre es eine kluge Idee, Reaktoren zu bauen, die selbst bei vollständiger Zerstörung ihre Umgebung nicht beeinträchtigen. Fast alle Länder, in denen vor dem 11. März 2011 Kernreaktoren betrieben wurden, haben sich nach der ersten Schlussfolgerung gerichtet. Die Ausnahme ist Deutschland. Manche Länder begannen, dem zweiten Ansatz zu folgen. Deutschland verbietet sich solche Ideen. Fukushima konnte hierzulande nur deswegen diese Reaktion auslösen, weil jahrzehntelanges Versagen von Politik und Industrie eine Situation schufen, in der die Propaganda der Anti-Atomaktivisten gewinnen musste.

Eine kurze Geschichte der Kernenergie

Schon der Impuls ihres Geburtshelfers, des amerikanischen Manhattan-Projektes, lenkte die weitere Entwicklung der Kerntechnik in eine ungünstige Richtung. Denn es etablierte den Mythos, sie sei eine staatlicherseits zu fordernde und zu fördernde »Großtechnik«, die nur in einem künstlich geschaffenen institutionellen Rahmen gedeihen könne, der Großforschungseinrichtungen, Großindustrie, Verwaltung und gegebenenfalls auch das Militär einschließt. Als die zivile Nutzung der Kernenergie in Deutschland im Jahr 1955 wieder möglich wurde, etablierte man daher eine vergleichbare planwirtschaftliche Struktur und begrenzte sich auf die Übernahme amerikanischer Technologie.

Dort hatte sich mittlerweile der Leichtwasserreaktor durchgesetzt. Aufgrund seiner Eignung als Schiffsantrieb favorisierte ihn das Militär. Das auf angereichertem Uran basierende Brennstoffkonzept erforderte zudem den Zugriff auf die Ergebnisse des Manhattan-Projektes und konnte den USA eine weltweite Führungsposition in der Nukleartechnik für Jahrzehnte sichern. Der Export der kompletten Kette vom Reaktor bis zum Brennstoff schuf nicht nur langfristige Abhängigkeiten, sondern auch Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der künftigen Verbreitung der Kerntechnik.

Deutschland erwies sich als dankbarer Partner. In den 1960er Jahren wurden zwischen Siemens und AEG auf der einen und General Electric und Westinghouse auf der anderen Seite Lizenzvereinbarungen geschlossen, die die Tür für den Transfer des Leichtwassersystems nach Deutschland weit öffneten. Die einen (AEG) favorisierten dabei Siede-, die anderen (Siemens) Druckwasserreaktoren.

Das Kernkraftwerk Obrigkeim im Bau
Das Kernkraftwerk Obrigkeim im Bau (Quelle: KWO)

Immerhin, so könnte man meinen, bei zwei konkurrierenden Systemanbietern sollte ein innovationstreibender Wettbewerb immer noch möglich sein. Tatsächlich aber gab es keinen Markt, auf dem sich ein solcher Wettbewerb hätte entfalten können. Die möglichen Kunden für stromproduzierende Leistungsreaktoren waren ausschließlich die Energieversorgungsunternehmen, gering an Zahl und außerdem auch nicht interessiert. Denn eine funktionierende, skalierbare, preiswerte und robuste Stromversorgung war in Deutschland bereits vorhanden, basierend auf fossilen Energieträgern und der Wasserkraft. Große Investitionen in eine neue, weitgehend unerprobte Technologie schienen aus Sicht der Zielgruppe nicht erforderlich. Erneut hatte die öffentliche Hand lenkend einzugreifen und die Stromversorger zu Kauf und Betrieb von Leistungsreaktoren zu tragen. So wurden die ersten deutschen Kernkraftwerke (beispielsweise Gundremmingen und Obrigheim) mittels staatlicher Zuschüsse oder günstigen staatlichen Krediten finanziert.

Von Anfang an hatte man dabei mit Vorbehalten in der Bevölkerung zu kämpfen. Politik und Verwaltung reagierten auf diese Stimmungslage und erschwerten den Bau von Kernreaktoren durch immer neue Auflagen und immer komplexere und langwierigere Genehmigungsverfahren. In der Folge waren Versorger und Hersteller dazu gezwungen, an immer weniger verfügbaren Standorten immer leistungsstärkere Einheiten zu bauen. Was den Betreibern ermöglichte, Siemens und AEG auf eine den Kostendruck enorm steigernde Art und Weise gegeneinander auszuspielen. Folgerichtig verloren die beiden Konzerne die Freude am Wettbewerb und führten ihre jeweiligen kerntechnischen Branchen 1973 in einer gemeinsamen Tochterfirma zusammen (der Kraftwerk Union KWU). Es gab fortan in Deutschland nur noch einen einzigen Anbieter, der sich auf den Druckwasserreaktor konzentrierte und an technischen Lösungen vor allem Kraftwerksboliden in der Leistungsklasse oberhalb von 1200 Megawatt im Angebot hatte. Statt Vielfalt entstand Einfalt.

Zumindest in der Forschung betrachtete man weiterhin die Alternativen. Doch die Möglichkeit, Konzepte wie den Schnellen Brüter oder den Thorium-Hochtemperaturreaktor ähnlich behutsam und sorgfältig wie Leichtwasserreaktoren zur Reife zu bringen, bestand bereits nicht mehr. Die Stimmungslage in der Bevölkerung wechselte zunehmend von Befürwortung zu Ablehnung und die Politik brachte die erforderliche Geduld nicht mehr auf. Beide Konzepte sollten daher den Sprung vom Labor in den Markt ohne Zwischenschritte nehmen, was nicht gelang.

Am Ende zerfiel das »deutsche Manhattan-Netzwerk«, die künstlich geschaffene Allianz aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Übrig blieben eine Handvoll Forschungseinrichtungen, ein Anbieter und vier Kernkraftwerksbetreiber, alle ausgerichtet auf nur eine Technologie, leistungsstarke Druckwasserreaktoren, für nur einen einzigen Einsatzzweck, die Stromproduktion. Innovationen, durch die sich die Kerntechnik an ein verändertes Umfeld hätte anpassen, durch die neue Märkte hätten erschlossen werden können, waren nicht mehr möglich.

Diese Geschichte der Kernenergie in Deutschland ist ein Paradebeispiel für die zwangsläufige Folgen staatlicher Lenkung der technischen Entwicklung. Innovationsprozesse verlangsamen sich oder stoppen ganz. Monokulturen mit geringer Stressresistenz verbleiben, deren Überleben nur unter idealen Rahmenbedingungen gesichert ist. Jeder Wandel der äußeren Umstände wird zu einer existentiellen Bedrohung.

Der Fukushima-Schock war absehbar

In Bezug auf den Leichtwasserreaktor lassen sich zu viele Szenarien konstruieren, in denen technisches oder menschliches Versagen zur Freisetzung radioaktiven Materials führt. Dies betrifft neben den vor- und nachgelagerten Prozessen der Urananreicherung sowie der Herstellung, des Transports und der Lagerung von Brennelementen eben auch den Betrieb. Ein Ausfall der Kühlung führt zwar zu einem Ende der Kettenreaktion, aber nur kleinere Anlagen der 100- oder 200-Megawatt-Klasse würden automatisch in einen sicheren Betriebszustand übergehen. Bei größeren Reaktoren genügt die Nachzerfallswärme zur Auslösung einer Kernschmelze. Aufgrund des Vorhandenseins von Wasser und Dampf ist es zudem im Falle einer durch innere oder äußere Einflüsse ausgelösten Zerstörung fast unmöglich, die Verbreitung radioaktiver Substanzen über ein großes Gebiet zu verhindern.

Die planwirtschaftliche Begrenzung auf eine bestimmte Entwicklungslinie lieferte den Gegnern der Kerntechnik zwangsläufig wirkmächtige Schreckensszenarien. Der Einbau von immer mehr Sicherheitssystemen in immer größerer Redundanz war die falsche Taktik. Der Verweis auf ein immer kleineres »Restrisiko« unterstützte in Wahrheit bereits vorhandene Ängste, da er die Existenz der Gefahr einräumte. Mehr als 90 Prozent der weltweit installierten Kernkraftwerke sind Leichtwasserreaktoren. Ein großer Störfall war immer absehbar. Wäre es nicht in Japan geschehen, hätte es irgendwann einen anderen Reaktor an einem anderen Ort getroffen.

Man hätte ja auch Reaktoren bauen können, bei denen der Brennstoff erst im Reaktorkern gebildet und dort vollständig verbraucht wird – Anreicherung, Wiederaufarbeitung und Transport und alle diesbezüglichen Sorgen wären unnötig. Man hätte auf ein anderes Brennstoffkonzept setzen können, durch das im Reaktor gar keine langlebigen und toxischen Abfälle mehr entstehen – und sich somit das Endlagerproblem nicht mehr stellt. Man hätte kleinere und trotzdem effiziente Systeme entwickeln können, in denen einfach nicht genug Spaltstoffe erzeugt werden, um gefährliche Mengen an Nachzerfallswärme zu produzieren. Man hätte auch auf die Idee kommen können, einen Kernreaktor zu einem völlig anderen Zweck einzusetzen, als nun ausgerechnet zur Herstellung elektrischer Energie.

Am Ende konnte der Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland vor allem deshalb erfolgen, weil er so einfach war. Die wenigen verbliebenen Fürsprecher in der Politik und in der Industrie versagten daran, ihren einzigartigen Nutzen herauszustellen. Da half auch das Verpulvern von Millionen für die Kampagne »Deutschlands ungeliebte Klimaschützer« nichts. Einen Wettlauf der Angst, »Klimakatastrophe« kontra »Strahlentod«, kann man nicht gewinnen. Zumal die Klimaschutzideologie hierzulande als Religion des Verzichts etabliert wurde, die jeglicher fortgeschrittener Technologie feindlich begegnet. Die breite Masse der Bevölkerung und die Medien setzen seit jeher Kerntechnik mit dem Leichtwasserreaktor gleich, der ausschließlich der Stromerzeugung dient und daher ohnehin leicht zu substituieren ist. Man hat ihnen nie eine andere Perspektive aufgezeigt. Obwohl nicht nur für die technische Realisierung, sondern auch für die Nutzung eines Kernkraftwerkes eine Vielzahl an Möglichkeiten existiert.

Ein neuer Blickwinkel?

Wären Kernkraftwerke abgeschaltet worden, die hohe Temperaturen für industrielle Prozesse wie der Produktion von Stahl oder Zement liefern? Wären Kernkraftwerke abgeschaltet worden, die Stoffe für die Diagnose und Therapie von Krankheiten produzieren? Wären Kernkraftwerke abgeschaltet worden, die der Herstellung von Treibstoffen, von chemischen Grundstoffen, von Industriemetallen oder gar von sauberem Trinkwasser dienen?

Sicher nicht.

Das Wesen der Kerntechnik besteht in der Freisetzung von Neutronen zur Herbeiführung von Kernumwandlungen. Sie erfüllt den alten Traum der Alchimisten, aus nutzlosen Stoffen wertvolle zu machen, metaphorisch gesprochen Blei in Gold zu transmutieren. Ein Kernreaktor ist primär eine chemische Fabrik, die Isotope von Elementen fast des gesamten bekannten Periodensystems hervorbringt. Neben radioaktiven Substanzen für die Nuklearmedizin, für neuartige bildgebende Verfahren oder für neuartige Sensorsysteme, neben seltenen Metallen für Hochleistungselektroniken, neben Edelgasen für Ionenantriebe und Treibstoffen für Radionuklid- und Betavoltaikbatterien könnten viele weitere nützliche Stoffe ihrer Entdeckung harren. Denn da sich der Leichtwasserreaktor für diese Anwendung wenig eignet, sind große Regionen der Nuklidkarte noch immer nicht erkundet.

Entwurf einer IMSR-Anlage
Entwurf einer IMSR-Anlage. Das Unternehmen Terrestrial Energy entwickelt mit dem IMSR einen Flüssigsalzreaktor und legte sein Design kürzlich der kanadischen Atomaufsichtsbehörde zur Vorabprüfung vor. (Quelle: Terrestrial Energy)

Rund um den Erdball, mit Schwerpunkten in China, in den USA und in Russland arbeitet man an neuartigen Systemen, die neue Möglichkeiten bieten und gleichzeitig die oben beschriebenen Sicherheitsmerkmale aufweisen. Vor allem in der westlichen Welt hat sich in den letzten Jahren eine Graswurzelbewegung etabliert, die nicht mehr dem alten Manhattan-Prinzip, einer überkommenen »Top-Down«-Strategie, sondern einem neuen »Bottom-Up«-Ansatz folgt. New Nuclear besteht aus privaten Initiativen, aus Netzwerken, aus Start-Ups und kleinen Unternehmen, die bereits mit einigem Erfolg Risikokapital und sogar staatliche Fördermittel generieren konnten. Dort entstehen Pläne, Modelle und Demonstratoren für Kernkraftwerke einer neuen Generation, deren physikalisches Konzept Fukushima-Ereignisse ausschließt und auch alle anderen Bedenken der Anti-Atombewegung gegenstandslos macht. Natürlich wird es immer Gegner dieser Technologie geben. Aber sie werden durch Innovationen ihre Meinungsmacht verlieren. Weil die Ereignisse in Japan nicht auf der Nutzung der Kernenergie an sich beruhen, sondern lediglich die Mängel einer spezifischen technischen Umsetzung verdeutlichen. Masse und Energie sind einander äquivalent und daraus kann man nicht aussteigen. Nicht auf Dauer und nicht in einer globalisierten Welt, in der Ideen keine Grenzen kennen. Fukushima hat uns ins Mittelalter katapultiert. Mit fünf Jahren Abstand sollten wir beginnen, diesen Zustand als vorübergehend zu erkennen.


Titelbild: Ein gewaltiger Tsunami verwüstete am 11. März 2011 die Küste der japanischen Region Tōhoku (Quelle: abcnews.com)


Dr. Peter Heller

Nuklearia-Mitglied Dr. Peter Heller ist promovierter Astrophysiker. Nach Stationen in der Softwarebranche und der Raumfahrtindustrie arbeitet er heute als Strategieberater und analysiert technologische Trends. Seine Erfahrungen im Spannungsfeld zwischen Politik und Innovation verarbeitet er in seiner Freizeit als Blogger, unter anderem bei Tichys Einblick, bei der Achse des Guten und bei Novo Argumente. Seit 2009 ist er einer der Hauptautoren von Science Skeptical.

Kategorien
Fukushima
Werner Mueller sagt:

„Wie weiter nach Fukushima?“

Der neue japanische Umweltminister Shinjiro Koizumi möchte, dass Japan seine Atomkraftwerke schliesst, um eine zweite AKW-Katastrophe zu verhindern.
Das sagte er auf der ersten Pressekonferenz nach seiner Berufung ins Kabinett.

https://www.nzz.ch/international/neuer-japanischer-umweltminister-koizumi-will-ausstieg-aus-atomkraft-ld.1508152

Rainer Klute sagt:

Und Isshu Sugawara, Koizumis neuer Kollege im Wirtschaftsministerium wies dieses Ansinnen umgehend zurück:

https://www.euronews.com/2019/09/12/exiting-atomic-power-unrealistic-for-japan-minister-says-disputing-colleague

Dirk Huber sagt:

Mit mittelalterlicher Photovoltaik, mittelalterlichen Windkraftwerken, mittelalterlichen Akkus und Pumpspeicherseen, mittelalterlichen Methoden zum stromsparen (LEDs), mittelalterlichen Methoden, Überangebote europaweit zu verteilen, sind Atomkraftwerke ganz von selbst überflüssig geworden.
Fukushima war nur eine Argumentationshilfe.

Sören Hader sagt:

Sehr geehrter Dominic Wipplinger, ich stimme Ihnen grundsätzlich in allen Punkten zu, auch was die Risikobewertung angeht. Der Hinweis auf andere Gefahrenquellen und einer eventuellen Neubewertung ist vollkommen berechtigt aus meiner Sicht. Ich möchte nur ergänzend einen weiteren Aspekt einbringen. Das man beispielsweise Kohlekraftwerke nicht wie KKW im ähnlichen Zeitausmaß schließen will, hat auch noch einen besonderen Grund, den man auch beim Risikomanagement nicht vergessen sollte. Für die Stromwirtschaft sind Atomkraftwerke durchaus verzichtbar, bzw. durch andere Kraftwerkstypen ersetzbar. Schließlich kommen ungefähr die Hälfte der Volkswirtschaften in der EU ohne eigene KKW aus. Kohlekraftwerke sind hingegen nicht so schnell kompensierbar. In Deutschland wird immer noch 40% des Stromes mit Kohle produziert und in anderen Ländern ist der Anteil noch größer. Das soll jetzt die Gefahren, die durch den Kohleabbau und den Kraftwerken ausgehen, nicht klein reden, aber soll die Handlungsspielräume aufzeigen.

Dominic Wipplinger sagt:

Es gibt auch zahlreiche Länder, auch in der EU, die -mit oder ohne Kernenergie- bereits heute weitgehend oder vollständig auf die Kohle verzichten können. Die Alternativen sind im Wesentlichen Erdgas, Öl (beispielsweise auf Malta), Kernenergie und Wasserkraft (sofern die geographischen Voraussetzungen passen).

Es gibt auch zahlreiche Länder in denen die Kernenergie wichtiger ist als die Kohle und Länder in denen Kernkraftwerke den größten Anteil an der Stromproduktion haben.

Würde man in Deutschland ein Kernkraftwerksbauprogramm beginnen das mit jenem in Frankreich in den 1980ern vergleichbar ist dann könnte man innerhalb von 20 Jahren oder sogar weniger als 20 Jahren komplett aus der Kohle aussteigen. Und das ist kein aus der Luft gegriffenes Konzept, das wurde, wie gesagt, schon vor 30 Jahren in Frankreich erfolgreich umgesetzt.

Dominic Wipplinger sagt:

Ein Kernkraftwerk produziert im Betrieb Spaltprodukte welche potenziell gefährlich sein können. Die Menge der produzierten Spaltprodukte ist im Wesentlichen direkt proportional zur produzierten Energie.

Wenn man mit einem Kernspaltungskraftwerk viel Energie produzieren will (und das ist ja der Sinn der Sache) kann man die Entstehung von Spaltprodukten nicht verhindern, man kann allenfalls ihre Zusammensetzung etwas variieren.

Damit bleibt aber immer und unabhängig von der Auslegung der Anlage ein Restrisiko erhalten. Man wird immer irgendein Szenario konstruieren können wie es zu einer Freisetzung von Spaltprodukten in die Umwelt kommen könnte.

Selbst wenn man die Spaltprodukte im Betrieb kontinuierlich entfernt was bei einem Fluidkernreaktor wie etwa einem Flüssigsalzreaktor prinzipiell möglich ist wodurch die Menge der Spaltprodukte im Reaktor immer klein bleibt müssen die Spaltrprodukte irgendwo gelagert und aufbereitet werden wobei sie natürlich auch *irgendwie* freigesetzt werden könnten.

Man kann nur durch technische Maßnahmen die Möglichkeiten einschränken wie es dazu kommen kann und die Eintrittswahrscheinlichkeit dieses Szenarios vermindern.

Auch wenn der Trend zu passiven Sicherheitssystemen geht: Aktive Sicherheitssysteme wie sie bei Leichtwasserreaktoren der Generation II insbesondere zur Abfuhr der Nachzerfallswärme zum Einsatz kommen müssen nicht unbedingt weniger sicher sein. Die Unfälle in Fukushima-Daiichi sind nicht passiert weil das Reaktordesign der dortigen Reaktoren geschweige denn aller ansatzweise ähnlichen Blöcke generell unsicher ist sondern weil die standortspezifische Auslegung gegenüber äußeren Einwirkungen mangelhaft war. Auf dieser Basis kann man aber keinesfalls pauschal auf alle annähernd technisch ähnlichen Reaktoren schließen auch wenn es Reaktordesigns gibt deren Sicherheit weniger von solchen Faktoren abhängig ist.

Ein gewisses “Restrisiko” einer Freisetzung von Spaltprodukten in die Umwelt ist nicht vermeidbar. Damit muss man einfach leben, einfach leben können. Früher konnte man das auch und in vielen Ländern kann man es auch heute. Wie alle anderen Risiken sollte das Restrisiko einer sachlichen Kosten/Nutzen bzw. Risiko/Nutzen Abwägung unterworfen werden an deren Ende feststehen sollte wie groß das Risiko sein darf, welchen Preis man für eine Risikominimierung zu zahlen bereit ist und nicht ob es überhaupt existieren darf.

Es gibt keinen Grund dafür eine mögliche Freisetzung von Spaltprodukten oder sonstigen Radionukliden aus einer kerntechnischen Anlage in die Umwelt grundsätzlich anders zu bewerten als andere Risiken im Allgemeinen oder Umweltrisiken (beispielsweise durch die Abgase von Kohlekraftwerken oder eine mögliche Freisetzung von Giftstoffen aus einer Anlage der chemischen Industrie bei einem Störfall) im speziellen.

Sören Hader sagt:

“Man sollte, welche Technik auch immer man betrachtet, den „größten anzunehmenden Unfall“ daher von vornherein einplanen. Und man sollte daher technische Systeme so konstruieren, daß selbst im Falle eines Falles der angerichtete Schaden so gering wie nur möglich ist.”

Da muss ich Ihnen absolut zustimmen, Herr Heller. Es ist auch das, was in der Praxis in der Bewertung von technischen Systemen gemacht wird. Auch wenn Sie es nicht gerne hören werden, aber genau das ist eine mögliche Form der Risikominimierung. Als Risiko wird das Produkt aus Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit verstanden. Wenn ich einen Faktor kleiner mache und der andere nicht größer wird, dann sinkt auch das Risiko.

Peter Heller sagt:

@ Dominic Wipplinger:

“Der Artikel impliziert das große Leichtwasserreaktoren jedenfalls solche der Generation II generell inhärent unsicher sind und das ein schwerer Unfall nur eine Frage der Zeit ist.”

Genau. Diese vielleicht verstörende These stelle ich auf. Mich wundert, daß bislang nur Sie darauf abheben.

“Das ist sowohl falsch als auch kontraproduktiv.”

Falsch ist es nicht, denn Fukushima ist geschehen. Ob es kontraproduktiv ist, hängt davon ab, was man aus dieser These ableitet.

Meine These gilt für alle Arten technischer Systeme, für große und kleine. Sie gilt für Rechenzentren, die Energie- und Kommunikationsnetze steuern ebenso, wie für Autos, Flugzeuge und Eisenbahnen. Sie gilt für Mobiltelefone, Kühlschränke und Kaffeemaschinen. Sie gilt für Chemiefabriken und Staudämme, für Abwasserkanäle und Deiche, für Kohlekraftwerke und Biogasanlagen.

Alles kann zerstört werden und alles wird irgendwann aus welchen Gründen auch immer einen schweren Defekt erleben.

Da darf man Kernkraftwerke nicht ausnehmen.

Man sollte, welche Technik auch immer man betrachtet, den “größten anzunehmenden Unfall” daher von vornherein einplanen. Und man sollte daher technische Systeme so konstruieren, daß selbst im Falle eines Falles der angerichtete Schaden so gering wie nur möglich ist.

Nicht “Risikominimierung” ist geeignet, Bedenken in der Bevölkerung auszuräumen, sondern “Schadensvermeidung”.

Ganz plastisch ausgedrückt: Eigentlich sollte man einen neuartigen Kernreaktor erst irgendwo in einer Wüste errichten und dann live zur besten Sendezeit zerstören. Wenn sich dann herausstellt, daß die Freisetzung radioaktiver Stoffe nur das Gelände der Anlage selbst betrifft und diese sich eben nicht in der Umgebung ausbreiten, haben wir gewonnen. Mit Flüssigsalzreaktoren könnte dies beispielsweise gelingen (weil beim Ausfall der Energie das Salz zu einer glasartigen Masse erstarrt und die Spalt- und Brutprodukte sicher einschließt).

Dominic Wipplinger sagt:

Das würde ich aber nicht unterschreiben:
” Ein großer Störfall war immer absehbar. Wäre es nicht in Japan geschehen, hätte es irgendwann einen anderen Reaktor an einem anderen Ort getroffen.”

Der Artikel impliziert das große Leichtwasserreaktoren jedenfalls solche der Generation II generell inhärent unsicher sind und das ein schwerer Unfall nur eine Frage der Zeit ist. Das ist sowohl falsch als auch kontraproduktiv.

Auch das nicht:
“Man hätte auch auf die Idee kommen können, einen Kernreaktor zu einem völlig anderen Zweck einzusetzen, als nun ausgerechnet zur Herstellung elektrischer Energie.”

Ist man, ist man auch schon früh, Pläne gab es genug auch wenn (in Deutschland) nur wenig davon umgesetzt wurde.

Die erste Nutzung eines KKW zur Wärmeproduktion gab es im Kernkraftwerk Stade welches ab dem Zeitpunkt seiner Inbetriebnahme Prozessdampf für eine nahegelegene Saline produzierte. Zur gleichen Zeit gab es auch etliche weitere Pläne für Kernkraftwerke bzw. Kernheizkraftwerke zur industrieellen Prozesswärmeproduktion und Fernwärmeproduktion die aber aus verschiedenen Gründen nie realisiert wurden. Das bekannteste dieser Projekte ist das BASF Kernkraftwerk aber es gab auch weitere Projekte etwa das CWH Kernkraftwerk (aka Kernkraftwerk Marl).

In der DDR wurde ab 1983 ein Fernwärmenetz durch das Kernkraftwerk Greifswald versorgt.