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Es ist alles viel komplizierter – Historiker und Kernenergie
Es ist alles viel komplizierter – Historiker und Kernenergie
Veröffentlicht am 2015-07-15
Von Rainer Klute
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Gastbeitrag von Dr. Anna Veronika Wendland

Vorgestern bei einem Workshop über »Industrieunfälle im 20. Jahrhundert« habe ich mal wieder gemerkt, an welche Grenzen die Historiker stoßen, wenn sie über die Kerntechnik raisonnieren.

Dr. Wendland mit temporären Kollegen aus der Reaktorabteilung 2 vor der Personenschleuse im Block 3 des KKW Riwne (Ukraine), Juni 2015 (Foto: Nadija Timofejenko)

Eine Kollegin, die eigentlich über die deutsch-deutsche Öffentlichkeit und die Atomkontroverse forscht, lässt durchblicken, dass die Technik sie eigentlich nicht interessiere, stellt aber trotzdem ein Papier über »Beinahe-GAUs in der DDR« zur Diskussion, bei dem ich schon nicht verstehe, was ein »Beinahe-GAU« sein soll. Ist es auch ein Beinahe-Tod, wenn ich bei Rot über die Ampel laufe und eine Minute später ein Auto dort vorbeifährt? Es hätte ja auch eine Minute früher da sein können! Ein Kollege schreibt ein sehr kluges Buch über das Epochenjahr 1979, und ein Kapitel darin befasst sich auch mit dem Unfall von TMI-2 (Three Mile Island), aber er hat anscheinend, obwohl er schreibt, es lohne sich, den Verlauf genau anzuschauen, um seine Bedeutung für die Wissensgeschichte zu verstehen, den Verlauf selbst weder verstanden noch richtig beschrieben, weil ihm eigentlich schnurz ist, was der Unterschied zwischen Kondensat-, Speisewasser-, Volumenregelsystem- oder ND-Not- und Nachkühlpumpen ist, wie man sich ein Druckhalter-Sicherheitsventil vorzustellen hat oder wie die Arbeit auf einer Leitwarte. Ein weiterer Kollege behauptet in der Diskussion, russische Reaktoren würden bis heute ohne Containment gebaut.

Deutsches Druckhalter-Sicherheitsventil, Riwne-3, in Dr. Wendlands deutsch-ukrainisch-russischem Laborbuch »Atomograd III« (Foto: Dr. Anna Veronika Wendland)

Ich bin ja gar nicht für jene Technikgeschichte, die sich aufs Zahnräderzählen verlegt (die gibt es auch), aber ich bin für eine Geschichtsforschung, die, wenn sie über Technik spricht, auch wenn sie die knappe Form wählt, doch die korrekte Form wählt. »Egal wie knapp Sie es machen – Sie müssen es so schreiben, dass Ihnen auch ein Kerntechniker sagt, ist okay so«, sage ich dem Kollegen hinterher. Bei den Diskussionen habe ich ein bisschen mit meinen imaginären Schaltplänen rumgefuchtelt und alles wieder an seinem vorgesehenen Platz eingebaut, die Absperrarmaturen und die Impulsventile in TMI-2, das Containment im Stendaler WWER-1000 und die horizontalen Dampferzeuger in Greifswald. Als ich dann selbst vortragen konnte, als letzte, über nukleare Wissenskulturen und kerntechnischen Arbeitsalltag in der Sowjetunion, hatte ich mir schon eine Menge Respekt eingefahren, aber auch den Verdacht erhärtet, ich fände die Kernenergie nicht böse, oder bei mir knistere ein Rosatom-Scheck in der Tasche. Ich dachte: So muss sich ein Ingenieur während der Turnhallen-Anhörung für den Bau eines neuen Kernkraftwerks in den 1970ern gefühlt haben, der, sich unter den auf ihn fliegenden Tomaten durchduckend, eigentlich nur sagen wollte: »Liebe Leute, das ist alles viel komplizierter, als Ihr das hier darstellt!«


Dr. Anna Veronika Wendland

Dr. Anna Veronika Wendland arbeitet am Herder-Institut für Historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, einem Institut der Leibniz-Gemeinschaft, und lehrt an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie schreibt ihre Habilitationsschrift zur Technik- und Sozialgeschichte der osteuropäischen Kernenergie am Beispiel einer Fallstudie in der Ukraine. Sie hat zu diesem Zweck zwischen 2013 und 2015 mehrmals für mehrere Wochen als »Teilnehmende Beobachterin« im KKW Riwne gearbeitet.

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Allgemein
Anna V. Wendland sagt:

Demnächst kommt ein Aufsatz von mir heraus, in dem das Wesentliche drinsteht: “Wissenschaft fordert Opfer. Kerntechnik und Lange Hochmoderne in der Sowjetunion”, in einem Band des Transcript Verlags, Bielefeld, hrsg. v. Uwe Fraunholz. Den Titel des Sammelbandes weiß ich leider noch nicht. Auskunft erteilt da sicherlich der Herausgeber, Herr Fraunholz, Lehrstuhl für Technikgeschichte der TU Dresden

Dennis sagt:

Können Sie den Vortrag veröffentlichen? Gerade das Thema würde mich sehr interessieren.

Johannes sagt:

Super Text… sehr wahr!
Gerne mehr!